TE Vwgh Erkenntnis 1990/3/19 85/18/0174

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Veröffentlicht am 19.03.1990
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof;
40/01 Verwaltungsverfahren;
90/01 Straßenverkehrsordnung;

Norm

AVG §45 Abs2;
AVG §52;
AVG §58 Abs2;
AVG §66 Abs4;
StVO 1960 §2 Abs1 Z26;
StVO 1960 §37 Abs2 idF vor 1986/0105;
StVO 1960 §38 Abs1 lita idF vor 1986/0105;
StVO 1960 §38 Abs1 lita;
StVO 1960 §38 Abs5;
StVO 1960 §4 Abs1 lita;
StVO 1960 §4 Abs1 litb;
StVO 1960 §4 Abs1 litc;
StVO 1960 §4 Abs2;
StVO 1960 §4 Abs5;
StVO 1960 §4;
StVO 1960 §43 Abs1 litb;
StVO 1960 §43;
StVO 1960 §44 Abs2;
StVO 1960 §44 Abs3;
StVO 1960 §5 Abs2;
StVO 1960 §55 Abs2 idF vor 1986/0105 ;
StVO 1960 §9 Abs1;
StVO 1960 §9 Abs3 idF vor 1986/0105;
StVO 1960 §9 Abs4 idF vor 1986/0105;
StVO 1960 §99 Abs1 litb;
VStG §3 Abs1;
VStG §44a litb;
VStG §44a Z2 impl;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

Betreff

N gegen Wiener Landesregierung vom 13. März 1984, Zl. MA 70-XI/K 114/83/Str betreffend Übertretungen der Straßenverkehrsordnung 1960

Spruch

Der Bescheid der Wiener Landesregierung vom 13. März 1984 wird hinsichtlich der dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Verwaltungsübertretungen nach § 97 Abs. 5 StVO 1960, § 9 Abs. 1 StVO 1960 und § 38 Abs. 5 in Verbindung mit § 38 Abs. 1 lit. a StVO 1960 einschließlich des jeweils damit zusammenhängenden Ausspruches über die Strafe und die Verfahrenskosten wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben; im übrigen wird der Bescheid wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Die Bundeshauptstadt (Land) Wien hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 10.560,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom 13. März 1984 erkannte die Wiener Landesregierung - unter teilweiser Neufassung des Spruches des Straferkenntnisses der Bundespolizeidirektion Wien, Bezirkspolizeikommissariat Liesing, vom 9. Juni 1983 - schuldig, er habe am 14. Dezember 1982, gegen 23.30 Uhr als Lenker eines dem Kennzeichen nach bestimmten Pkw`s 1. von Wien 23, Sterngasse

-

Pfarrgasse - Draschestraße bis Kolbegasse die im Ortsgebiet zulässige Höchstgeschwindigkeit um ca. 60 km/h, somit erheblich, überschritten, 2. bei der Kreuzung Sterngasse

-

Auffahrt A 23 in Wien 23, die deutlich sichtbaren Zeichen mittels Anhaltestab (Rotlicht) zwecks Lenker- oder Fahrzeugkontrolle oder anderer den Fahrzeuglenker betreffenden Amtshandlungen zum Anhalten nicht beachtet, indem er das Kraftfahrzeug gewendet habe und Richtung Draschestraße weitergefahren sei, 3. auf der Auffahrt A 23 in Wien 23, beim Zurückschieben mit dem Kraftfahrzeug ein anderes Kraftfahrzeug beschädigt und nach diesem Verkehrsunfall mit Sachschaden nicht sofort angehalten, 4. an der Feststellung des Sachverhaltes betreffend diesen Verkehrsunfall nicht mitgewirkt, indem er den Tatort ohne diese seine Mitwirkung verlassen habe, 5. es unterlassen, ohne unnötigen Aufschub die nächste Polizeidienststelle von dem Verkehrsunfall in Kenntnis zu setzen, obwohl ein "Identitätsaustausch" mit dem Zweitbeteiligten unterblieben sei, 6. er sei bei der Kreuzung Sterngasse - Auffahrt A 23 nicht wie vorgeschrieben an dem dort angebrachten Fahrbahnteiler rechts vorbeigefahren, sondern links und habe daher das Gebotszeichen "Vorgeschriebene Fahrtrichtung" nicht beachtet, 7. er habe unmittelbar nach dem Fahrbahnteiler den Fahrstreifen gewechselt, wobei er die deutlich sichtbar angebrachte Sperrlinie überfahren habe, 8. er sei in Wien 23, Kreuzung Sterngasse - Pfarrgasse nach links in die Pfarrgasse eingebogen, habe also die Fahrtrichtung geändert, ohne diesen Vorgang anzuzeigen, obwohl sich andere Straßenbenützer auf diesen anzuzeigenden Vorgang hätten einstellen müssen, 9. er habe das Rotlicht der Verkehrslichtsignalanlage der Kreuzung Pfarrgasse

-

Draschestraße nicht beachtet, indem er nicht vor der dort befindlichen Haltelinie angehalten habe, sondern nach rechts in die Draschestraße eingebogen sei, obwohl das Anhalten auf Grund der Geschwindigkeit und Entfernung möglich gewesen wäre, 10. sei er bei der Kreuzung Pfarrgasse - Draschestraße nicht wie vorgeschrieben mit dem Kfz in kurzem Bogen, sondern in weitem Bogen nach rechts eingebogen, 11. er habe das Verbotszeichen "Einfahrt verboten" bei der Kreuzung Draschestraße

-

Büttnergasse nicht beachtet, sondern sei nach rechts in die Büttnergasse eingebogen, 12. er habe von 23, Sterngasse bis Kolbegasse, also die ganze Wegstrecke, die Fahrbahnmitte benützt, obwohl unter Bedachtnahme auf die Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs ein Rechtsfahren zumutbar und dies ohne Gefährdung, Behinderung oder Belästigung anderer Straßenbenützer und ohne Beschädigung von Sachen möglich gewesen wäre. Der Beschwerdeführer habe hiedurch Verwaltungsübertretungen nach § 99 Abs. 3 lit. a in Verbindung mit 1. § 20 Abs. 2, 2. § 97 Abs. 5, 3. § 4 Abs. 1 lit. a in Verbindung mit § 99 Abs. 2 lit. a, 4. § 4 Abs. 1 lit. c in Verbindung mit § 99 Abs. 2 lit. a, 5. § 4 Abs. 5 in Verbindung mit § 99 Abs. 3 lit. b, 6. § 99 Abs. 3 lit. a in Verbindung mit

§ 52 Z. 15, 7. § 9 Abs. 1, 8. § 11 Abs. 2, 9. § 38 Abs. 5 in Verbindung mit § 38 Abs. 1 lit. a, 10. § 13 Abs. 1, 11.

§ 52 Z. 2 und 12. § 7 Abs. 1 StVO 1960 begangen. Über den Beschwerdeführer wurden zu 1. und 6. bis 12. gemäß § 99 Abs. 3 lit. a, zu 2. gemäß § 99 Abs. 4 lit. i, zu 3. und 4. gemäß § 99 Abs. 2 lit. a und zu 5. gemäß § 99 Abs. 3 lit. b leg. cit. Geldstrafen und im Uneinbringlichkeitsfall Ersatzarreststrafen verhängt.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes und wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften erhobene Beschwerde.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsstrafverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift mit dem Antrag, die Beschwerde kostenpflichtig abzuweisen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

1. Zu allen dem Beschwerdeführer zur Last gelegten

Verwaltungsübertretungen:

Vorweg ist, dem Vorbringen des Beschwerdeführers entgegnend, der Spruch des Straferkenntnisses vom 9. Juni 1983 enthalte durch den Verweis "- siehe BLB -" keine konkrete Tatumschreibung, zu bemerken, daß der Aktenlage nach bis zur Erlassung des Straferkenntnisses an den Beschwerdeführer bloß EIN Beschuldigtenladungsbescheid am 26. Mai 1983 ergangen ist. Dieser enthält konkrete Tatanlastungen und wurde vom Vertreter des Beschwerdeführers übernommen. Da der Beschwerdeführer auch Akteneinsicht hatte, konnte er über die Tatanlastung nicht im Zweifel sein, zumal auch das Straferkenntnis nach Durchführung einer Verhandlung sofort mündlich verkündet wurde. Durch die Formulierung "siehe BLB" ist klargestellt, daß die Tatumschreibung des Beschuldigten-Ladungsbescheides vom 26. Mai 1983 als Spruch des Straferkenntnisses übernommen wurde. Es besteht weiters keine Vorschrift, daß die Berufungsbehörde den gesamten Spruch des Straferkenntnisses erster Instanz wiederholen muß, sofern - wie im Beschwerdefall - aus dem Spruch des erstinstanzlichen Straferkenntnisses in Verbindung mit dem Spruch des Berufungsbescheides eindeutig die dem Beschuldigten zur Last gelegte Tat hervorgeht (vgl. das h. g. Erkenntnis vom 22. November 1984, Zl. 83/02/0493). Dem Vorbringen, der erstinstanzliche und der angefochtene Bescheid würden keine konkreten Zeitangaben enthalten, ist zu entgegnen, daß das Straferkenntnis sehr wohl im Spruch die Tatzeit "am 14.12.1982, um 23.30 Uhr" anführt. Auch der angefochtene Bescheid enthält durch die teilweise Neuformulierung des Spruches die Tatzeit "am 14. Dezember 1982, gegen 23.30 Uhr". Der Verwaltungsgerichtshof kann trotz der großen Zahl der dem Beschwerdeführer angelasteten Verwaltungsübertretungen nicht finden, die Tatzeit sei nicht hinreichend im Sinne des § 44 a lit. a konkretisiert. Der Beschwerdeführer hat selbst nicht behauptet, er sei durch die gewählte Zeitangabe in seinen Verteidigungsrechten beeinträchtigt worden.

Der Beschwerdeführer hat sich schon im Verwaltungsstrafverfahren darauf berufen, er habe infolge eines Unfalles in seinem Betrieb, bei dem ihm bei diversen Arbeiten ein Plastikkübel mit Farbe mit einem Gewicht von ca. 20 bis 30 kg von einem Regal auf dem Kopf gefallen sei, um etwa 23.00 Uhr des Tattages eine sehr schwere Gehirnerschütterung erlitten. Ab diesem Zeitpunkt (23.00 Uhr) habe er keine Erinnerung mehr an die Vorfälle dieses Tages. Die Erinnerung habe erst wieder eingesetzt, als er zwei oder drei Stunden später in einem Rettungsfahrzeug in das Lorenz Böhler Krankenhaus transportiert worden sei. Er habe daher auf Grund der Gehirnerschütterung nach dem Unfall um 23.00 Uhr im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit die ihm angelasteten Verwaltungsübertretungen (möglicherweise) begangen.

Der Beschwerdeführer behauptet mit diesem Vorbringen eine Zurechnungsunfähigkeit im Sinne des § 3 Abs. 1 VStG 1950 zur Tatzeit. Nach dieser Gesetzesstelle ist nicht strafbar, wer zur Zeit der Tat u.a. wegen Bewußtseinsstörung unfähig war, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder dieser Einsicht gemäß zu handeln. Die Zurechnungsfähigkeit bildet demnach eine unbedingte Voraussetzung der Strafbarkeit. Ob aber von einer mangelnden Zurechnungsfähigkeit zur Tatzeit ausgegangen werden kann, kann - wenn Indizien in dieser Richtung vorliegen - nur durch ein medizinisches Sachverständigengutachten hinreichend geklärt werden (vgl. das hg. Erkenntnis vom 20. November 1986, Zl. 86/02/0110). Die Behörden des Verwaltungsstrafverfahrens haben im vorliegenden Beschwerdefall derartige Gutachten des Chefarztes der Bundespolizeidirektion Wien, Dr. B. eingeholt.

Das Gutachten vom 16. Mai 1983 lautet:

"Laut Befundbericht des Lorenz Böhler Krankenhauses erlitt K. eine Gehirnerschütterung sowie eine Verstauchung der HWS. Die Verletzung zog er sich durch einen herabfallenden Eimer im Gewicht von 20 bis 30 kg zu. Zeitpunkt der Verletzung war etwa 23.00 Uhr.

Für diesen Zeitpunkt ist eine retrograde Amnesie glaubhaft."

Am 29. November 1983 wurde folgendes ergänzende Gutachten erstattet:

"Wie bereits in der Stellungnahme vom 16.5.1983 ausgeführt, erlitt der BW durch den herabfallenden Farbkübel eine leichte Gehirnerschütterung, die eine retrograde Amnesie für den Zeitpunkt dieses Ereignisses um 23.00 Uhr möglich erscheinen läßt. Daß die Gehirnerschütterung leicht war, ist aus dem raschen Entlassungstermin aus dem Lorenz Böhler Krankenhaus, sowie aus den Aussagen des behandelnden Arztes Dr. F. abzuleiten.

Für den Zeitpunkt nach diesem Unfall ist weder ein Anhalt für eine retrograde Amnesie, noch ein die Zurechnungsfähigkeit auszuschließenden Zustand anzunehmen."

Der den Beschwerdeführer behandelnde Arzt Dr. F. gab am 8. November 1983 zeugenschaftlich vernommen u.a. folgendes an:

"Ich kann mich an den Angezeigten erinnern. Er kam damals im Dezember glaubl. in meine Ordination. Er brachte mir einen Befund des Lorenz Böhler Krankenhauses, in dem als Diagnose eine Gehirnerschütterung angeführt war. Er hat mir erklärt, daß er sich über den Vorfall, der zu dieser Gehirnerschütterung führte nicht erinnern könne. Er leide an Kopfschmerzen. Ich habe ihm keine Medikamente verschrieben nach meiner Erinnerung, sondern nur geraten, nichts zu rauchen, Alkohol zu meiden und auch das Fernsehen zu meiden. Ich habe ihn zu einer Kontrolle bestellt, zu der er auch erschienen ist. Es war zwar eine Besserung eingetreten, doch hat er noch immer über Kopfschmerzen geklagt. Der Patient war nur diese beiden Male in meiner Ordination. ... "

In der Begründung des angefochtenen Bescheides vertrat die belangte Behörde unter anderem den Standpunkt, die Schlußfolgerung des Beschwerdeführers, wonach auf Grund seiner bei Dr. F. bekundeten Kopfschmerzen eine schwere Gehirnerschütterung abzuleiten sei, sei medizinisch durch nichts belegt. Der Polizeichefarzt sei diesem Standpunkt auch nicht gefolgt. Wörtlich heißt es im angefochtenen Bescheid:

"Auch wenn der Diagnose 'commotio cerebri' tatsächlich der vom Berufungswerber vermißte Zusatz 'levis' nicht hinzugefügt war, vermag die Annahme einer nicht leichten Gehirnerschütterung seine Zurechnungsunfähigkeit nicht darzutun. Der Berufungswerber übersieht völlig, daß eine schwere Gehirnerschütterung nur dann mit Gedächtnisverlust verbunden ist, wenn Bewußtlosigkeit dem Trauma folgt. Von einer solchen Bewußtlosigkeit war aber nie die Rede. Folglich erscheint auch der Gedächtnisverlust auszuscheiden. ... Selbst unter der Annahme, daß dem Berufungswerber besagter Kübel auf den Kopf gefallen ist, ist daraus eine schwere Gehirnerschütterung nicht zwingend abzuleiten, kommt es doch darauf an, aus welcher Höhe und in welchem Winkel der Kübel auftraf, ob der Getroffene auswich etc. Trotzdem seine Amnesie angeblich bis zu vier Tagen dauern konnte, wäre der Berufungswerber nach seinen Angaben imstande gewesen, mit einer Stationsschwester Gespräche über seine Entlassung aus dem Spital zu führen. Letzere Behauptung widerlegt nach dem Dafürhalten der erkennenden Behörde erstere, weil die letztere Behauptung ein durchaus orientiertes Verhalten an den Tag zu legen scheint, hätte der Berufungswerber doch nicht vergessen, daß er wegen Arbeitsüberlastung nach Hause müsse und hätte der Berufungswerber aus der angeblichen Auskunft der Schwester einen orientierten Entschluß, nämlich den der Flucht aus den Krankenhaus, gezogen. Da auf Grund der Erhebungen auszuschließen war, daß die behauptete retrograde Amnesie zur Tatzeit vorgelegen ist, war auch ein gerichtsmedizinischer Sachverständiger aus dem Gebiet der Unfallchirurgie nicht zu bestellen, war nicht beim Lorenz Böhler Krankenhaus anzufragen, ob eine leichte Gehirnerschütterung nicht primär ambulant behandelt würde und ob bei konstatierter leichter Gehirnerschütterung der Vermerk "commotio ceribri levis" in die Krankengeschichte aufgenommen würde. Überhaupt ist zu konstatieren, daß ein etwaiger Gedächtnisverlust durch Gehirnerschütterung doch die Zeit bis zum Trauma betrifft, aber nicht die Zeit danach. Dementsprechend kann der Berufungswerber doch gar nicht sein Erinnerungsvermögen hinsichtlich der Zeit nach dem angeblichen Unfall mit dem Kübel verloren haben und müßte er sich an die nachfolgenden Ereignisse, im speziellen an den der Anzeige zugrundeliegenden Sachverhalt erinnern können. Die Unzurechnungsfähigkeitseinrede des Berufungswerbers ist widerlegt und als Schutzbehauptung anzusehen."

In Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch mit klinischen Syndromen und Nomina Anatomica, 255. Auflage, Walter de Gruyter, Berlin - New York, 1986, wird zu Amnesie folgendes ausgeführt:

"AMNESIE (GR mnesis Erinnerung)f: Form d.

Gedächtnisstörung; Erinnerungslücke, Erinnerungsstörung, zeitl. od. inhaltl. begrenzte Gedächtnislücke; meist nach Bewußtseinsstörungen u. symptomat. Psychosen, aber auch funktional bei Hirntraumen, epilept. Anfälle, Intoxikationen.

ANTEROGRADE A.: Gedächtnislücke f. eine best. Zeit nach dem Erwachen aus der Bewußtlosigkeit; dabei sind die Pat. scheinbar ansprechbar, reagieren u. reden auch scheinbar sinnvoll u. richtig. Hinterher sind sie aber auch für diese Zeit amnestisch. Bedeutsam für Unfälle, bes. bei SHT. KONGRADE A.:

Gedächtnislücke für d. Zeit der eigentl. Bewußtlosigkeit.

PSYCHOGENE A.: durch (meist) unbewußte Verdrängung unangenehmer Erinnerungen bei abnormen Erlebnisreaktionen, also inhaltliche

A. RETROGRADE A.: Gedächtnislücke für einen Zeitraum vor Eintreten der Bewußtlosigkeit, sekunden- bis tagelang. Die Kenntnis u. Differenzierung der A. im obigen Sinne ist für d. Beurteilung des Schweregrades eines SHT von großer Bedeutung."

Aus dieser Darstellung ist erkennbar, daß u.a. zwischen einer Gedächtnislücke für eine Zeit VOR dem auslösenden Ereignis und einer solchen für eine Zeit NACH dem auslösenden Ereignis zu unterscheiden ist. Für den Beschwerdefall bedeutet das, daß sich eine retrograde Amnesie auf die Zeit, vor der dem Beschwerdeführer der Kübel auf dem Kopf gefallen sein soll, bezieht, für die Zeit nach diesem auslösenden Ereignis, somit auch für die Tatzeit 23.30 Uhr, wäre nur eine anterograde Amnesie möglich. Wie dem Inhalt der Beschwerde zu entnehmen ist, behauptet der Beschwerdeführer bloß das Vorliegen einer Gedächtnislücke für die Zeit, NACH der ihn der Kübel am Kopf getroffen habe, somit auch zur Tatzeit 23.30 Uhr. Dies bedeutet, daß sich der Beschwerdeführer mit dem Vorliegen einer ANTEROGRADEN Amnesie verantwortet. Die Behörde hat jedoch nur das Vorliegen einer retrograden Amnesie geprüft. Das Gutachten vom 16. Mai 1983 hält für den Zeitpunkt der Verletzung (etwa 23.00 Uhr) eine RETROGRADE Amnesie für glaubhaft. Es kann jedoch nicht von vorherein ausgeschlossen werden, daß die Folge der Verletzung auch eine anterograde Amnesie hätte sein können, wie der Beschwerdeführer behauptet. Das Gutachten sagt jedoch über die Zeit nach 23.00 Uhr nichts aus. Im Ergänzungsgutachten vom 29. November 1983 wird zwar etwas über die Zeit nach dem Unfall ausgeführt; es heißt dort: "Für den Zeitpunkt nach diesem Unfall ist weder ein Anhalt für eine retrograde" (richtig wohl: anterograde) "Amnesie, noch ein die Zurechnungsfähigkeit auszuschließenden Zustand anzunehmen", doch ist nicht erkennbar, auf Grund welcher Fakten und Überlegungen der Sachverständige zu dieser Schlußfolgerung gekommen ist.

Weiters sind manche Ausführungen im Berufungsbescheid durch Sachverständigengutachten überhaupt nicht gedeckt und stehen außerdem mit der medizinischen Wissenschaft im Widerspruch. So heißt es im Berufungsbescheid wörtlich: "Überhaupt ist zu konstatieren, daß ein etwaiger Gedächtnisverlust durch Gehirnerschütterung doch die Zeit bis zum Trauma betrifft, aber nicht die Zeit danach". Aus den oben zitierten Stellen der medizinischen Fachliteratur ergibt sich jedoch, daß auch die Möglichkeit des Verlustes des Erinnerungsvermögens für Ereignisse NACH dem auslösenden Geschehen besteht. Weiters meint die Behörde, die Tatsache, daß der Beschwerdeführer im Spital ein durchaus "orientiertes Verhalten" an den Tag gelegt habe, spreche gegen eine Amnesie. Dem ist entgegenzuhalten, daß es gerade charakteristisch für eine anterograde Amnesie ist, daß die Patienten scheinbar ansprechbar sind und richtig und sinnvoll reden und reagieren.

Die Sachverhaltsermittlung ist daher in wesentlichen Punkten, insbesondere zur wesentlichen Frage des Gedächtnisverlustet NACH dem Unfall um 23.00 Uhr ergänzungsbedürftig und erweist sich die Beweiswürdigung der belangten Behörde als unschlüssig. Der Bescheid ist daher hinsichtlich aller Verwaltungsübertretungen mit einer Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet.

2. Der angefochtene Bescheid ist aber auch hinsichtlich folgender Verwaltungsübertretungen mit einer Rechtswidrigkeit des Inhaltes belastet, gegenüber welcher die oben aufgezeigte Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften in den Hintergrund tritt.

2.1. Zur Verwaltungsübertretung nach § 97 Abs.5 StVO 1960:

Gemäß § 97 Abs. 5 StVO 1960 (StVO), in der auf den vorliegenden Beschwerdefall anzuwendenden Fassung vor der 10. und der 11. StVO-Novelle, sind die Organe der Straßenaufsicht berechtigt, durch deutlich sichtbare Zeichen Fahrzeuglenker zwecks Lenker- oder Fahrzeugkontrolle oder anderer den Fahrzeuglenker betreffenden Amtshandlungen zum Anhalten aufzufordern. Der Fahrzeuglenker hat der Aufforderung Folge zu leisten.

Gemäß § 44 a lit. a VStG 1950 hat der Spruch, wenn er nicht auf Einstellung lautet, die als erwiesen angenommene Tat zu enthalten. Entsprechend der zitierten Gesetzesstelle muß die einem Beschuldigten angelastete Tat so umschrieben sein, daß die Tatumschreibung alle wesentlichen Tatbestandselemente beinhaltet. Im Straferkenntnis vom 9. Juni 1983 wurde die in Rede stehende Tat wie folgt umschrieben "... 2. bei der Kreuzung Sterngasse - Auffahrt A 23 die deutlich sichtbaren Haltezeichen mittels Anhaltestab (Rotlicht) eines Wacheorganes nicht beachtet, hat das Kfz gewendet und ist in Richtung Draschegasse weitergefahren". Die Berufungsbehörde hat diesen Spruchteil - wie in der Sachverhaltsdarstellung wiedergegeben - neu formuliert. Sie hat es hiebei unterlassen, das wesentliche Tatbestandsmerkmal des § 97 Abs. 5 StVO, daß das in Rede stehende Zeichen von einem Organ der Straßenaufsicht gegeben worden ist, anzuführen. Aus diesem Grund ist der angefochtene Bescheid daher, soweit der Beschwerdeführer im Instanzenzug der Begehung der unter Punkt 2. genannten Verwaltungsübertretung schuldig befunden worden ist, mit einer Rechtswidrigkeit des Inhaltes belastet.

2.2. Zur Verwaltungsübertretung nach § 9 Abs. 1 in Verbindung mit § 99 Abs. 3 lit. a StVO:

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 9 Abs. 1 StVO, in der Fassung vor der 13. StVO Novelle, BGBl. Nr. 105/1986, drücken Sperrlinien ein Verkehrsverbot im Sinne des § 43 Abs. 1 lit. b leg. cit. aus und bedürfen nach dieser Gesetzesstelle zu ihrer Rechtswirksamkeit einer Verordnung der Behörde. Läßt sich der Inhalt einer Verordnung im Sinne des § 43 StVO durch Straßenverkehrszeichen nicht ausdrücken, wie dies bei einer Sperrlinie der Fall ist, dann muß diese auf die im § 44 Abs. 2 und 3 leg. cit. bezeichnete Weise kundgemacht werden (vgl. das hg. Erkenntnis vom 13. Juni 1986, Zl. 85/18/0374 und die dort zitierte Vorjudikatur).

Auf hg. Aufforderung legte die belangte Behörde Pläne vor, die den Tatort - die Auffahrt auf die A 23 - bzw. dessen Umgebung darstellen. Weiters legte sie die "Verordnung des Bundesministers für Handel, Gewerbe und Industrie, GZ. 184.233-II/19-70" samt Verkehrszeichenplan vor. Allerdings mangelt es nach dem Inhalt der Verordnungsakten an einer Kundmachung dieser Verordnung des Bundesministers auf die im § 44 Abs. 2 StVO bezeichnete Weise, nämlich im Bundesgesetzblatt. Aufgrund der fehlenden Kundmachung konnte die Verordnung keine rechtliche Wirksamkeit entfalten. Der Beschwerdeführer durfte daher nicht wegen des Überfahrens der gegenständlichen Sperrlinie bestraft werden. Aus diesem Grund war der angefochtene Bescheid hinsichtlich dieses Punktes ebenfalls mit einer Rechtswidrigkeit seines Inhalt belastet.

2.3. Zur Verwaltungsübertretung nach § 38 Abs. 5 in Verbindung mit § 38 Abs. 1 lit. a StVO:

Wie der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 8. Mai 1987, Slg. Nr. N.F. 12466/A, unter Hinweis auf seine Vorjudikatur ausgeführt hat, bedurfte nach der Rechtslage vor dem Inkrafttreten der 13. StVO Novelle, somit auch zum Tatzeitpunkt 14. Dezember 1982, eine Haltelinie, damit sie für die Verkehrsteilnehmer verbindlich ist, einer verordnungsmäßigen Grundlage. Eine solche Verordnung konnte die belangte Behörde trotz hg. Aufforderung nicht vorlegen, sodaß davon auszugehen ist, daß die Haltelinie einer verordnungsmäßigen Grundlage entbehrt. Daher hat den Beschwerdeführer nicht vorgeworfen werden dürfen, diese Haltelinie mißachtet zu haben.

Der Spruch des angefochtenen Berufungsbescheides enthält nun aber nicht nur den Vorwurf, der Beschwerdeführer habe nicht an der Haltelinie angehalten, sondern auch jenen, trotz Rotlichtes nach rechts in die Draschestraße eingebogen zu sein. Daraus ergibt sich unmißverständlich, daß der Beschwerdeführer trotz Rotlichtes in die Kreuzung eingefahren ist. Der dem Beschwerdeführer angelastete Teil des Tatvorwurfes, er sei trotz Rotlichtes in die Draschestraße eingebogen, wäre (ausschließlich) dem § 38 Abs. 5 StVO zu unterstellen (vgl. dazu das hg. Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 8. Mai 1987, Slg. N.F. Nr. 12466/A). Die Subsumtion der dem Beschwerdeführer angelasteten Tat AUCH unter den - wie oben ausgeführt - dem Beschwerdeführer nicht vorzuwerfenden Tatbestand des § 38 Abs. 1 lit. a StVO belastet den angefochtenen Bescheid auch hinsichtlich dieses Punktes wegen Verstoßes gegen § 44a lit. b VStG 1950 mit einer Rechtswidrigkeit seines Inhaltes (vgl. das hg. Erkenntnis vom 7. Juli 1989, Zl. 85/18/0175).

3. Zu den Verwaltungsübertretungen nach § 4 StVO:

Der Beschwerdeführer verkennt mit seinem Vorbringen, eine Bestrafung nach § 4 Abs 1 lit. a StVO sei nicht zurecht erfolgt, weil er nach der Kollision mit dem anderen Fahrzeug im Zuge des Reversierens bzw. Zurückschiebens angehalten habe und erst dann wieder nach vorne weitergefahren sei, die Rechtslage. "Anhalten" im Sinne des § 4 Abs. 1 lit. a StVO ist nicht dem "Anhalten" im Sinne des § 2 Abs. 1 Z. 26 leg. cit. gleichzuhalten. Die Anordnung des § 4 Abs. 1 lit. a leg. cit., das Fahrzeug sofort anzuhalten, hat den Zweck, daß der Lenker, nachdem er sich vom Ausmaß des Verkehrsunfalles überzeugt hat, die gesetzlich vorgeschriebenen Maßnahmen, so insbesondere die nach § 4 Abs. 1 lit. b und c, Abs. 2 und 5 StVO vorgesehenen, trifft. Daraus folgt, daß der mit einem Verkehrsunfall in ursächlichem Zusammenhang stehende Lenker eines Kraftfahrzeuges der Anhaltepflicht nicht schon dadurch nachkommt, daß er das Fahrzeug kurzfristig an der Unfallstelle zum Stillstand bringt, im übrigen aber - ohne sich um die gesetzlich vorgeschriebenen Maßnahmen zu kümmern - mit dem Fahrzeug die Unfallstelle wieder verläßt (vgl. das h.g. Erkenntnis vom 21. Dezember 1988, Zl. 88/18/0336 und die dort zitierte Vorjudikatur). Das vom Beschwerdeführer behauptete bloße "unfallsbedingte Anhalten" kann daher nicht mit dem "Anhalten" im Sinne des § 4 Abs. 1 lit. a StVO gleichgesetzt werden.

Das übrige Vorbringen, die Verwaltungsübertretungen nach § 4 StVO betreffend, fällt unter das im verwaltungsgerichtlichen Verfahren geltende Neuerungsverbot des § 41 Abs. 1 VwGG. Es war daher auf diese Ausführungen nicht näher einzugehen.

4. Zur Strafbemessung:

Zur Rüge des Beschwerdeführers, die belangte Behörde habe die verhängte Strafe unrichtig bemessen, weil sie über seine Einkommens- und Sorgepflichten keine Feststellungen getroffen, sondern sich lediglich auf Vermutungen gestützt habe, ist zu bemerken, daß der Beschwerdeführer im Verwaltungsverfahren trotz Aufforderung seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse sowie seine Sorgepflichten nicht bekanntgegeben hat. Wenn daher die belangte Behörde bei der Bemessung der Strafe von angenommenen unterdurchschnittlichen Einkommensverhältnissen, Vermögenslosigkeit und Fehlen einer gesetzlichen Sorgepflicht ausgegangen ist und unter Berücksichtigung des Umstandes, daß dem Beschwerdeführer der Milderungsgrund der verwaltungsrechtlichen Unbescholtenheit nicht mehr zukommt, die Strafen im unteren Drittel der Strafrahmen angesetzt hat, dann hat sie dabei durchaus im Rahmen ihres Ermessens gehandelt.

5. Der angefochtene Bescheid war somit hinsichtlich der dem Beschwerdeführer mit den Spruchpunkten 2., 7. und 9. zur Last gelegten Verwaltungsübertretungen nach § 97 Abs. 5, 9 Abs. 1 und 38 Abs. 5 in Verbindung mit 38 Abs. 1 lit. a StVO wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Ziffer 1 VwGG aufzuheben. In Ansehung der übrigen Verwaltungsübertretungen war der Bescheid wegen Rechtswidrigkeit infolge von Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Ziffer 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Hinsichtlich der zitierten nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlichten Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes wird an Artikel 14 Abs. 4 der hg. Geschäftsordnung BGBl. Nr. 45/1965 erinnert.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 206/1989. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil dem Beschwerdeführer als Ersatz für Stempelgebühren lediglich der Betrag von S 450,-- (je S 120,-- für zwei Ausfertigungen der Beschwerde, S 120,-- für eine Vollmacht und S 90,-- für eine Ausfertigung des angefochtenen Bescheides) zuzusprechen war.

Schlagworte

Beweismittel Sachverständigenbeweis Medizinischer SachverständigerAlkotest VerweigerungSachverständiger Erfordernis der Beiziehung ArztVerfahrensbestimmungen Beweiswürdigung AntragVerwaltungsvorschrift Mängel im Spruch falsche Subsumtion der TatVerweisung auf die Entscheidungsgründe der ersten InstanzBesondere verfahrensrechtliche Aufgaben der Berufungsbehörde Spruch des Berufungsbescheides

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1990:1985180174.X00

Im RIS seit

12.06.2001

Zuletzt aktualisiert am

02.03.2009
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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