TE Vfgh Erkenntnis 2006/11/30 B201/06

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Veröffentlicht am 30.11.2006
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Index

10 Verfassungsrecht
10/07 Verfassungsgerichtshof, Verwaltungsgerichtshof

Norm

B-VG Art133 Z4
B-VG Art140 Abs7
B-VG Art144 Abs1 / Anlaßfall
EMRK Art6 Abs1 / civil rights
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
ASVG §345
VfGG §82 Abs2 Z5 idF KundmachungsreformG 2004

Leitsatz

Feststellung einer Verletzung im Recht auf Entscheidung in angemessener Frist im Anlassverfahren zur Aufhebung einer Bestimmung des Verfassungsgerichtshofgesetzes betreffend das zwingende Formerfordernis eines ausdrücklichen Begehrens auf Bescheidaufhebung in einer Beschwerde; Aufhebungsantrag aufgrund bereinigter Rechtslage nicht mehr erforderlich

Spruch

Die Beschwerdeführer sind in ihrem durch Art6 Abs1 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf eine Entscheidung innerhalb angemessener Frist verletzt worden.

Der Bund (Bundesministerin für Gesundheit und Frauen) ist schuldig, den Beschwerdeführern zu Handen ihres Rechtsvertreters die mit EUR 2.376,-- bestimmten Prozesskosten binnen vierzehn Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Die Vorgeschichte des vorliegenden Beschwerdefalls ergibt sich im Einzelnen aus VfSlg. 15.560/1999 und 16.607/2002. Daraus ist im vorliegenden Verfahren Folgendes von Bedeutung:

1. Die Beschwerdeführer sind Fachärzte mit Sitz in Niederösterreich; sie stehen in einem Einzelvertragsverhältnis mit der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft (im Folgenden: SVA). In den Jahren 1991 und 1992 bzw. 1994 haben die Beschwerdeführer jeweils Stoffwechsel- und Enzymuntersuchungen teils selbst durchgeführt, teils aber durch Überweisung an ein Fachlabor durchführen lassen.

2. Mit bei der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse (als Geschäftsstelle der paritätischen Schiedskommission für Niederösterreich) am 23. Mai 1995 eingelangten Schriftsätzen stellte die SVA die Anträge auf Entscheidung, dass die zuvor beschriebene Vorgangsweise der Beschwerdeführer gegen die Bestimmungen des Gesamtvertrages und der Honorarordnung verstoßen und die SVA berechtigt sei, den ihr daraus erwachsenen Schaden gegen die Honoraransprüche der Beschwerdeführer aufzurechnen.

3. Mit dem im Devolutionsweg (§345 Abs2 Z2 iVm §344 Abs3 ASVG) ergangenen Bescheid der Landesberufungskommission für Niederösterreich vom 31. Jänner 1996 wurde ausgesprochen, dass die Vorgangsweise der Beschwerdeführer gegen die Bestimmungen des Gesamtvertrages und der Honorarordnung verstoße, dass ein bereits erfolgter Honorarabzug zu Recht erfolgt sei und dass die Beschwerdeführer im Übrigen den durch ihre Vorgangsweise verursachten Schaden zu ersetzen hätten. Dieser Bescheid wurde den Beschwerdeführern mit Schreiben der Ärztekammer für Niederösterreich (als Geschäftsstelle der Landesberufungskommission für Niederösterreich) am 18. September 1996 zugestellt.

Gegen diesen Bescheid erhoben die Beschwerdeführer Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der mit Erkenntnis vom 28. September 1999, VfSlg. 15.560/1999, den Bescheid wegen behördlicher Willkür aufhob: Die Behörde habe die von den Beschwerdeführern behauptete Nichtigkeit der einschlägigen Bestimmungen des Gesamtvertrages und der Honorarordnung nicht ausreichend geprüft; dadurch sei sie in einem entscheidungswesentlichen Punkt "jede nachvollziehbare Begründung" schuldig geblieben.

4. Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 13. Juni 2001 erließ die Behörde - im zweiten Rechtsgang - einen Bescheid vom selben Tag, womit (im hier relevanten Teil) der Antrag der SVA abgewiesen wurde, weil die in der Honorarordnung vorgesehenen Laborlimitierungen nichtig seien. Dieser Bescheid wurde den Beschwerdeführern mit Schreiben der Ärztekammer für Niederösterreich (als Geschäftsstelle der Landesberufungskommission für Niederösterreich) vom 8. November 2001 übermittelt.

Über Beschwerde der SVA wurde auch dieser Bescheid vom Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 24. September 2002, VfSlg. 16.607/2002, wegen behördlicher Willkür aufgehoben: Die belangte Behörde sei in mehreren für die Frage der Rechtsgültigkeit der strittigen Verrechnungsbeschränkungen entscheidungswesentlichen Punkten "jede nachvollziehbare Begründung" schuldig geblieben.

5. Im fortgesetzten Verfahren führte die Behörde am 4. Mai 2005 eine mündliche Verhandlung durch. Wegen einer geänderten Besetzung der Landesberufungskommission für Niederösterreich wurde das Verfahren in einer mündlichen Verhandlung am 30. November 2005 neu durchgeführt. Mit - im nunmehr dritten Rechtsgang ergangenen - Bescheid vom selben Tag wurde festgestellt, dass die Beschwerdeführer durch die umstrittene Vorgangsweise gegen die Bestimmungen des Gesamtvertrages und der Honorarordnung verstoßen hätten und die SVA berechtigt sei, den durch diese Vorgangsweise entstandenen, näher bezifferten Schaden gegen die Honoraransprüche der Beschwerdeführer aufzurechnen. Dieser Bescheid wurde den Beschwerdeführern mit Schreiben der Ärztekammer für Niederösterreich (als Geschäftsstelle der Landesberufungskommission für Niederösterreich) am 17. Jänner 2006 zugestellt.

6. Gegen diesen - keinem weiteren Rechtszug unterliegenden (§345 Abs3 iVm §346 Abs7 ASVG) - Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der ausschließlich die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf eine Entscheidung innerhalb angemessener Frist (Art6 Abs1 EMRK) behauptet und neben dem Begehren auf Kostenersatz der Antrag gestellt wird, "der Verfassungsgerichtshof möge feststellen, dass die Beschwerdeführer in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf eine Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist gem. Art6 Abs1 EMRK verletzt worden sind".

Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor, verzichtete aber auf die Erstattung einer Gegenschrift.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die Beschwerde erwogen:

A. Zur Zulässigkeit:

1. Die Beschwerde begehrt lediglich die Feststellung, dass die Beschwerdeführer in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf eine Entscheidung innerhalb angemessener Frist verletzt worden sind.

2. Aus Anlass dieser Beschwerde leitete der Verfassungsgerichtshof gemäß Art140 Abs1 B-VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Wortfolge ", den angefochtenen Bescheid aufzuheben" in §82 Abs2 Z5 VfGG idF BGBl. I Nr. 100/2003 ein. Mit Erkenntnis vom 30. November 2006, G197/06, hob er diese Bestimmung als verfassungswidrig auf.

3. Gemäß Art140 Abs7 B-VG wirkt die Aufhebung eines Gesetzes auf den Anlassfall zurück. Es ist daher hinsichtlich des vorliegenden Falles so vorzugehen, als ob die als verfassungswidrig erkannte Wortfolge in §82 Abs2 Z5 VfGG zum Zeitpunkt der Einbringung der Beschwerde gemäß Art144 B-VG nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätte. Demnach hatte die Beschwerde bloß ein "Begehren" zu enthalten. Der Antrag auf Feststellung der Rechtsverletzung entspricht dieser Anforderung.

4. Die Beschwerde ist daher zulässig.

B. In der Sache:

1. Die Beschwerdeführer behaupten ausschließlich, in ihrem durch Art6 EMRK gewährleisteten Recht auf eine Entscheidung innerhalb angemessener Frist verletzt zu sein. Dieser Vorwurf wird zu Recht erhoben:

1.1. Der Verfassungsgerichtshof hat bereits wiederholt (zuletzt in seinen Erkenntnissen VfSlg. 17.582/2005 sowie B1548/04 und B1611/04 vom 27. September 2005) ausgesprochen, dass Streitigkeiten aus einem Einzelvertrag in den Kernbereich der durch Art6 Abs1 EMRK erfassten "zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen" fallen.

1.2. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ist nach der Rechtsprechung des EGMR nicht abstrakt, sondern im Lichte der besonderen Umstände jedes einzelnen Falles zu beurteilen. Die besonderen Umstände des Einzelfalles ergeben sich aus dem Verhältnis und der Wechselwirkung verschiedener Faktoren. Neben Faktoren, welche die Verfahrensdauer beeinflussen, wie die Schwierigkeit des Falles, das Verhalten des Beschwerdeführers und das Verhalten der staatlichen Behörden in dem bemängelten Verfahren, ist auch die Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer relevant (vgl. zuletzt das hg. Erkenntnis vom 30. September 2005, B1741/03 mwN).

1.3. Nicht die Verfahrensdauer schlechthin führt zu einer Verletzung, sondern nur eine Verzögerung, die auf Versäumnisse staatlicher Organe zurückzuführen ist. Der Rechtsprechung des EGMR ist daher keine fixe Obergrenze für die Angemessenheit einer Verfahrensdauer zu entnehmen, ab deren Überschreitung jedenfalls eine Verletzung des Art6 Abs1 EMRK anzunehmen wäre (vgl. VfSlg. 16.385/2001 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des EGMR).

1.4. Der - dem angefochtenen Bescheid zugrunde liegende - Antrag ist bei der paritätischen Schiedskommission für Niederösterreich am 23. Mai 1995 eingelangt. Als Anfangszeitpunkt des Verfahrens ist daher dieser Tag anzunehmen. Den Endzeitpunkt des Verfahrens bildet der Tag der Zustellung des im dritten Rechtsgang erlassenen Bescheides der belangten Behörde vom 30. November 2005, ie. der 17. Jänner 2006. Die zu beurteilende Verfahrensdauer beträgt sohin 10 Jahre und fast 8 Monate (das vorliegende verfassungsgerichtliche Verfahren ist dem überprüften Verfahren nicht zuzurechnen; vgl. VfSlg. 17.582/2005 mwN).

1.5. Die ungewöhnliche Länge des Verfahrens ist allein dem Verhalten staatlicher Organe zuzuschreiben; insbesondere kann den Beschwerdeführern kein Vorwurf daraus gemacht werden, dass sie zur Durchsetzung ihrer Rechte den Verfassungsgerichtshof angerufen haben.

Da nach der Aktenlage weder Art und Umfang des Sachverhalts noch die zu beurteilenden Rechtsfragen die Behandlung dieser Rechtssache als ungewöhnlich komplex oder schwierig erscheinen lassen, im vorliegenden Beschwerdeverfahren aber auch keine weiteren besonderen Umstände hervorgekommen sind, welche die Dauer des Verfahrens rechtfertigen könnten, ist dessen Dauer nicht mehr angemessen iS des Art6 Abs1 EMRK (vgl. den in jeder Hinsicht vergleichbaren Fall des mehrfach erwähnten Erkenntnisses VfSlg. 17.582/2005). So vergingen allein zwischen der Beschlussfassung und der Zustellung der im ersten und im zweiten Rechtsgang ergangenen Bescheide über sieben bzw. über fünf Monate. Nachdem das Verfahren bis zum (zweiten) Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes im Jahr 2002 bereits über sieben Jahre gedauert hatte, vergingen bis zur Erlassung des - nunmehr - angefochtenen Bescheides der Landesberufungskommission für Niederösterreich wiederum über drei Jahre, wobei den Beschwerdeführern im Hinblick darauf, dass es sich bei der belangten Behörde um eine im Sinne des Art133 Z4 B-VG handelt, kein Instrument gegen diese Verfahrensverzögerung (also weder die Möglichkeit der Anrufung einer Oberbehörde noch des Verwaltungsgerichtshofes im Säumnisbeschwerdeverfahren) eingeräumt war.

1.6. Die Beschwerdeführer sind daher in ihrem durch Art6 Abs1 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf eine Entscheidung innerhalb angemessener Frist verletzt worden (vgl. zu diesem Ausspruch auch VfSlg. 17.307/2004). Da sich der Antrag auf die Feststellung dieser Rechtsverletzung beschränkt, hatte es damit sein Bewenden zu haben.

2. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VfGG. Der zugesprochene Betrag enthält (wie in der Beschwerde verzeichnet) einen Streitgenossenzuschlag in Höhe von EUR 180,-- sowie Umsatzsteuer in Höhe von EUR 396,--.

III. Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

Schlagworte

VfGH / Anlaßfall, VfGH / Anlaßverfahren, VfGH / Prüfungsmaßstab, VfGH / Formerfordernisse, Verfahrensdauer überlange, Entscheidung in angemessener Zeit, Sozialversicherung, Ärzte, VfGH / Aufhebung Wirkung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2006:B201.2006

Dokumentnummer

JFT_09938870_06B00201_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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