TE UVS Niederösterreich 2008/01/21 Senat-FR-08-1006

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 21.01.2008
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Spruch

Der Beschwerde wird gemäß §67c Abs3 des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes (AVG) 1991 iVm §83 des Fremdenpolizeigesetzes (FPG) 2005 stattgegeben und wird die Verhängung der Schubhaft sowie die Anhaltung des Beschwerdeführers in Schubhaft im Zeitraum vom 07.01.2008 bis zum nunmehrigen Entscheidungszeitpunkt für rechtswidrig erklärt.

 

Gemäß §83 Abs 4 1Satz FPG wird festgestellt, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen zum nunmehrigen Entscheidungszeitpunkt nicht vorliegen.

 

Der Bund (Bundesminister für Inneres) hat gemäß §79a AVG iVm §83 Abs2 FPG und der UVS-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl II Nr 334/2003, dem Beschwerdeführer Verfahrenskosten im Gesamtbetrag von ? 674,-- (Schriftsatzaufwand von ? 660,80 zuzüglich der, mit der Zustellung dieser Entscheidung gemäß §11 Abs1 Z1 des Gebührengesetzes (GebG) 1957 iVm der GebG-ValV 2007 fällig werdenden, Eingabegebühr von ? 13,20) innerhalb von zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Text

Aufgrund des von der belangten Behörde (BH X) vorgelegten Verwaltungsaktes, Zl. **S3- F-07 T, samt AIS-Auskunft vom 14.01.2008 und der, von der BH X am 15.01.2008 vorgelegten, Mitteilung des Bundesasylamtes gemäß §29 Abs3 AsylG vom 11.01.2008 im Zusammenhalt mit den, im Asylverfahren, im fremdenpolizeilichen Verfahren sowie in der Beschwerdeschrift getätigten, Angaben des Beschwerdeführers (im Weiteren: BF) steht nachfolgender Sachverhalt als erwiesen fest:

 

Der, am 08.07.19** geborene, BF ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation (Russland) tschetschenischer Volksgruppe, sohin Fremder iSd §2 Abs4 Z1 FPG.

 

Der BF hat sich (gemeinsam mit seiner, im 3. Monat schwangeren, Ehegattin D****** S**********, geb 26.05.1988 (AIS-Zl 0800.247), und seiner 10 Monate alten Tochter M***** S********** (AIS-Zl 0800.248)) am 19.12.2007 per Flugzeug von Moskau nach Kairo begeben. Die Familie hat sich nach der Einreise in Ägypten bis 27.12.2007 in Kairo aufgehalten.

Am 27.12.2007 ist die Familie im Luftwege von Kairo nach Paris/Frankreich gereist und hat sie auf einem Pariser Flughafen 5 Tage im Transit verbracht, weil sie ihren Weiterflug Richtung Moskau verfallen lassen hat.

Eine französische Behörde hat dem BF und seiner Gattin ein, 7 Tage geltendes, Laissez-Passer ausgestellt.

Der BF hat in Frankreich Asylgewährung beantragt, der Stand bzw Ausgang dieses Asylverfahrens ist dem BF unbekannt.

Der BF und seine oa Angehörigen haben den Pariser Flughafen verlassen und sind mit dem Bus von Paris nach Toulouse gefahren, wo die Familie einen Bekannten besucht und 4 Tage geblieben ist.

Am 06.01.2008 ist der BF in Begleitung seiner Familie mittels Busses von Toulouse, über Nizza und die italienische Riviera, nach Wien (Ankunft bei einem Bahnhof am 07.01.2008, gegen 6,00 Uhr) gereist.

Anschließend ist die Familie mit der Bahn nach Traiskirchen gefahren.

 

Der, keinen gültigen Einreise- oder Aufenthaltstitel eines Schengenstaates besitzende, BF ist am 07.01.2008 auf dem Landweg über eine, nicht bekannt gewordene, Örtlichkeit illegal, ohne gültiges Reisedokument, in Österreich eingereist und hat am gleichen Tag (ebenso wie seine Ehegattin und sein Kind) beim Bundesasylamt, Erstaufnahmestelle Ost (im Weiteren: Bundesasylamt), einen Antrag auf internationalen Schutz (Asylantrag) eingebracht (AIS-Zl 0800.246).

Das Bundesasylamt hat dem BF am 07.01.2008 eine Verfahrenskarte gemäß §50 AsylG, mit welcher ihm der Aufenthalt bis 27.01.2008 für die BH X gestattet worden ist, ausgestellt.

Der BF ist seit seiner, am 07.01.2008 erfolgten, Asylbeantragung Asylwerber iSd §2 Abs1 Z14 AsylG.

Der AFIS-Abgleich ist positiv verlaufen (FIS-Treffer: 438839205).

 

Der BF ist am 07.01.2008, um 17,30 Uhr, in den Räumlichkeiten der Polizeiinspektion Traiskirchen, Erstaufnahmestelle Ost, Haus 17, von Beamten dieser Dienststelle gemäß §39 Abs3 Z4 FPG mit der Begründung, dass die Annahme, der Antrag des Fremden auf internationalen Schutz wird mangels Zuständigkeit Österreichs zur Prüfung zurückgewiesen werden, besteht, festgenommen und anschließend der BH X vorgeführt worden.

 

Anlässlich der von der BH X am 07.01.2008 durchgeführten niederschriftlichen Einvernahme hat der BF angegeben, dass er in Frankreich, unter dem selben Namen wie in Österreich, um Asyl angesucht hat. Die Familie ist von Frankreich nach Österreich gereist, weil der BF gehört hat, dass die medizinische Versorgung in Österreich gut ist (sein Kind hat einen Herzfehler), in Frankreich so viele Tschetschenen sind und man ihm gesagt hat, dass man in Frankreich schlecht behandelt wird. Wenn er nicht in Österreich bleiben darf, geht er auf keinen Fall nach Russland. Illegal möchte er nicht in Österreich sein, wahrscheinlich geht er wieder nach Frankreich. Er weiß, dass er für den Aufenthalt und die Einreise in Österreich ein Visum benötigt und hat er noch nie um ein Einreisevisum für einen EU-Staat angesucht. Zum Nachweis seiner Identität kann er lediglich einen (als bedenklich klassifizierten) nationalen Führerschein sowie die Heiratsurkunde und die Geburtsurkunde des Kindes vorlegen.

Er verfügt über keine Barmittel und hat weder ein Einkommen noch eine Wohnung in Österreich. Abgesehen von seinen beiden, bei seiner illegalen Einreise in das Bundesgebiet in seiner Begleitung befindlichen, Angehörigen und einem, in Österreich lebenden, Schwager hat der BF keine Familienangehörigen in Österreich oder einem anderen EU-Staat.

 

Die BH X hat mit dem, dem BF am 07.01.2008, um 19,25 Uhr, durch unmittelbare Ausfolgung zugestellten, sofort vollstreckten, nunmehr in Beschwerde gezogenen, Bescheid vom 07.01.2008, Zl **S3-F-07 T, gemäß §76 Abs2 Z4 und Abs3, §113 Abs1, jeweils FPG, und §57 Abs1 AVG die Anhaltung (Schubhaft) des BF zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung gemäß §10 AsylG 2005 und der Abschiebung des BF angeordnet.

Begründend hat die BH X hiezu im Wesentlichen ausgeführt, dass sich der BF vor seiner illegalen Einreise nach Österreich in Frankreich aufgehalten hatte. Da Frankreich ein Mitglied der Europäischen Union und Unterzeichner des Dublin-II-Abkommens ist, ist von der Zurückweisung des, vom BF in Österreich gestellten, Antrages auf internationalen Schutz mangels Zuständigkeit Österreichs auszugehen. Der BF besitzt kein gültiges Reisedokument und ist nicht willens bzw nicht in der Lage, das Bundesgebiet zu verlassen. Da eine Ausreise aus eigenem Entschluss und auf legalem Wege nicht möglich ist, sind fremdenpolizeiliche Maßnahmen zu treffen. Aufgrund des bisherigen Verhaltens des BF (insbesondere der Verstöße gegen französische und österreichische Einreise-, Aufenthalts- und Ausreisebestimmungen) ist anzunehmen, dass der BF im Falle einer negativen österreichischen Asylentscheidung umgehend untertauchen und sich dem Zugriff österreichischer Behörden entziehen wird, um seine Abschiebung nach Frankreich zu verhindern. Zur Durchführung eines geregelten und ordentlichen Asylverfahrens besteht ein dringender Sicherungsbedarf. Ein Aufenthalt des BF in Österreich würde darüber hinaus die öffentliche Ordnung, insbesondere das geordnete Fremdenwesen, einen geordneten Arbeitsmarkt und das wirtschaftliche Wohl des Landes, gefährden. Die Anwendung gelinderer Mittel ist, da der Sicherungszweck nur durch Schubhaft erreichbar ist, ausgeschlossen gewesen.

 

Der BF wird in Vollstreckung dieses Schubhaftbescheides seit seiner Schubhaftbescheidübernahme in Schubhaft angehalten, welche derzeit im Polizeianhaltezentrum Wien-Hernals vollzogen wird.

 

Das Bundesasylamt hat am 09.01.2008 ein Ersuchen um Aufnahme des BF an Frankreich gestellt, ein Ergebnis des mit Frankreich geführten Konsultationsverfahrens liegt bis dato nicht vor.

Am 11.01.2008 hat der BF die Mitteilung gemäß §29 Abs3 Z4 AsylG, dass beabsichtigt ist, seinen Antrag auf internationalen Schutz gemäß §5 Abs1 AsylG zurückzuweisen, da Dublin-Konsultationen mit Frankreich seit 09.01.2008 geführt werden, erhalten. Diese Mitteilung gilt gemäß §27 Abs1 Z1 AsylG als Einleitung des Ausweisungsverfahrens.

 

Am 14.01.2008 hat der BF gegen den oa Schubhaftbescheid die, ha. am 14.01.2008 eingelangte, Beschwerde eingebracht und mit dieser beantragt, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, die auf Anordnung der BH X verhängte Schubhaft und die Anhaltung in Schubhaft ab dem ?08.? (richtig wohl, da offensichtlicher Schreibfehler: ?07.?) 01.2008 für rechtswidrig zu erklären sowie der belangten Behörde gemäß §79a AVG den Ersatz der Verfahrenskosten aufzuerlegen.

Begründend hat der BF im Wesentlichen ausgeführt, dass die Schubhaftverhängung im gegenständlichen Fall, insbesondere in Anbetracht der, näher dargelegten, neuesten Judikatur der Gerichtshöfe öffentlichen Rechtes, unverhältnismäßig und nicht notwendig sei.

Außerdem stehe sie im Widerspruch zu Art 8 EMRK sowie zur EU-Aufnahmerichtlinie 2003/9/EG, Verordnung (EG) Nr 1560/2003 und UNHCR-Richtlinie. Der BF hat sich gemeinsam mit Ehegattin und Kind aus freien Stücken noch am Einreisetag nach Traiskirchen zur Asylantragstellung begeben. Die Familie hat sich ständig im Flüchtlingslager Traiskirchen aufgehalten. Ein positiver Hinweis auf eine mangelnde Ausreisewilligkeit liegt nicht vor. Der BF ist stets allen Verfahrensanordnungen nachgekommen und den (österreichischen) Behörden jederzeit zur Verfügung gestanden.

Er ist durch die Schubhaftverhängung von seiner Familie getrennt worden. Die Inschubhaftnahme seiner Person ist für seine schwerst kriegstraumatisierte Ehegattin ein enormes Schockerlebnis gewesen. Die, durch die Fluchtstrapazen geschwächte, Frau ist mit der Situation im Flüchtlingslager Traiskirchen völlig überfordert und bedarf dringend der Unterstützung des BF.

Die Anwendung eines gelinderen Mittels hätte zum Erreichen des, im Schubhaftbescheid angeführten, Haftzweckes gereicht.

 

Der BF hat keinen Beruf erlernt und nie ?offiziell? gearbeitet. Er ist nicht berechtigt, in Österreich einer legalen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes in Österreich stünde dem BF nur die, ihm als Asylwerber gewährte, Grundversorgung zur Verfügung. Eine ?Verpflichtungserklärung? zugunsten des BF liegt nicht vor. Der BF hält sich erstmals in Österreich auf, ist im Inland weder beruflich noch sozial verankert und verfügt über keine Kenntnisse der deutschen Sprache. Seine Ehegattin und sein minderjähriges Kind, beide ebenfalls Asylwerber, halten sich seit dem Einreisetag (07.01.2008) im Flüchtlingslager Traiskirchen auf. Der Kernfamilie (BF, Ehegattin, minderjähriges Kind) fehlt sowohl ein Bezug zu Österreich auch die Integration in Österreich.

 

Der Unabhängige Verwaltungssenat im Land NÖ hat erwogen:

 

Gemäß §76 Abs2 FPG kann die örtlich zuständige Fremdenpolizeibehörde über einen Asylwerber oder einen Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, Schubhaft zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung gemäß §10 AsylG 2005 oder zur Sicherung der Abschiebung anordnen, wenn Z2  gegen ihn nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 2005 ein Ausweisungsverfahren eingeleitet wurde;

Z4  aufgrund des Ergebnisses der Befragung, der Durchsuchung und der erkennungsdienstlichen Behandlung anzunehmen ist, dass der Antrag  des Fremden auf internationalen Schutz mangels Zuständigkeit Österreichs zur Prüfung zurückgewiesen werden wird.

 

Nach §76 Abs3 FPG ist die Schubhaft mit Bescheid anzuordnen; dieser ist, abgesehen von einer fallbezogen nicht zutreffenden Ausnahme, gemäß §57 AVG zu erlassen. Ein der Schubhaftbescheiderlassung vorausgehendes Ermittlungsverfahren kann sohin, ohne eine Mangelhaftigkeit des Schubhaftbescheides zu bewirken, unterbleiben.

 

Die Behörde kann von der Anordnung der Schubhaft Abstand nehmen, wenn sie Grund zur Annahme hat, dass deren Zweck durch Anwendung gelinderer Mittel erreicht werden kann (§77 Abs1 FPG).

Als gelinderes Mittel kommt insbesondere die Anordnung in Betracht, in von der Behörde bestimmten Räumen Unterkunft zu nehmen oder sich in periodischen Abständen bei dem dem Fremden bekannt gegebenen Polizeikommando zu melden (§77 Abs3 FPG).

 

Nach §10 Abs 1 Z1 AsylG ist eine Entscheidung nach dem AsylG mit einer Ausweisung zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz zurückgewiesen wird.

 

Gemäß §27 Abs1 Z1 AsylG gilt ein Ausweisungsverfahren nach dem AsylG als eingeleitet, wenn im Zulassungsverfahren eine Bekanntgabe nach §29 Abs3 Z4 AsylG erfolgt ist.

 

Der Schubhaftbescheid ist in formeller Hinsicht ? unbestritten ? mängelfrei.

 

Unter Zugrundelegung der oben getroffenen Sachverhaltsfeststellungen sowie der zitierten gesetzlichen Bestimmungen ist vom 07. bis 11.01.2008 der in §76 Abs2 Z4 FPG und seit 11.01.2008 der in §76 Abs2 Z2 FPG normierte Schubhafttatbestand gegeben.

 

Sämtliche Schubhafttatbestände des §76 Abs2 FPG sind final determiniert. Sie rechtfertigen die Verhängung von Schubhaft nur ?zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung gemäß §10 AsylG 2005 oder zur Sicherung der Abschiebung?. Die Behörden sind in allen Fällen des §76 Abs2 FPG unter Bedachtnahme auf das verfassungsrechtliche Gebot der Verhältnismäßigkeit verpflichtet, eine einzelfallbezogene Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherung des Verfahrens und der Schonung der persönlichen Freiheit des Betroffenen vorzunehmen. Im Ergebnis bedeutet das, dass die Schubhaft auch dann, wenn sie auf einen der Tatbestände des §76 Abs2 FPG gestützt werden soll, stets nur ultima ratio sein darf (VfGH 15.06.2007, Zlen B 1330/06, B 1331/06, VwGH 26.09.2007, Zl 2006/21/0131, ua).

Jede Verhängung der Schubhaft nach §76 Abs2 FPG erfordert eine Einzelfallprüfung, kann also nicht schlüssig mit allgemeinen Erfahrungen aus anderen Fällen begründet werden (VwGH 28.06.2007, Zl 2006/21/0051).

Wegen der erforderlichen Bedachtnahme auf die konkrete Situation des Fremden verbietet sich ein Abstellen auf ?allgemeine Erfahrungswerte? im Umgang mit Asylwerbern (VwGH 28.06.2007, Zlen 2006/21/0051 und 2006/21/0091, ua).

 

Voraussetzung für die Anordnung der Schubhaft ist, dass im Entscheidungszeitpunkt mit Recht angenommen werden kann, der Fremde werde sich dem behördlichen Zugriff entziehen oder diesen zumindest wesentlich erschweren (VwGH 08.09.2005, Zl 2005/21/0100).

 

Die Gerichtshöfe öffentlichen Rechtes (VfGH, VwGH) erachten ein, Voraussetzung für eine rechtmäßige Schubhaft bildendes, Sicherungserfordernis / Sicherungsbedürfnis de facto nur für den Fall, dass ein ?Untertauchen? des Fremden zu befürchten ist, der Fremde somit für die Behörde nicht mehr greifbar ist und für behördliche Maßnahmen nicht mehr zur Verfügung steht, als gegeben.

 

Hinsichtlich potentieller ?Dublin-Fälle? vertritt der Verwaltungsgerichtshof (ua in seinen Erkenntnissen vom 30.08.2007, Zlen 2007/21/0043 und 2007/21/0066) die Auffassung, dass dem Gesetzgeber vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes jedenfalls nicht zugesonnen werden kann, er sei davon ausgegangen, alle potentiellen ?Dublin-Fälle? seien statt in Grundversorgung in Schubhaft zu nehmen.

Der Integration kommt primär im Anwendungsbereich des §76 Abs1 FPG Bedeutung zu. Eine Schubhaftnahme kann sich vielmehr nur dann als gerechtfertigt erweisen, wenn weitere Umstände vorliegen, die den betreffenden ?Dublin-Fall? in einem besonderen Licht erscheinen und von daher ?in einem erhöhten Grad? ein Untertauchen des betreffenden Fremden befürchten lassen.

 

Aufgrund der neueren Judikatur der Gerichtshöfe öffentlichen Rechtes sind bei der Beurteilung des Risikos des Untertauchens eines Fremden insbesondere die Ausreisewilligkeit, die Intensität der beruflichen, sozialen und persönlichen Verankerung im Inland und das bisherige Verhalten des Fremden (Grund für eine allfällige Weiterreise nach Österreich nach Stellen eines Asylantrages in einem anderen Land und die dabei eingeschlagene Vorgangsweise) zu berücksichtigen, wobei stärker ausgeprägte Integrationsmerkmale in einem Bereich eine allfällige weniger starke Ausprägung in anderen Bereichen partiell zu kompensieren vermögen.

 

Der Umstand, dass ein Asylwerber bereits in einem anderen Land die Gewährung von Asyl beantragt hat, rechtfertigt für sich nicht den Schluss, dass er unrechtmäßig in einen anderen Schengenstaat weiterziehen und sich so dem Verfahren entziehen wird (VfGH 28.09.2004, Zl B 292/04, VwGH 30.08.2007, Zl 2007/21/0043).

 

Die fehlende Ausreisewilligkeit für sich allein kann die Verhängung der Schubhaft zur Sicherung der Abschiebung nicht rechtfertigen (VwGH 08.09.2005, Zl 2005/21/0301, 27.02.2007, Zl 2006/21/0311, ua).

 

Eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung ist für die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme, nicht jedoch für die Prüfung der Erforderlichkeit der Schubhaft relevant (22.05.2007, Zl 2006/21/0052, ua).

 

Der Einzelfall des BF ist ? unbestrittenermaßen ? als ?Dublin-Fall? zu qualifizieren.

 

Bei der im gegenständlichen Fall durchzuführenden Einzelfallprüfung ist zu berücksichtigen, dass sich der BF unmittelbar nach seiner Einreise in Österreich nach Traiskirchen begeben und er dort einen Asylantrag gestellt hat. Er ist dabei von sich aus mit den österreichischen Behörden in Kontakt getreten, hat an der Feststellung des maßgebenden Sachverhaltes in angemessener Weise mitgewirkt und sind seine, bei der Erstbefragung nach dem AsylG getätigten, Angaben zu seiner Identität und zum Flucht- bzw Reiseablauf ? dem derzeitigen Erkenntnisstand nach ? als wahrheitsgemäß zu werten.

 

Die Kernfamilie des BF ((im 3. Monat schwangere) Ehegattin und (10 Monate altes, herzkrankes) Kind) ist in Bundesbetreuung und hält sich im Flüchtlingslager Traiskirchen auf.

Aufgrund des Asylwerberstatus haben sowohl der BF als auch seine beiden Angehörigen einen Rechtsanspruch auf Grundversorgung (Unterkunft, Verpflegung, medizinische Betreuung), sodass für den Unterhalt dieser Familie gesorgt wäre.

 

Angesichts der persönlichen Situation des BF (herzkrankes Kleinkind, schwangere Ehegattin, gemeinsame Reise der Familie durch mehrere Staaten) lässt sich eine Absicht des BF, allein unterzutauchen, nicht erkennen und erscheint ein Untertauchen der gesamten Familie aufgrund der, mit dem Leben in der Illegalität verbundenen, von einer Familie in der gegebenen Konstellation nur schwer zu bewältigenden, Schwierigkeiten (z. B. bei der medizinischen Versorgung der beiden Angehörigen des BF, beim Finden einer Unterkunft) eher unwahrscheinlich.

 

Den Aussagen des BF lässt sich eine, die Vereitelung der Ausreise  intendierende, Ausreiseunwilligkeit des BF nicht entnehmen.

Der BF hat zwar (aus seiner Interessenlage gesehen verständlicherweise) deponiert, aufgrund der guten medizinischen Versorgung in Österreich bleiben zu wollen, hat jedoch auch ausdrücklich angegeben, nicht illegal in Österreich bleiben zu wollen und sich eine Rückkehr nach Frankreich durchaus vorstellen zu können.

 

Ein Grund, aus welchem die, durch die Schubhaft erfolgte, Trennung des BF von seiner Kernfamilie (Ehegattin, minderjähriges Kind) erforderlich (gewesen) ist, ist dem Schubhaftbescheid nicht entnehmbar und ist ein solcher Grund auch nicht auf andere Weise verfahrensevident geworden.

Außerdem ist nicht zu erkennen, weshalb der BF, wäre er nicht in Schubhaft genommen worden und wäre ihm die, ihm als Asylwerber zustehende, Grundversorgung gewährt worden, diese Unterstützung aufgeben und untertauchen hätte sollen.

 

Dem Nichteinhalten einreise-, ausreise- und aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen von EU-Staaten (Frankreich, Österreich), dem Fehlen einer beruflichen Verankerung in Österreich, einer Erwerbsmöglichkeit im Inland, eines gültigen Reisedokumentes und von Barmitteln kommt in der gegenständlichen Fallkonstellation keine entscheidende Bedeutung zu, zumal diese Umstände auf einen Großteil der Asylwerber zutreffen und somit keine Besonderheit darstellen.

 

Weder das Desinteresse des BF am, über Antrag des BF, in Frankreich geführten Asylverfahren noch das Verlassen Frankreichs, ohne den Ausgang des Asylverfahrens abgewartet zu haben, ist entscheidungsrelevant, weil eine derartige Einstellung und Verhaltensweise eines Asylwerbers in ?Dublin-Fällen? durchaus üblich ist.

 

Umstände, die den gegenständlichen ?Dublin-Fall? in einem besonderen Licht erscheinen und daher ?in einem erhöhten Grad? ein Untertauchen des BF befürchten lassen, sind nicht verfahrensevident geworden.

 

Bedachtnehmend auf die neuere Judikatur der beiden Gerichtshöfe öffentlichen Rechtes sowie die in dieser vom Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshof vertretenen Anschauungen in gleichgelagerten Fällen kann im hier zu beurteilenden konkreten Einzelfall ? den Ansichten der Höchstgerichte folgend ?  für den Zeitraum vom 07.01.2008 bis zum nunmehrigen Entscheidungszeitpunkt nicht von der Annahme, der BF wird sich durch Untertauchen dem Verfahren zur Erlassung einer Ausweisung und der Abschiebung entziehen und der BF wird damit zur Durchsetzung der behördlichen Maßnahme nicht mehr greifbar sein, sohin vom Bestehen eines Sicherungserfordernisses, ausgegangen werden.

 

Da mangels Sicherungserfordernisses die Festnahme und Anhaltung des BF in Schubhaft unverhältnismäßig, somit rechtswidrig war und ist, ist spruchgemäß zu entscheiden gewesen.

 

Die Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung hat, ungeachtet des Beschwerdeantrages auf Verhandlungsdurchführung, gemäß §83 Abs2 Z1 FPG unterbleiben können, weil der Sachverhalt aus der Aktenlage iVm der Beschwerde geklärt erscheint.

 

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die bezogenen Gesetzesstellen.

 

Die BH X hat keinen Antrag auf Aufwandersatz gestellt.

Zuletzt aktualisiert am
31.12.2008
Quelle: Unabhängige Verwaltungssenate UVS, http://www.wien.gv.at/uvs/index.html
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