TE Vfgh Erkenntnis 1986/11/28 B46/85

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Veröffentlicht am 28.11.1986
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Index

10 Verfassungsrecht
10/10 Grundrechte, Datenschutz, Auskunftspflicht

Norm

B-VG Art139 Abs1 / Präjudizialität
B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelb
B-VG Art144 Abs3
MRK Art3
MRK Art11 Abs2
StGG Art12 / Versammlungsrecht
Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf vom 06.12.84, Z11-A/84, betreffend ein Aufenthaltsverbot im Baustellenbereich des Donaukraftwerkes Hainburg
VersammlungsG §2
VersammlungsG §13
VersammlungsG §17

Leitsatz

MRK; VersammlungsG 1953; im vorliegenden Fall im Auftrag und unter der Leitung eines Beamten der Sicherheitsdirektion f. NÖ durchgeführte Amtshandlungen von Gendarmeriebeamten (als Hilfsorganen der Sicherheitsdirektion); auf VersammlungsG gestütztes Vorgehen - mangelnde Präjudizialität einer auf ArtII §4 Abs2 VÜG 1929 gestützten Verordnung; Auflösung der Versammlung (die die Durchführung von Bauarbeiten verhindern sollte) gesetzlich gedeckt; Sicherheitsdirektion zum Einsatz physischer Gewalt zur Durchsetzung der Auflösung der Versammlung befugt - keine Verletzung im Recht auf Versammlungsfreiheit; ua. auch aufgrund einer Filmaufnahme als erwiesen angenommenes Versetzen von Fußtritten - Verstoß gegen Art3 MRK; (zur Durchsetzung der Versammlungsauflösung) Anwendung von Körperkraft in Form des Hinabdrängens von einem Damm - angesichts des nachhaltigen passiven Widerstandes des Bf. (und offenkundig vieler anderer Versammlungsteilnehmer) von der Intention her auf Versammlungsauflösung und nicht gegen die Menschenwürde gerichtet; in Anbetracht der Situation maßhaltende Vorgangsweise und kein Verstoß gegen Art3 MRK; nicht erkennbar, daß Versammlungsauflösung durch ungefährlichere Maßnahmen durchzusetzen gewesen wäre; keine Abtretung der Beschwerde an den VwGH im Umfang der Abweisung, weil bekämpfte Maßnahmen zur Gänze in Vollziehung des VersammlungsG 1953 erfolgt sind

Spruch

1. Der Bf. ist dadurch, daß ihm am 10. Dezember 1984 in der Stopfenreuther Au von Organen der Sicherheitsdirektion für NÖ Fußtritte versetzt wurden, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht, keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden.

2. Im übrigen ist der Bf. durch die gegen ihn von Organen der Sicherheitsdirektion für NÖ zur oben genannten Zeit und am oben genannten Ort angewendete körperliche Gewalt weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird insoweit abgewiesen.

Insoweit wird der Antrag auf Abtretung der Beschwerde an den VwGH abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. In der auf Art144 B-VG gestützten Beschwerde wird vorgebracht, der Bf. hätte am 10. Dezember 1984 in der Stopfenreuther Au an der "Versammlung zahlreicher Menschen" teilgenommen, welche den Beginn der Vorarbeiten für das Donaukraftwerk Hainburg verhindern wollten. "Alle" im Augebiet stattfindenden Versammlungen seien von G S mit Schreiben vom 13. November 1984 "rechtzeitig und unter Beachtung der gesetzlichen Erfordernisse" angemeldet worden.

Der Bf. H S habe sich am Hubertusdamm aufgehalten und dort gemeinsam mit anderen Personen die Zufahrtsstraße in der Weise blockiert, daß sie sich alle niedergesetzt und ineinander eingehängt hätten. Die Versammlungsteilnehmer seien der behördlichen Aufforderung zur Räumung der Straße nicht nachgekommen und seien sodann von Gendarmeriebeamten "aus den Ketten" herausgerissen, auf die Seite gezerrt und den Damm hinuntergeworfen worden. Der Bf. sei insgesamt fünfmal von Beamten an Händen und Füßen gepackt und dann mit Schwung durch die Luft die Böschung des Dammes hinuntergeworfen worden. In der Folge habe sich der Bf. H S "zur Furt beim Tiergarten" begeben und sei dort in einer Gruppe von 20 bis 30 Leuten gesessen, wobei er sich bei seinem jeweiligen Nachbarn eingehängt habe. Plötzlich habe er mehrere Fußtritte in den Rücken und in das Gesicht bekommen. Der Bf. habe sich daraufhin von seinen beiden Nachbarn gelöst, die Knie angezogen und seine Hände um die Knie geschlungen um sich vor weiteren Tritten zu schützen. Trotzdem habe er weitere Tritte auf Rücken und Beine bekommen, darunter einen besonders starken in die linke Kniekehle. Der Bf. sei die ganze Zeit seitlich bewegungslos am Boden gelegen. Erst dann sei er von Beamten auf die Seite geschleift worden. Der Bf. habe - näher bezeichnete - Verletzungen erlitten. Einen Arzt habe der Bf. nicht aufgesucht.

Die Versammlung, an welcher der Bf. teilgenommen hätte, sei ordnungsgemäß und rechtzeitig angezeigt worden und am 10. Dezember 1984 nicht untersagt und daher rechtmäßig gewesen. Da der Bf. mit körperlicher Gewalt daran gehindert worden sei, sein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht auf Teilnahme an einer ordnungsgemäß angezeigten Versammlung auszuüben, sei er im Recht auf Versammlungsfreiheit verletzt worden. Zur Auflösung der Versammlung hätte auch deshalb kein Anlaß bestanden, da sich in dieser Versammlung keine gesetzwidrigen Vorgänge ereignet hätten.

Ein Einsatz derartiger körperlicher Gewalt, wie er hier erfolgt sei, sei überhaupt nicht notwendig gewesen, weil kein Anlaß dazu bestanden habe, die Versammelten angriffs-, widerstands- oder fluchtunfähig zu machen. Es sei nicht nur als unverhältnismäßige Anwendung von Gewalt, sondern auch als sinnlos zu bezeichnen, Personen eine steinige Böschung hinunterzuwerfen und ihnen Fußtritte zu versetzen, von denen selbst keine Gewalt ausgehe. In diesem Verhalten der Gendarmeriebeamten sei eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung des Bf. iS des Art3 MRK zu erblicken.

Der Bf. erachtet sich durch die bekämpften Akte verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter, auf Gleichheit vor dem Gesetz, auf Versammlungsfreiheit sowie keiner unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden verletzt und beantragt, der VfGH wolle dies feststellen, in eventu die Beschwerde dem Verwaltungsgerichshof abtreten.

Der Bf. macht überdies Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf vom 6. Dezember 1984, Z 11-A/84, geltend, mit welcher gemäß ArtII §4 Abs2 VÜG 1929 "das Betreten und der Aufenthalt auf der Baustelle des Donaukraftwerks Hainburg, einschließlich Bauhof und Wohnlager, soweit diese im Verwaltungsbezirk Gänserndorf gelegen sind, durch Unbefugte verboten" wurde; in der Vollziehung dieser Verordnung erblickt der Bf. - mit näherer Begründung - den bereits oben erwähnten Verstoß gegen die verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter und auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz.

2. Die Sicherheitsdirektion für NÖ hat in Gegenschriften die Abweisung der Beschwerde beantragt und zunächst darauf hingewiesen, daß der Einsatz von 269 Gendarmeriebeamten am 10. Dezember 1984 unter der Leitung der Sicherheitsdirektion für NÖ erfolgt sei. Der Sicherheitsdirektor, Hofrat Dr. S, habe um 11.00 Uhr dieses Tages die Vertreter der Bezirkshauptmannschaften Bruck a. d. Leitha und Gänserndorf angewiesen, um 13.00 Uhr die Versammlungen im Augebiet zu untersagen und aufzulösen. Der eventuell notwendige Einsatz der Gendarmerie sei danach durch den Vertreter der Sicherheitsdirektion, OR Mag. W, anzuordnen und zu leiten.

Daraufhin seien die Versammlungen an allen jenen Stellen untersagt worden, an denen sich jeweils die größten Gruppen von Demonstranten befunden hätten. Die Untersagung der "nicht angezeigten und derzeit bereits stattfindenden Versammlung im Bereiche der Zufahrtswege zum Baustellengebiet und im Baustellengebiet selbst des Kraftwerkes Hainburg" habe sich auf §13 und auf §2 des Versammlungsgesetzes 1953 gestützt, sei mittels Megaphon verkündet worden und habe die Hinweise enthalten, der Versammlungsort sei sofort zu verlassen, widrigenfalls die Versammelten sich strafbar machten und im Falle des Ungehorsams sei mit Zwangsmitteln unter Einsatz der Gendarmerie zu rechnen.

Die Zustellung eines Untersagungsbescheides sei nicht möglich gewesen, da trotz intensiver Bemühungen ein Verantwortlicher für die Versammlungen nicht habe ermittelt werden können. Es sei zu diesem Zeitpunkt auch nicht ersichtlich gewesen, daß es sich um die von G S angezeigte Versammlung handeln könnte, da G S ungeachtet aller Bemühungen unter den Demonstranten nicht habe ausfindig gemacht werden können und auch sonst kein Versammlungsteilnehmer bereit gewesen sei, die Verantwortung für die stattfindende Versammlung zu übernehmen.

Da die Versammelten den mehrfachen und wiederholten Aufforderungen auseinanderzugehen nicht nachgekommen seien, habe der Vertreter der Sicherheitsdirektion für NÖ, O R Mag. W, den Gendarmerieeinsatz angeordnet. Da die Demonstranten dieser Aufforderung trotz einer neuerlichen Abmahnung nicht entsprochen hätten, hätten die Gendarmeriebeamten eine keilförmige Aufstellung angenommen und begonnen, die am Boden sitzenden und ineinander eingehängten Demonstranten auseinanderzudrängen und einen Weg für die nachfolgenden Arbeiter und Arbeitsgeräte freizumachen. Die Demonstranten hätten sich den Gendarmeriebeamten insoweit widersetzt, als sie sich fest aneinandergeklammert und an den Armen eingehakt hätten. Die Beamten seien daher gezwungen gewesen, die Versammlungsteilnehmer an Armen und Beinen zu ergreifen und sie wegzuzerren bzw. wegzudrängen um sie voneinander zu lösen und in der Folge wegtragen zu können. Der Gendarmerieeinsatz sei mit möglichster Schonung der Demonstranten und ohne Waffengebrauch durchgeführt worden. Beim sog. "Tiergarten-Arm" sei die Auflösung der untersagten Versammlung nur dadurch möglich gewesen, daß die Gendarmeriebeamten die Demonstranten unter Anwendung von Körperkraft vom Versammlungsort weggebracht und durch Abriegelung deren Zurückkehren "in die Blockade" verhindert hätten. Hiebei sei es unvermeidbar gewesen, daß einzelne Demonstranten über die Böschung des Dammes gedrängt wurden, weil die Fläche auf der Dammkrone relativ begrenzt sei, die Anzahl der Widerstand leistenden Demonstranten teilweise bis zu 100 Personen betragen habe und ein Großteil der abgedrängten Demonstranten immer wieder versucht habe, "in die Blockade zurückzukommen".

In rechtlicher Hinsicht weist die Sicherheitsdirektion für NÖ darauf hin, daß für die am 10. Dezember 1984 in der Stopfenreuther Au durchgeführte Versammlung ordnungsgemäße Anzeigen nicht vorgelegen seien. Es habe für die Behörde an diesem Tag ursprünglich keine konkreten Hinweise dafür gegeben, daß es sich bei der stattfindenden Versammlung um jene handle, die von G S angezeigt worden sei. Erst im Laufe des Gendarmerieeinsatzes hätten sich einzelne Demonstranten darauf berufen, daß die Versammlung von G S angezeigt worden sei. Die Auflösung der gesetzwidrigen Versammlung und die nachfolgende Räumung der Versammlungsorte sei aufgrund der Bestimmungen des Versammlungsgesetzes erfolgt und nicht in Anwendung der in der Beschwerde kritisierten Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf vom 6. Dezember 1984.

Zu den behaupteten Verstößen gegen Art3 MRK verweist die Sicherheitsdirektion auch auf die ständige Rechtsprechung des VfGH zu dieser Verfassungsbestimmung und im Zusammenhang damit auf den bei der Gewaltanwendung durch Exekutivorgane zu beachtenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Hiebei seien hier die begleitenden Umstände von größter Bedeutung; es werde zu berücksichtigen sein, welche Interessen, insbesondere öffentlich-rechtlicher Natur auf dem Spiele stehen, wie groß und wie nachhaltig der Widerstand gegen die Staatsgewalt war, welche Gegenmaßnahmen von Seiten der Demonstranten ausgeführt wurden, welchen Erfolg behördliche Anordnungen (Auflösung von Versammlungen) gezeitigt haben und welcher weitere Verlauf an (rechtswidrigen) Geschehnissen zu erwarten war. Bei Berücksichtigung aller dieser Aspekte sei die Gewaltanwendung von seiten der Exekutive durchaus maßhaltend gewesen.

II. Der VfGH hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Die bekämpften Amtshandlungen wurden - worauf auch die Sicherheitsdirektion für NÖ und die Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf im verfassungsgerichtlichen Verfahren übereinstimmend hingewiesen haben - im Auftrag und unter der Leitung eines Beamten der Sicherheitsdirektion für NÖ durchgeführt. Sie sind somit dieser Behörde zuzurechnen (s. hiezu VfSlg. 8545/1979, S 313). Die einschreitenden Beamten vollzogen die hier bekämpften Maßnahmen für die Sicherheitsdirektion, als deren Hilfsorgan sie tätig wurden und deren Vollzugsgewalt sie im konkreten Fall gehandhabt haben (vgl. VfSlg. 8146/1977, S 157 sowie insbesondere VfSlg. 10916/1986); dies gilt auch für den vorliegenden Fall.

Belangte Behörde ist hier daher die Sicherheitsdirektion für NÖ.

2. Zunächst sei bemerkt, daß nach dem - mit dem Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten in Einklang stehenden - Vorbringen der bel. Beh. die Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf vom 6. Dezember 1984 bei der Durchführung der hier bekämpften Maßnahmen am 10. Dezember 1984 nicht angewendet worden ist. Das behördliche Vorgehen stützte sich vielmehr auf die Bestimmungen des Versammlungsgesetzes 1953.

Auch der VfGH wird diese Verordnung bei Prüfung der vorliegenden Beschwerde nicht anzuwenden haben. Die Verordnung ist daher nicht präjudiziell iS des Art139 Abs1 B-VG, weshalb auf die gegen sie vorgebrachten Bedenken nicht eingegangen werden kann, ebensowenig auf den im Zusammenhang damit erhobenen Vorwurf der Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter und auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz.

3. Zum behaupteten Verstoß gegen die Versammlungsfreiheit:

Am 10. Dezember 1984 hat in der Stopfenreuther Au eine Versammlung stattgefunden (vgl. hiezu die auch hier maßgeblichen Ausführungen im Erk. des VfGH VfSlg. 10955/1986), welche von der Behörde untersagt und für aufgelöst erklärt worden ist. Die Umstände, die zur Untersagung - deren Rechtmäßigkeit auch in der vorliegenden Beschwerde nicht in Zweifel gezogen wird - hinzuzutreten haben, um eine Versammlungsauflösung zu rechtfertigen (s. insbesondere VfSlg. 10443/1985), waren hier gegeben (s. auch hiezu das angeführte Erk. VfSlg. 10955/1986). Es wird auch in der vorliegenden Beschwerde nicht der geringste Zweifel daran gelassen und lag für die Behörde auf der Hand, daß die am 10. Dezember 1984 in der Stopfenreuther Au versammelten Personen in der Absicht an der Versammlung teilnahmen, die Durchführung von Bauarbeiten zu verhindern. Ohne die Auflösung der Versammlung wären also zwei der in Art11 Abs2 MRK aufgezählten Schutzgüter (die Aufrechterhaltung der Ordnung und der Schutz der Rechte anderer) gefährdet gewesen.

Aus diesen Erwägungen folgt, daß die - gemäß §17 Versammlungsgesetz 1953 auch zuständige (vgl. hiezu ebenfalls VfSlg. 10955/1986) - Sicherheitsdirektion zum Einsatz physischer Gewalt zur Durchsetzung der Auflösung der Versammlung befugt war. Die Behauptung des Bf. im Recht auf Versammlungsfreiheit verletzt worden zu sein, trifft somit nicht zu.

4. Zur Behandlung des Bf.:

a) Der VfGH hat diesbezüglich Beweis erhoben durch die Vernehmung des Bf. als Partei sowie der Zeugen F H, Dr. V R, M T und J F im Rechtshilfewege.

Der Bf. wiederholte hiebei im wesentlichen sein Beschwerdevorbringen (s. oben unter Punkt I.1.). Die vernommenen Zeugen - ebenfalls Versammlungsteilnehmer - gaben übereinstimmend an, gesehen zu haben, wie Gendarmeriebeamte dem am Boden liegenden Bf. Tritte versetzt hätten. Ebenso übereinstimmend erklärten die Zeugen, daß die Versammlungsteilnehmer von den Gendarmeriebeamten den Damm "hinuntergeworfen" (Zeuge H), "weggeschmissen" (Zeugin Dr. R), "hinuntergestoßen" (Zeuge T) wurden.

Darüber wie der Bf. über die Böschung gedrängt oder gestoßen wurde, konnten die Zeugen keine näheren Angaben machen.

Der VfGH hat weiters Beweis erhoben durch die Vorführung eines - von einer Videogruppe des Werkstätten- und Kulturhauses hergestellten - Films mit dem Titel "Stopfenreuther Au, Dezember 84" vor dem Referenten des VfGH. Im ersten Teil dieses Films ist der Bf., am Boden sitzend, zu sehen. In dem Protokoll über die Filmvorführung vor dem Referenten des VfGH heißt es sodann:

"Im Film ist zu sehen, daß diese Person zuerst von einem und dann von zwei Beamten aus ihrer sitzenden Stellung hochgezogen wird, dabei ist zu sehen, daß der Beschwerdeführer mit dem Körper, vor allem mit dem Kopf, eine heftige Bewegung macht, indem er gleichsam zusammenzuckt. Gleichzeitig ist im Film eine Art schlagendes Geräusch hörbar. Ob die Körperbewegung des Beschwerdeführers auf einen Schlag zurückzuführen ist und ob das wiedergegebene Geräusch von einem Schlag herrührt, ist aus dem Film nicht erkennbar."

b) Der VfGH nimmt aufgrund der übereinstimmenden Angaben des Bf. und der Zeugen als erwiesen an, daß dem Bf. von (unbekannt gebliebenen) Gendarmeriebeamten Fußtritte versetzt wurden. Der VfGH sieht keinen Anlaß, an der Richtigkeit dieser - auf der unmittelbaren Wahrnehmung mehrerer Personen beruhenden - Angaben zu zweifeln. Für die Glaubwürdigkeit dieser Behauptungen spricht auch folgender Umstand:

Die oben wiedergegebene Filmaufnahme läßt es als möglich, wenn nicht als wahrscheinlich erkennen, daß dem Bf. von einem Gendarmeriebeamten ein Schlag versetzt worden ist. Hiebei ist zwar einzuräumen, daß das, was aus dem Film hervorgeht, für sich allein noch keinen Nachweis bedeutet, daß dem Bf. tatsächlich ein Schlag versetzt wurde, doch stellt der immerhin ein - im Zusammenhalt mit den übrigen Beweisergebnissen zu würdigendes - Indiz dafür dar, daß der Bf. mißhandelt wurde.

Das Versetzen von Fußtritten (vgl. hiezu auch VfSlg. 10250/1984) stellt unter den gegebenen Umständen eine die Menschenwürde beeinträchtigende gröbliche Mißachtung des Betroffenen als Person dar, welche iS der ständigen Rechtsprechung des VfGH (s. VfSlg. 8146/1977, 8296/1978) einen Verstoß gegen Art3 MRK beinhaltet.

c) Der Bf. hat sich nach seinem eigenen Vorbringen den behördlichen Anordnungen beharrlich widersetzt, indem er sich auf den Boden setzte und nicht wegging. Dieses Verhalten des Bf. zeigt deutlich, daß es für die Beamten sehr schwierig war, die Auflösung der Versammlung durchzusetzen. Angesichts des nachhaltigen (passiven) Widerstandes des Bf. (und offensichtlich vieler anderer Versammlungsteilnehmer) war die Anwendung von Körperkraft in der Form des Hinabdrängens vom Damm schon von der Intention her auf den Zweck der Amtshandlung (Auflösung der Versammlung), nicht aber gegen die Menschenwürde gerichtet.

In Anbetracht der gesamten Situation und der beharrlichen Haltung einer großen Anzahl von Manifestanten, der sich die Beamten gegenüber sahen, kann auch nicht in Abrede gestellt werden, daß die Vorgangsweise der Beamten an sich maßhaltend war, um so die Befolgung der behördlichen Anordnung zu erreichen. Dem Verhalten der Beamten lag hiebei - worauf wiederholend hinzuweisen ist - der Zweck der Amtshandlung, nicht aber eine die Menschenwürde beeinträchtigende gröbliche Mißachtung der Versammlungsteilnehmer zugrunde (vgl. hiezu die ständige Rechtsprechung des VfGH zu Art3 MRK im allgemeinen, zB VfSlg. 9385/1982, S 318 und die dort angeführte Vorjudikatur, sowie im gegebenen Zusammenhang insbesondere die ähnlichen Erwägungen über das Ziehen an den Haaren sowie heftiges Schieben und Stoßen bei beengter räumlicher Situation und passivem Widerstand des Bf. in VfSlg. 8580/1979, S 446).

Eine solche Vorgangsweise verstößt jedoch, wie der VfGH bereits in seinem Erk. vom 16. Oktober 1986, B91/85 zum Ausdruck gebracht hat, angesichts der damals gegebenen Situation nicht gegen Art3 MRK. Übrigens hat der Bf. sein Vorbringen in der Beschwerde, er sei "schwungvoll" den Damm hinuntergeworfen worden, bei seiner Aussage als Partei nicht bestätigt.

Im übrigen war die Anwendung von Körperkraft zwecks Auflösung der Versammlung durch Organe der bel. Beh. in Form des Hinunterdrängens bzw. Hinunterstoßens vom Damm auch sonst gerechtfertigt. Bei der bereits oben dargestellten spezifischen Situation (beharrlicher passiver Widerstand einer großen Anzahl von Personen, relativ schmaler Damm) ist nicht erkennbar, daß ein durch die behördliche Maßnahme allenfalls eintretender Schaden offensichtlich außer Verhältnis zum Zweck der Amtshandlung stand. Angesichts der örtlichen Gegebenheiten sowie des Umstandes, daß die Anzahl der Versammlungsteilnehmer im Vergleich zu jener der eingesetzten Beamten es offenkundig nicht ermöglicht hätte, die passiv Widerstand leistenden - und sogleich wieder an den Versammlungsort zurückkehrenden - Personen jeweils über eine weitere Strecke wegzutragen, ist auch nicht erkennbar, daß die Auflösung der Versammlung durch ungefährlichere Maßnahmen durchzusetzen gewesen wäre.

5. Es ist daher auszusprechen, daß der Bf. durch die ihm versetzten Fußtritte im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht, keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden, verletzt wurde (s. hiezu oben unter Punkt 4. b) und daß der Bf. durch das inkriminierte Hinunterwerfen über die Böschung weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt wurde (s. hiezu oben unter Punkt 4. c) und die Beschwerde insoweit abzuweisen.

Der Antrag auf Abtretung der Beschwerde an den VwGH (im Umfang der Abweisung der Beschwerde) ist abzuweisen, weil die bekämpften behördlichen Maßnahmen anläßlich der gewaltsamen Auflösung einer Versammlung zur Gänze in Vollziehung des Versammlungsgesetzes 1953 erfolgt sind. Jede Rechtsverletzung auf diesem Gebiet trifft unmittelbar die Verfassung, weil das Versammlungswesen seine Regelung im gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz geltenden Art12 StGG findet, weshalb für die Zuständigkeit des VwGH kein Raum bleibt (s. zB VfSlg. 9783/1983, S 84).

Schlagworte

VfGH / Präjudizialität, Versammlungsrecht, Behördenzuständigkeit, Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, VfGH / Abtretung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1986:B46.1985

Dokumentnummer

JFT_10138872_85B00046_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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