TE Vfgh Erkenntnis 1986/11/28 B894/85

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Veröffentlicht am 28.11.1986
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Index

10 Verfassungsrecht
10/10 Grundrechte, Datenschutz, Auskunftspflicht

Norm

B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelb
MRK Art10 Abs1
StGG Art8
StGG Art13. 1. Satz
EGVG ArtIX Abs1 Z1
VStG §35 litc
VStG §36 Abs1

Leitsatz

Art144 Abs1 B-VG; StGG Art13; Befehle, Transparente zu entfernen und das Verteilen von Flugschriften einzustellen - Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt; Bf. mußte im Weigerungsfall mit der Anwendung unmittelbar folgenden physischen Zwanges rechnen; kein Eingriff in das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit durch diese Befehle - intentional nicht auf eine Einschränkung dieses Rechtes gerichtete Maßnahmen StGG Art8; MRK Art5; G zum Schutze der persönlichen Freiheit; vertretbare Annahme der Ordnungsstörung nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950; Festnehmung in §35 litc VStG 1950 gedeckt; vorzeitige Freilassung eines wegen Verharrens im strafbaren Verhalten Festgenommenen, der dieses Verhalten gerade infolge der Festnahme einstellt, nur dann, wenn aufgrund besonderer Umstände augenfällig wird, daß er im Falle der Freilassung sein strafbares Verhalten nicht wieder aufnehmen wird; hier auf Festnahme folgende Anhaltung in §36 Abs1 VStG gedeckt; keine Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit

Spruch

Der Bf. ist dadurch, daß er am 26. Oktober 1985 in Wien 1, Rathausplatz, von Organen der Bundespolizeidirektion Wien festgenommen und sodann angehalten wurde, sowie dadurch, daß ihm der Befehl erteilt wurde, von ihm getragene Plakate zu entfernen und das Verteilen von Flugzetteln einzustellen, weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. O C begehrt in seiner mit Berufung auf Art144 (Abs1) B-VG an den VfGH gerichteten Beschwerde die kostenpflichtige Feststellung, am 26. Oktober 1985 in Wien dadurch, daß Organe der Bundespolizeidirektion Wien ihn festnahmen und anhielten und ihm ferner das Verteilen von Flugzetteln untersagten, demnach durch Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf persönliche Freiheit und auf Freiheit der Meinungsäußerung verletzt worden zu sein.

2. Die durch die Finanzprokuratur vertretene Bundespolizeidirektion Wien als bel. Beh. legte die Administrativakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie den Antrag stellt, die Beschwerde, soweit eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf persönliche Freiheit behauptet wird, als unbegründet abzuweisen, im übrigen aber als unzulässig zurückzuweisen. Außerdem wird begehrt, den Bf. zum Ersatz der Verfahrenskosten zu verpflichten.

II. Über die Beschwerde wurde erwogen:

1. Der VfGH stellt, gestützt auf den Inhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes der Bundespolizeidirektion Wien, Pst 24816/S/85, und das Parteienvorbringen folgenden Sachverhalt als erwiesen fest:

Am 26. Oktober 1985 fand um 11.00 Uhr in Wien 1, Rathausplatz eine Angelobung von Jungmännern des Bundesheeres statt. Anschließend wurde eine Truppenparade abgehalten.

Gegen 11.00 Uhr bemerkten die vor der Ehrentribüne Dienst versehenden Sicherheitswachebeamten H S und V C zwei Männer, die Rucksäcke trugen. Auf den Traggestellen dieser Rucksäcke waren Plakate befestigt, die die Köpfe ihrer Träger etwa einen halben Meter überragten. Der Text der Transparente warb für das "Volksbegehren gegen den Ankauf von Abfangjägern". Die beiden Männer verteilten an die Zuschauer Flugzettel mit dem gleichen Inhalt. Einer der beiden Männer war O C, der Bf.

Durch das Verhalten der beiden Männer kam es unter den Zuschauern zu einer Unruhe, so auch, weil sich diese in ihrer Sicht beeinträchtigt fühlten. Die Sicherheitswachebeamten forderten die Männer auf, ihre Kundgebung, die die Ordnung störe, zu beenden. Die Männer lehnten dies jedoch ab und verwiesen auf das ihnen ihrer Meinung nach zustehende Recht auf freie Meinungsäußerung. Zwischen den Zusehern und den Männern kam es zu einer Debatte, die immer erregter wurde.

Als der Bf. und sein Begleiter das Verhalten trotz weiterer Belehrungen und Abmahnungen nicht einstellten, sprach Inspektor S um

11.15 Uhr die Festnahme des Bf. und seines Begleiters aus. Die beiden wurden auf das Bezirkspolizeikommissariat Innere Stadt gebracht. Nach Einleitung eines Verwaltungsstrafverfahrens wurde der Bf. um 14.40 Uhr aus der Haft entlassen. Das Verwaltungsstrafverfahren ist dem dem VfGH vorgelegten Administrativakt zufolge bisher noch nicht abgeschlossen.

Diese Feststellungen gründen sich auf die von den Sicherheitswachebeamten erstattete Anzeige und die unbedenklichen Aussagen der Sicherheitswachebeamten S und C. Die Behauptung des Bf., daß sich über sein Verhalten niemand aufgeregt habe und daß er von den Beamten nicht abgemahnt worden sei, ist unter den gegebenen Umständen unwahrscheinlich; immerhin hatten sich die meisten der Anwesenden eingefunden, um die Truppenparade zu sehen, worin sie zT behindert wurden.

2. Gemäß Art144 Abs2 zweiter Satz B-VG erkennt der VfGH über Beschwerden, die die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person behaupten. Zu diesen Verwaltungsakten gehören die Festnehmung und anschließende Verwahrung von Personen (s. zB VfGH 5. Juni 1986 B884/84 und die dort zitierte weitere Vorjudikatur), sowie der von den Sicherheitswachebeamten ausgesprochene Befehl, die Transparente zu entfernen und das Verteilen von Flugzetteln einzustellen, da der Bf. im Weigerungsfall mit der Anwendung unmittelbar folgenden physischen Zwanges rechnen mußte.

Folglich ist die Beschwerde, da ein Instanzenzug nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, in vollem Umfang zulässig.

3. a) Zur Festnahme und Anhaltung:

Art8 StGG - ebenso wie Art5 MRK - schützt vor gesetzwidriger Verhaftung (s. auch hiezu die soeben zitierte Rechtsprechung).

Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art8 StGG zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, legt in seinem §4 fest, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt (dazu zählen die Sicherheitswachebeamten) in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen.

§35 VStG 1950 ist ein solches Gesetz, doch setzt die Festnahme durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes (etwa durch einen Sicherheitswachebeamten) in allen in dieser Gesetzesvorschrift angeführten (Anwendungs-)Fällen (lita bis c) voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird: Sie muß sich also eine als Verwaltungsübertretung strafbare Handlung zuschulden kommen lassen und bei Begehung dieser Tat angetroffen werden, wobei die erste dieser beiden Voraussetzungen bereits dann erfüllt ist, wenn das Organ die Verübung einer Verwaltungsübertretung mit gutem Grund annehmen konnte (s. die oben zitierte Judikatur).

Gemäß §35 litc VStG 1950 ist eine Festnahme unter den soeben umschriebenen Bedingungen zum Zwecke der Vorführung vor die Behörde aber nur dann gestattet, wenn der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht.

Nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 begeht eine Verwaltungsübertretung, wer durch ein Verhalten, das Ärgernis zu erregen geeignet ist, die Ordnung an öffentlichen Orten stört.

Im Hinblick auf die zu II.1. geschilderte Sachlage durften die Sicherheitswachebeamten durchaus mit gutem Grund annehmen, daß der (abgemahnte) Bf. eine Verwaltungsübertretung nach der soeben zitierten Gesetzesbestimmung begangen habe. War aber die Beurteilung des Verhaltens des Bf. als Verwaltungsdelikt vertretbar und lag - wie hier - infolge Betretens auf frischer Tat und Verharrens in der strafbaren Handlung trotz Abmahnung der - in der Anzeige der Sache nach zutreffend umschriebene - Festnehmungsgrund des §35 litc VStG 1950 vor, so entsprach die bekämpfte Festnehmung dem Gesetz (vgl. zB VfSlg. 10246/1984).

Die im Anschluß an die - im Gesetz gedeckte - wegen Verharrens in der strafbaren Handlung ausgesprochene - Festnahme des Bf. erfolgte Anhaltung war ebenfalls rechtmäßig: Gemäß §36 Abs1 erster Satz VStG 1950 ist der zum Zweck der Vorführung vor die zuständige Behörde Festgenommene freizulassen, wenn der Grund zur Festnahme schon vorher entfällt. Wenn aber bereits die Festnahme selbst bewirkt, daß der Grund der Festnahme entfällt, wenn also die wegen Verharrens im strafbaren Verhalten festgenommene Person dieses Verhalten gerade infolge der Festnahme einstellt, ist diese Rechtsregel nicht wörtlich anzuwenden. Vielmehr ist - dem Sinn des Gesetzes entsprechend - der Festgenommene nur dann vorzeitig zu enthaften, wenn aufgrund besonderer Umstände augenfällig wird, daß er im Fall der Freilassung sein strafbares Verhalten nicht wieder aufnehmen wird (vgl. VfSlg. 9368/1982 und die dort zitierte weitere Vorjudikatur).

Anhaltspunkte dafür, daß derartige besondere Umstände in diesem Fall vorliegen, haben sich nicht ergeben.

Wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, waren die Voraussetzungen für die Festnahme und die nachfolgende Anhaltung des Bf. nach §35 litc VStG 1950 gegeben. Der Bf. ist demnach durch diese Maßnahmen im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit nicht verletzt worden.

b) Zu den Befehlen, Plakate zu entfernen und das Flugzettelverteilen einzustellen:

In das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Meinungsfreiheit wurde durch diese bekämpften Amtshandlungen überhaupt nicht eingegriffen, weil diese intentional nicht auf eine Einschränkung dieses Rechtes, sondern - im Rahmen des Gesetzes (ArtIX Abs1 Z1 EGVG) -, darauf gerichtet waren, das ordnungsstörende Verhalten des Bf. zu beenden (vgl. zB VfGH 19. Juni 1986 B81, 82, 86, 89, 90/85). Es ging hier nicht darum, den Bf. zu hindern, seine Meinung zu äußern, sondern darum, seine störenden Demonstrationsaktionen abzustellen.

c) Auch die Verletzung eines anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes kam nicht hervor. Der Bf. wurde auch nicht wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt.

Die Beschwerde war sohin abzuweisen.

Schlagworte

Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Meinungsäußerungsfreiheit, Verwaltungsstrafrecht, Ordnungsstörung, Festnehmung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1986:B894.1985

Dokumentnummer

JFT_10138872_85B00894_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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