TE Vfgh Erkenntnis 1988/12/7 G73/88, G212/88, G230/88, V15/88, V181/88, V204/88

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Veröffentlicht am 07.12.1988
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Index

62 Arbeitsmarktverwaltung
62/01 Arbeitsmarktverwaltung

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
NotstandshilfeV, BGBl 352/1973 §4
AlVG §36 Abs3

Leitsatz

ArbeitslosenversicherungsG, §36 Abs3 lita sublit. c; V des Bundesministers für Soziale Verwaltung betreffend Richtlinien für die Gewährung der Notstandshilfe,BGBl. 352/1973, §4 Abs1 lit b; unterschiedliche Behandlung von männlichen und weiblichen ASt. auf Gewährung von Notstandshilfe gleichheitswidrig; im Hinblick auf ihren zeitlichen Geltungsbereich Aufhebung als verfassungs- bzw. gesetzwidrig

Spruch

1. §36 Abs3 litB sublit. c des Arbeitslosenversicherungsgesetzes 1977, BGBl. Nr. 609/1977, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 30. November 1989 in Kraft.

Frühere gesetzliche Vorschriften treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

2. §4 Abs1 litb der V des Bundesministers für soziale Verwaltung vom 10. Juli 1973 betreffend Richtlinien für die Gewährung der Notstandshilfe, BGBl. Nr. 352/1973 (Notstandshilfeverordnung), wird als gesetzwidrig aufgehoben.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 30. November 1989 in Kraft.

Der Bundesminister für Arbeit und Soziales ist zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Beim VwGH sind Verfahren zur Prüfung der Rechtmäßigkeit von im Instanzenzug ergangenen Bescheiden des Landesarbeitsamtes Wien und des Landesarbeitsamtes Steiermark anhängig, mit denen Anträgen auf Gewährung der Notstandshilfe mangels Notlage nicht Folge gegeben wurde. Die Behörden stützten ihre Bescheide unter anderem auf §4 Abs1 litb der Notstandshilfeverordnung, BGBl. 352/1973. Nach dieser Bestimmung sei eine Notlage nicht anzunehmen, wenn der Ehegatte (Lebensgefährte) einer Arbeitslosen im Vollverdienst stehe oder aus selbständiger Erwerbstätigkeit oder aus Kapitalbesitz ein zur Befriedigung der notwendigen Lebensbedürfnisse hinreichendes Einkommen erziele, es sei denn, daß besonders berücksichtigungswürdige Umstände, wie z.B. größere Kinderzahl, Krankheit in der Familie, geringer Verdienst trotz Vollarbeit, vorlägen. Die Anträge der Bf. wurden in zwei Fällen abgewiesen, da ihre Gatten im Vollverdienst stünden und besondere berücksichtigungswürdige Umstände im Sinne der zitierten Bestimmung der Notstandshilfeverordnung nicht vorlägen; in einem Fall gelangte die Behörde zur Abweisung, weil der Behörde die Notlage der Arbeitslosen nicht entsprechend nachgewiesen worden sei.

2. Aus Anlaß der bei ihm anhängigen Beschwerdeverfahren stellte der VwGH beim VfGH Anträge, §4 Abs1 litb der Notstandshilfeverordnung als gesetzwidrig sowie §36 Abs3 lit. B sublit. c des AlVG, BGBl. 609/1977, der die Grundlage der angefochtenen Bestimmung der Notstandshilfeverordnung bilde, als verfassungswidrig aufzuheben.

3. Die angefochtenen Bestimmungen stehen in folgendem rechtlichen Zusammenhang:

a) Gemäß §33 Abs1 AlVG kann Arbeitslosen, die den Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Karenzurlaubsgeld erschöpft haben, auf Antrag Notstandshilfe gewährt werden. Voraussetzung für die Gewährung der Notstandshilfe ist u.a., daß sich der Arbeitslose in Notlage befindet. Eine solche Notlage liegt gemäß §33 Abs4 AlVG vor, wenn dem Arbeitslosen die Befriedigung der notwendigen Lebensbedürfnisse unmöglich ist. In §36 leg.cit. wird der (nunmehrige) Bundesminister für Arbeit und Soziales ermächtigt, Richtlinien für die Gewährung der Notstandshilfe zu erlassen, in denen unter anderem auch die näheren Voraussetzungen festzulegen sind, unter denen Notlage als gegeben anzusehen ist. Durch §36 Abs3 leg.cit. ist dem Bundesminister aufgetragen, bei der Erlassung der Richtlinien das Einkommen des Arbeitslosen und das Einkommen der Angehörigen des Arbeitslosen zu beachten. Im Zusammenhang mit der Berücksichtigung des Einkommens der Angehörigen des Arbeitslosen bestimmt §36 Abs3 litB sublit. c AlVG in der für die Beurteilung der Anlaßfälle in den verwaltungsgerichtlichen Verfahren maßgeblichen, vom VwGH angefochtenen Stammfassung:

"Steht der Ehegatte (Lebensgefährte) einer Arbeitslosen im Vollverdienst oder ist er selbständig erwerbstätig oder hat er ein zur Befriedigung der notwendigen Lebensbedürfnisse hinreichendes Kapitaleinkommen, so ist Notlage nicht anzunehmen, es sei denn, daß besonders berücksichtigungswürdige Umstände vorliegen, wie z.B. größere Kinderzahl, Krankheit in der Familie, geringer Verdienst trotz Vollarbeit."

Mit der AlVG-Nov. BGBl. 615/1987 wurde diese Bestimmung mit Wirksamkeit vom 1. Juli 1988 aufgehoben; sie ist jedoch weiterhin auf alle Fälle anzuwenden, in denen der Anspruch auf Arbeitslosengeld und Karenzurlaubsgeld vor dem 1. Juli 1988 erschöpft wurde (ArtIII Abs3 der AlVG-Nov. BGBl. 615/1987).

b) Die auf der Ermächtigung des §36 AlVG beruhende Notstandshilfeverordnung enthält unter der Rubrik "Beurteilung der Notlage" unter anderem die Bestimmung des §4 Abs1, die im relevanten Zusammenhang lautet:

"Notlage ist nicht anzunehmen,

. . .

b) wenn der Ehegatte (Lebensgefährte) einer Arbeitslosen im Vollverdienst steht oder aus selbständiger Erwerbstätigkeit oder aus Kapitalbesitz ein zur Befriedigung der notwendigen Lebensbedürfnisse hinreichendes Einkommen erzielt, es sei denn, daß besonders berücksichtigungswürdige Umstände, wie z.B. größere Kinderanzahl, Krankheit in der Familie, geringer Verdienst trotz Vollarbeit, vorliegen."

Mit der V des Bundesministers für Arbeit und Soziales vom 23. Juni 1988, BGBl. 319/1988, mit der die Notstandshilfeverordnung geändert wurde, wurde diese Bestimmung mit Wirksamkeit vom 1. Juli 1988 aufgehoben; sie ist jedoch weiterhin für Personen anzuwenden, deren Anspruch auf Arbeitslosengeld bzw. Karenzurlaubsgeld vor dem 1. Juli 1988 erschöpft ist (ArtII Abs3 der V des Bundesministers für Arbeit und Soziales, BGBl. 319/1988).

4. Seine Anträge begründet der VwGH folgendermaßen:

"Der VwGH hat bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides diese Bestimmungen anzuwenden; sie sind daher insoweit präjudiziell.

Der VwGH hat gegen die genannten Bestimmungen die Bedenken, daß sie gegen das verfassungsgesetzliche Gleichheitsgebot verstoßen.

Nach den oben wiedergegebenen Regelungen ist eine Notlage (arg: nicht) anzunehmen, wenn der Ehegatte (Lebensgefährte) einer Arbeitslosen im Vollverdienst steht oder aus selbständiger Erwerbstätigkeit oder aus Kapitalbesitz ein zur Befriedigung der notwendigen Lebensbedürfnisse hinreichendes Einkommen erzielt, es sei denn, daß besonders berücksichtigungswürdige Umstände, wie z.B. größere Kinderzahl, Krankheit in der Familie, geringer Verdienst trotz Vollarbeit, vorliegen.

Daß eine Notlage nicht anzunehmen sei, wenn die Ehegattin (Lebensgefährtin) eines Arbeitslosen im Vollverdienst steht, oder aus selbständiger Erwerbstätigkeit oder aus Kapitalbesitz ein zur Befriedigung der notwendigen Lebensbedürfnisse hinreichendes Einkommen erzielt, ist in den genannten Bestimmungen nicht vorgesehen.

Für diese unterschiedliche Behandlung von männlichen und weiblichen Antragstellern auf Gewährung von Notstandshilfe vermag der VwGH keine sachliche Rechtfertigung zu erkennen (vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen von Dirschmied, Arbeitslosenversicherungsrecht, zu §36, insbesondere Pkt. 4.5.2., wonach die 'Vollverdienstklausel' seit der Neuordnung der Rechtswirkungen der Ehe als mit dem verfassungsgesetzlich festgelegten Gleichheitsgebot unvereinbar sei, da trotz bestehender gegenseitiger Unterhaltspflicht in der Ehe der Arbeitsverdienst der Ehepartner bezüglich des Notstandshilfeanspruches unterschiedlich behandelt werde).

Ein Ausgleich dieser Verfassungswidrigkeit im Wege der Auslegung durch Anwendung der in der gleichen Bestimmung enthaltenen Härteklausel erscheint angesichts des Zwecks dieser Härteklausel ebenso verfehlt wie der Versuch einer 'verfassungskonformen' Korrektur der Ausschlußklausel selbst über deren klaren Wortlaut hinweg. Der im Schrifttum (Dirschmied, a. a.O.) vertretenen Auffassung, daß eine solche Korrektur der Ausschlußregelung zulässig und geboten wäre, ist nicht beizustimmen, weil dabei die Grenzen erlaubter verfassungskonformer Auslegung überschritten und das verfassungsgerichtliche Normenkontrollmonopol in unzulässiger Weise beschränkt würden (vgl. Funk, Tomandl Verfassungsrechtliche Probleme der Arbeitslosenversicherung in: (Hrsg) Grundlegende Rechtsfragen der Arbeitslosenversicherung, 136)."

5.a) Im Gesetzesprüfungsverfahren hat die Bundesregierung mitgeteilt, sie habe beschlossen, im Hinblick auf die Vorjudikatur des VfGH von der Erstattung einer meritorischen Äußerung Abstand zu nehmen.

b) Unter Hinweis auf diese Mitteilung der Bundesregierung hat der Bundesminister für Arbeit und Soziales im Verordnungsprüfungsverfahren ebenfalls von der Abgabe einer meritorischen Stellungnahme abgesehen.

II. Der VfGH hat erwogen:

1. Nach dem vom VfGH in seiner ständigen Rechtsprechung zur Frage der Zulässigkeit von Gesetzes- und Verordnungsprüfungsanträgen von Gerichten entwickelten Beurteilungsmaßstab ist ein Antrag im Sinn der Art140 bzw. 139 B-VG nur dann mangels Präjudizialität zurückzuweisen, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, daß die angefochtene generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichts im Anlaßfall bildet (vgl. zB VfSlg. 10296/1984).

Daß dies für die Annahme des VwGH, er habe bei der Prüfung der bei ihm bekämpften Bescheide die angefochtenen Gesetzes- und Verordnungsstellen anzuwenden, nicht zutrifft, ist evident. Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, sind die Anträge des VwGH zulässig.

2. Die Anträge sind auch begründet:

Aus den angefochtenen Bestimmungen geht hervor, daß eine Notlage als Anspruchsvoraussetzung für die Gewährung von Notstandshilfe nicht anzunehmen ist, wenn der Ehegatte (Lebensgefährte) einer arbeitslosen Frau im Vollverdienst steht, selbständig erwerbstätig ist oder durch Kapitaleinkommen versorgt ist, während eine entsprechende Regelung für den Fall des Vollverdienstes, der selbständigen Erwerbstätigkeit oder der Versorgung durch Kapitaleinkünfte der Ehegattin (Lebensgefährtin) eines männlichen Antragstellers fehlt.

Funk (Verfassungsrechtliche Probleme der Arbeitslosenversicherung, in: Tomandl (Hrsg), Grundlegende Rechtsfragen der Arbeitslosenversicherung, 1981, 136) hat diese Regelung als gleichheitswidrig bezeichnet, "weil sie an der grundsätzlichen Symmetrie der gegenseitigen Unterhaltspflicht der Ehegatten vorbeigeht". In der Tat ist die unterschiedliche Behandlung von männlichen und weiblichen Antragstellern auf Gewährung von Notstandshilfe, wie sie in den angefochtenen Regelungen zum Ausdruck kommt, sachlich nicht zu rechtfertigen. Die Bedenken des VwGH, die dieser in Übereinstimmung mit in der Literatur vertretenen Auffassungen (vgl. Dirschmied, Arbeitslosenversicherungsrecht, 1980, 140, sowie Funk, aaO) geäußert hat, treffen daher zu. Die angefochtenen Bestimmungen sind somit, da sie - wie der VwGH im Anschluß an Funk richtig darlegt - einer verfassungskonformen Interpretation ihres Wortlautes wegen nicht zugänglich sind, rechtswidrig.

Es war daher die angefochtene Gesetzesstelle, da sie ungeachtet der AlVG-Nov. BGBl. 615/1987 noch dem Rechtsbestand angehört (vgl. oben Pkt. I.3.a), als verfassungswidrig und die angefochtene Verordnungsstelle, da sie ungeachtet der Änderung der Notstandshilfeverordnung durch BGBl. 319/1988 noch dem Rechtsbestand angehört (vgl. oben Pkt. I.3.b), als gesetzwidrig aufzuheben.

3.a) Die Bestimmung einer Frist, die dem VfGH im Hinblick auf den zeitlichen Geltungsbereich der aufgehobenen Bestimmungen erforderlich schien, stützt sich auf Art139 Abs5 und Art140 Abs5 B-VG.

b) Der Ausspruch, daß frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Wirksamkeit treten, beruht auf Art140 Abs6 erster Satz B-VG. Die Verpflichtung zur Kundmachung der Aufhebung erfließt aus Art139 Abs5 erster Satz B-VG und §60 Abs2 VerfGG sowie aus Art140 Abs5 erster Satz B-VG und §64 Abs2 VerfGG.

Schlagworte

Arbeitslosenversicherung, geschlechtsspezifische Differenzierungen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1988:G73.1988

Dokumentnummer

JFT_10118793_88G00073_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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