TE Vfgh Erkenntnis 1987/11/26 B797/87, B798/87, B799/87, B800/87

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Veröffentlicht am 26.11.1987
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Index

10 Verfassungsrecht
10/10 Grundrechte, Datenschutz, Auskunftspflicht

Norm

StGG Art8
PersFrSchG §4
StPO §177 Abs1 Z2

Leitsatz

Festnahmen im Dienste der Strafjustiz nach §177 Abs1 iVm §175 Abs1 StPO wegen Gefahr im Verzug; trotz gegebenen Möglichkeit nicht einmal versuchtes Einholen eines richterlichen Haftbefehles; Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit

Spruch

Die Bf. sind dadurch, daß sie am 11. Juli 1987 gegen

16.45 Uhr von Beamten des Gendarmeriepostenkommandos Kitzbühel festgenommen und bis zur Verhängung der Untersuchungshaft nach

19.10 Uhr dieses Tages in Haft gehalten wurden, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den bf. Parteien zu Handen des Bf. die mit je S 11.000,-bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. In den auf Art144 B-VG gestützten (gleichlautenden) Beschwerden wird vorgebracht, die vier Bf. seien auf Grund des Verdachtes, am 11. Juli 1987 um etwa 13.00 Uhr den ägyptischen Staatsbürger R H A in Wörgl geschlagen und beraubt zu haben, gegen

16.45 Uhr dieses Tages in Kitzbühel von Beamten des Gendarmeriepostenkommandos Kitzbühel ohne richterlichen Befehl festgenommen worden. Hiebei hätten sich die Beamten auf die angeblich vorliegenden Haftgründe der Flucht- und Verdunkelungsgefahr gestützt, welcher Umstand auch in der schriftlichen Stellungsanzeige des Gendarmeriepostenkommandos Wörgl an die Staatsanwaltschaft Innsbruck vom 11. Juli 1987 festgehalten sei. Sowohl in den Räumlichkeiten, in welchen die Bf. verhaftet wurden, als auch in den Gendarmeriepostenkommanden Wörgl und Kitzbühel sei ein Telefon installiert. Es sei daher jederzeit der diensthabende Journalstaatsanwalt oder Journalrichter des Landesgerichts Innsbruck sowie der Gerichtsvorsteher des Bezirksgerichts Kitzbühel - dieser wohne im alten Gerichtsgebäude - telefonisch erreichbar gewesen. Eine derartige telefonische Kontaktaufnahme sei jedoch nicht durchgeführt worden. Auch am Gendarmeriepostenkommando Wörgl, wohin die Bf. etwas später gebracht worden seien, sei jedenfalls bis 19.10 Uhr dieses Tages weder ein Richter noch ein Staatsanwalt kontaktiert worden; selbst ein darauf abzielender Versuch sei nicht unternommen worden. Die Bf. seien zudem nach ihrer Verhaftung gegen ihren Willen durchsucht worden.

Die Bf. begehren die kostenpflichtige Feststellung, durch die angefochtenen Handlungen in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Freiheit der Person und auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden zu sein.

2. Die Bezirkshauptmannschaft Kitzbühel als bel. Beh. erstattete zu den vier anhängigen Beschwerden im wesentlichen gleichlautende Gegenschriften, in denen sie die Rechtmäßigkeit der in Beschwerde gezogenen Handlungen verteidigte. Die hier vollständig wiedergegebene Gegenschrift wurde im zu B797/87 protokollierten Verfahren erstattet:

"I. SACHVERHALTSDARSTELLUNG:

Die ägyptischen Staatsangehörigen S G A G, M A G, A M F M S und H H H A fuhren am 11. Juli 1987, vermutlich gegen Mittag, mit dem PKW des G nach Wörgl zur Unterkunft ihres Landmannes R H A in der B-Str. ...

Dort griffen sie A tätlich an.

G durchsuchte noch das Zimmer des A nach Bargeld, wobei er sich

S 6.000,-- aus einer unversperrten Schublade des Nachtkästchens aneignete. Beim Erscheinen des Zimmernachbarn ließen die Täter von A ab und flüchteten. A wurde bei den tätlichen Angriffen leicht verletzt. Am Zimmerinventar entstand leichter Sachschaden. Um 13.10 Uhr wurde das Gendarmeriepostenkommando Wörgl telefonisch von den Ereignissen verständigt. Um 13.20 Uhr trafen 2 Beamte am Tatort ein. Zu diesem Zeitpunkt war nur mehr A anwesend. Auf Grund der umfangreichen Ermittlungen waren die Täter bekannt und wurde die Fahndung nach ihnen eingeleitet. Um 16.45 Uhr trafen Bez.Insp. P und Insp. M vom GPK Kitzbühel die vier Verdächtigen G, G, A und S in der Wohnung des G in Kitzbühel ... an. Dort wurden sie sofort wegen Verdachtes des schweren Raubes bei bestehender Flucht- und Verabredungsgefahr festgenommen. Weiters erfolgte eine Personendurchsuchung. Um 19.10 Uhr wurde Staatsanwalt Mag. W vom Sachverhalt in Kenntnis gesetzt. Dieser stellte den Antrag auf Einleitung der Voruntersuchung gegen die vier Verdächtigen wegen Verbrechens des schweren Raubes und auf Verhängung der Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr, dem der Untersuchungsrichter Dr. A vom Landesgericht Innsbruck stattgab. Außerdem wurde vom U-Richter die Einlieferung in das landesgerichtliche Gefangenenhaus nach Völs angeordnet.

II. RECHTLICHE BEURTEILUNG:

Gemäß §177 Abs1 Zif. 1 StPO kann die vorläufige Verwahrung des eines Verbrechens oder Vergehens Verdächtigten zum Zwecke der Vorführung vor den Untersuchungsrichter durch Organe der Sicherheitsbehörden ohne schriftliche Anordnung vorgenommen werden, wenn der Verdächtige unmittelbar nach Begehung eines Verbrechens oder Vergehens glaubwürdig der Täterschaft beschuldigt oder mit Gegenständen betreten wird, die vom Verbrechen oder Vergehen herrühren oder sonst auf seine Beteiligung daran hinweisen.

Weiters kann gemäß §177 Abs1 Zif. 2 StPO die vorläufige Verwahrung durch Organe der Sicherheitsbehörde ohne schriftliche Anordnung in den Fällen des §175 Abs1, Z. 2 bis 4 und Abs2 erfolgen, wenn die Einholung des richterlichen Befehls wegen Gefahr in Verzug nicht tunlich ist.

Nach Ansicht der bel. Beh. liegen die gesetzlichen Voraussetzungen für die erfolgte Verhaftung des G G vor. Gleich nach Einlangen der Anzeige wurden vom Gendarmerieposten Wörgl umfangreiche polizeiliche Erhebungen in die Wege geleitet. Auf Grund der Angaben des Geschädigten A und weiteren Auskunftspersonen waren G G sowie die Mittäter mit Sicherheit bekannt.

Um 16.45 wurden G sowie die übrigen Verdächtigen gemeinsam in der Wohnung des G angetroffen.

Es war nicht auszuschließen, daß die Täter Verabredungen treffen werden, die die Ermittlung des Sachverhaltes behindern, weiters, daß sie die abhanden gekommenen S 6.000,-- des A in Sicherheit bringen werden. Gefahr in Verzug war daher gegeben, die Einholung eines richterlichen Befehls untunlich, weshalb schon aus diesem Grund die Festnahme durch die Organe der Sicherheitsbehörde zu Recht erfolgte. Eine vorhergehende Kontaktaufnahme mit dem Untersuchungsrichter war wegen der Durchführung umfangreicher Erhebungen nicht zweckmäßig. Ohne entsprechendem Ermittlungsergebnis kann der Untersuchungsrichter keine Entscheidungen treffen. Die Vorgangsweise der einschreitenden Gendarmeriebeamten verletzt daher kein verfassungsmäßig gewährleistetes Recht. Gemäß §139 Abs1 StPO darf eine Hausdurchsuchung vorgenommen werden, wenn begründeter Verdacht vorliegt, daß sich daselbst Gegenstände befinden, deren Besitz oder Besichtigung für eine bestimmte Untersuchung von Bedeutung sein könne. Nach Abs2 derselben Gesetzesstelle ist gegen Personen, bei denen eine hohe Wahrscheinlichkeit für den Besitz solcher Gegenstände spricht oder die eines Verbrechens oder Vergehens verdächtig oder sonst übel berüchtigt sind, die Durchsuchung der Personen und ihrer Kleider zulässig. Die die Durchsuchung der Person und ihrer Kleider einschränkenden Bestimmungen der Strafprozeßordnung kommen einem Verhafteten gegenüber nicht in Betracht. Die Personsdurchsuchung eines Verhafteten ist eine durch die Rücksichtnahme auf die öffentliche Ordnung und Sicherheit gebotene reine Verwaltungsmaßregel. SSt 10/77

Die Personendurchsuchung erfolgte daher nach Ansicht der bel. Beh. zurecht.

Gemäß §177 Abs2 StPO ist der in Verwahrung Genommene durch den Richter oder die Sicherheitsbehörde unverzüglich zur Sache und zu den Voraussetzungen der Verwahrungshaft zu vernehmen und, wenn sich dabei ergibt, daß kein Grund zu seiner weiteren Verwahrung vorhanden sei, sogleich freizulassen, sonst aber binnen 48 Stunden dem zuständigen Gericht einzuliefern.

Um 19.10 Uhr stellte der Staatsanwalt den Antrag auf Verhängung der Untersuchungshaft gegen G G, dem der Untersuchungsrichter sofort Folge gab."

II. Der VfGH hat über die - zulässigen - Beschwerden erwogen:

1. Der VfGH nimmt auf Grund der Parteienvorbringen und der vorgelegten Verwaltungsakten folgenden Sachverhalt als erwiesen an:

Auf Grund einer telefonischen Anzeige begaben sich am 11. Juli 1987, 13.20 Uhr, zwei Beamte des Gendarmeriepostenkommandos Wörgl in die Wohnung des R H A in Wörgl, der angab, von den vier Bf. dieses Verfahrens unmittelbar zuvor tätlich angegriffen worden zu sein; im Zuge dieser Auseinandersetzung sei ihm ein Bargeldbetrag in der Höhe von S 6.000,-- gestohlen worden. Am Tatort meldete sich (ua.) der Zeuge O G, der angab, aus dem Zimmer des R H A Schreie gehört und unmittelbar darauf selbst wahrgenommen zu haben, daß drei Männer gegen diesen tätlich vorgingen. Um 16.45 Uhr dieses Tages trafen zwei Beamte des Gendarmeriepostenkommandos Kitzbühel die vier Bf. in der Wohnung des Erstbeschwerdeführers in Kitzbühel an. Dort wurden die Bf. wegen Verdachtes des schweren Raubes bei bestehender Flucht- und Verabredungsgefahr festgenommen und jeweils durchsucht. Kurz nach 19.10 Uhr desselben Tages wurde über die vier Bf. auf Antrag der Staatsanwaltschaft Innsbruck vom Untersuchungsrichter des Landesgerichts Innsbruck die Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr verhängt und die Einlieferung in das landesgerichtliche Gefangenenhaus angeordnet.

2. Der VfGH geht in rechtlicher Beurteilung des festgestellten Sachverhaltes unter dem Blickwinkel der geltend gemachten Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf persönliche Freiheit davon aus, daß die Bf. im Dienste der Strafjustiz ohne Vorliegen eines richterlichen Haftbefehls festgenommen und verwahrt wurden. Es ist daher zu prüfen, ob diese Freiheitsbeschränkung nach §177 (§10 Z1) StPO iVm §175 StPO zulässig war. Gemäß §177 Abs1 (§10 Z1) StPO darf die vorläufige Verwahrung einer Person, die eines Verbrechens oder eines - nicht den Bezirksgerichten zur Aburteilung zugewiesenen - Vergehens verdächtig ist, in den hier allein in Betracht kommenden Fällen des §175 Abs1 Z2 bis 4 und Abs2 StPO (s. §177 Abs1 Z2 StPO) zum Zwecke der Vorführung vor den Untersuchungsrichter ausnahmsweise auch durch Organe der Sicherheitsbehörden ohne schriftliche Anordnung vorgenommen werden, wenn die Einholung eines richterlichen Befehls wegen Gefahr im Verzug nicht tunlich ist.

Für die Prüfung der Frage, ob Gefahr im Verzug besteht, gilt ein strenger Maßstab: Von der Regel, daß ein richterlicher (Haft-)Befehl einzuholen ist, darf nur in besonderen Fällen, dh. wenn besondere Umstände eine Einholung nicht erlauben, abgegangen werden (vgl. VfSlg. 8680/1979). Untunlich - wegen Gefahr in Verzug - ist die Einholung eines richterlichen Befehls im allgemeinen dann nicht, wenn mit dem Untersuchungsrichter des zuständigen Gerichts während der Dienst- und Journaldienststunden unverzüglich eine fernmündliche Verbindung hergestellt werden kann (VfSlg. 4450/1963, 4624/1963).

Diese Möglichkeit war hier gegeben. Es steht fest, daß vor der Festnahme der Bf. um 16.45 Uhr nicht einmal der Versuch unternommen wurde, mit dem Untersuchungsrichter des Landesgerichts Innsbruck (oder dem Gerichtsvorsteher des Bezirksgerichtes Kitzbühel) in Verbindung zu treten. Vor Festnahme der Bf. an Ort und Stelle hätten die amtshandelnden Beamten des Gendarmeriepostenkommandos Kitzbühel ohne weiteres an die genannten richterlichen Organe herantreten können, um sogleich einen richterlichen (Haft-)Befehl einzuholen. Erst nach allfälligem Fehlschlagen eines - vor der Festnahme der Bf. zu unternehmenden - Versuches, mit dem zuständigen Untersuchungsrichter des Landesgerichts Innsbruck oder dem Gerichtsvorsteher des Bezirksgerichtes Kitzbühel - allenfalls dem Journaldienst versehenden Untersuchungsrichter des Landesgerichtes Innsbruck - das Einvernehmen zu pflegen, hätten die Gendarmeriebeamten selbständig zu prüfen gehabt, ob die (übrigen) gesetzlichen Bedingungen für eine Verhaftung vorlagen (vgl. VfSlg. 4624/1963, 8377/1978, 9701/1983, 9862/1983, 9934/1984).

Verfehlt in diesem Zusammenhang ist das Vorbringen der bel. Beh. in der Gegenschrift, daß eine "vorhergehende Kontaktaufnahme mit dem Untersuchungsrichter... wegen der Durchführung umfangreicher Erhebungen nicht zweckmäßig" war. "Ohne entsprechendem Ermittlungsverfahren" - so die bel. Beh. "kann der Untersuchungsrichter keine Entscheidungen treffen." Die vorgelegten Verwaltungsakten zeigen, daß den Ermittlungen am Tatort keine weiteren Erhebungen folgten. Überdies behauptet die bel. Beh. selbst nicht, daß weitergehende Ermittlungen tatsächlich durchgeführt wurden.

3. Die Verhaftung ging demnach nicht gesetzmäßig vonstatten; die Voraussetzungen des §4 des Gesetzes zum Schutze der persönlichen Freiheit, wonach die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt eine Person nur in den vom Gesetz bestimmten Fällen in Verwahrung nehmen dürfen, treffen nicht zu. Die Bf. wurden somit - Art8 StGG schützt vor rechtswidriger Verhaftung - in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt.

Ob die bekämpfte Amtshandlung auch noch in anderer Beziehung verfassungswidrig war, braucht unter den gegebenen Umständen nicht untersucht zu werden.

4. Im Hinblick auf die - oben getroffene - Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Festnahme und Anhaltung der Bf. erübrigt sich ein Eingehen auf das Beschwerdevorbringen bezüglich der Modalitäten (Personendurchsuchung) dieser Anhaltung (VfSlg. 10229/1984).

5. Die Entscheidung über den Kostenersatz beruht auf §88 VerfGG 1953. Im zugesprochenen Kostenersatz sind je

S 1.000,-- USt enthalten.

6. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Festnehmung, Strafrecht, Strafprozeßrecht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1987:B797.1987

Dokumentnummer

JFT_10128874_87B00797_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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