TE Vfgh Erkenntnis 2008/10/9 B1695/07

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Veröffentlicht am 09.10.2008
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Index

10 Verfassungsrecht
10/11 Vereins- und Versammlungsrecht

Norm

StGG Art6 Abs1 / Erwerbsausübung
StGG Art12 / Versammlungsrecht
EMRK Art11
VersammlungsG §2, §6

Leitsatz

Keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durchdie Untersagung einer gegen Pelzhandel und -bekleidung gerichtetenVersammlung von Tierschützern vor einem Bekleidungsgeschäft in derMariahilfer Straße in Wien; Untersagung zum Schutz derErwerbsfreiheit geboten in Hinblick auf zu erwartende Behinderungendes Kunden- und Fußgängerverkehrs aufgrund der Nähe der Versammlungzum Eingangsbereich des Textilunternehmens

Spruch

Die beschwerdeführende Partei ist durch den angefochtenen Bescheid weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.1. Mit Eingabe vom 5. Juni 2007 zeigte der Obmann des

beschwerdeführenden Vereins gegen Tierfabriken eine Versammlung zum Thema "Kundgebung gegen den Pelzhandel bei K B" an, die am 9. Juni 2007 von 15.00 bis 18.30 Uhr in 1060 Wien, Mariahilfer Straße 111/Ecke Webgasse 45, stattfinden sollte. Als erwartete Teilnehmerzahl wurden etwa 10 Personen, als verwendete Mittel "1 Tisch, dieser wird 5 Meter von der Auslage entfernt aufgestellt, Videobeamer, Plakatständer, Transparente, Flugblätter, 1 Leinwand, 1 Auto (...)" angegeben.

1.2. Mit Telefax vom 6. Juni 2007 wurde dem beschwerdeführenden Verein zuhanden seines Obmannes eine Ladung der Bundespolizeidirektion Wien übermittelt, in der darum ersucht wurde, am 8. Juni 2007 um 9.30 Uhr "in unser Amt zu kommen oder einen Vertreter zu entsenden". Falls dies aus wichtigen Gründen nicht möglich sei, könne der Termin allenfalls verschoben werden. Die Ladung enthielt weiters den Hinweis, dass bei Nichterscheinen mit der Untersagung der Versammlung zu rechnen sei.

Dieser Ladung wurde vom beschwerdeführenden Verein ohne Angabe von Gründen keine Folge geleistet.

1.3. Mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 8. Juni 2007 wurde die Versammlung gemäß §6 Versammlungsgesetz 1953 (im Folgenden: VersG) iVm Art11 Abs2 EMRK untersagt.

1.4. Der dagegen erhobenen Berufung gab die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien mit Bescheid vom 3. August 2007 keine Folge und bestätigte den angefochtenen Bescheid.

Begründend führt die Behörde im Wesentlichen aus:

"Der Veranstalter hat in den Monaten vor gegenständlicher Versammlung im Rahmen der länderübergreifend organisierten Kampagne 'Offensive gegen die Pelzindustrie' (Näheres dazu siehe unter http://www.offensive-gegen-die-pelzindustrie.org/) eine Vielzahl von Versammlungen vor Filialen von Bekleidungsunternehmen zum Thema Information zur leidvollen Situation der Pelztiere abgehalten. All diesen Versammlungen war gemein, dass direkt vor den Auslagenscheiben der jeweiligen Geschäftsfilialen themenbezogene Transparente bzw. an einer an Betonsockeln festgemachten Schnur Fotos mit gequälten Tieren angebracht wurden. Dadurch wurde die freie Sicht auf die in den Schaufenstern ausgestellten Waren erheblich beeinträchtigt. Es wurde den Passanten und potentiellen Kunden beinahe unmöglich gemacht, einen eingehenden Blick auf diese Waren zu werfen und sich einen Überblick über die Verkaufsangebote zu verschaffen. Diese Methode der Verdeckung der Auslagenscheiben wurde schon seit Ende Oktober 2006 von diversen Veranstaltern, welche im Zuge der Kampagne gegen die Bekleidungsunternehmen regelmäßig demonstriert hatten, immer wieder praktiziert. Seit Ende Oktober 2006 fanden also zumindest an allen - in der Regel umsatzstarken - Freitagen und Samstagen (in der Weihnachtszeit zusätzlich auch an anderen Wochentagen siehe dazu unter www.vgt.at) Versammlungen vor den Geschäftsfilialen in Wien Mariahilf statt, bei denen ein nicht unbeträchtlicher Teil der Auslagenscheibe verdeckt wurde. Im nahen Eingangsbereich versuchten Aktivisten Kunden anzusprechen, um sie über die Ziele der Versammlung zu informieren. Dies geschah zum Teil auch in aggressiver Weise (siehe Bericht der Versammlung vom 05.04.2007). Unterstützt durch Lautsprecheranlagen, Megaphone und Trommeln wurde im Eingangsbereich bzw. im Nahbereich der Zu- und Abgänge der Handelsketten lautstark über lange Zeiträume demonstriert (siehe Berichte über die Versammlungen vom 24.03.2007, vom 10.02.2007 sowie vom 06.04.2007 bzw. die erfolgte Anzeige vom 24.03.2007 gegen den Leiter und Veranstalter der Versammlung). Durch Versammlungsteilnehmer wurden auch teilweise die Zu- und Abgänge zum Geschäftslokal blockiert und damit der Kundenverkehr massiv gestört (siehe Bericht über die Versammlungen vom 07.03.2007, vom 05.04.2007 sowie vom 06.04.2007).

Ausgehend von dieser Sachlage lud die Erstbehörde den Veranstalter für den 08.06.2007 um 09.30 Uhr vor, um ihm vorzuschlagen, die Versammlung in einem Abstand von ca. 20m zum Geschäftslokal abzuhalten. Dieser Ladung leistete der Veranstalter unentschuldigt keine Folge.

...

Bei der Beantwortung der Frage, ob eine Versammlung zulässig, d.h. ob sie durch das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit geschützt ist, ist nach zwei Richtungen vorzugehen. Zum einen ist zu prüfen, ob die Versammlung ausschließlich oder vorwiegend darauf gerichtet ist, die Öffentlichkeit oder andere Menschen in den Rechtsgütern zu beeinträchtigen. Die Behinderung anderer oder die Ausübung von Zwang auf andere in der Öffentlichkeit und gegenüber der Allgemeinheit ist daher nicht im Sinne des Grundrechtes gelegen. Zum anderen ist dann, wenn kein Grundrechtsmissbrauch geplant ist, für eine Versammlung dennoch im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung von Fall zu Fall eine Güter- bzw. Interessenabwägung vorzunehmen. Vor allem Volksversammlungen und allgemein zugängliche Versammlungen auf öffentlichen Plätzen und Verkehrsflächen verstoßen notgedrungen auch gegen Verwaltungsvorschriften und können daher unter gegebenen oder zu erwartenden Umständen unverhältnismäßig sein. Dem Grundrecht sind Beschränkungen wesensmäßig inhärent. Daher sind auch administrative Maßnahmen zulässig (Untersagung einer Versammlung, vor allem für einen bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit), die der Erfüllung von Staatsaufgaben dienen (Schutz der öffentlichen Sicherheit und des öffentlichen Wohls). Die Maßnahmen müssen aber gesetzlich gedeckt und in dem Sinn erforderlich sein, dass sie sich als das gelindeste Mittel zur Erreichung ihres Zweckes erweisen. Sie müssen zur Erreichung ihres Zweckes geeignet sowie im Verhältnis zum angestrebten Zweck angemessen sein. Im Bereich der Verhältnismäßigkeitsprüfung kommt es zur Interessensabwägung.

Unter diesen Aspekten teilt die erkennende Behörde die Ansicht der Erstbehörde, die vorliegende Versammlung würde einen krassen Missbrauch des Versammlungsrechts darstellen und sei der Allgemeinheit nicht zumutbar. Einerseits muss in Betracht gezogen werden, dass es sich - wie bereits oben dargelegt - nicht um einen Einzelfall handelt, sondern dass diese Methode seit beinahe einem halben Jahr unablässig an den wichtigsten Geschäftstagen praktiziert wird, um die Bekleidungsunternehmen dazu zu bringen, die Pelzproduktion einzustellen. Damit wird aber das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit von vornherein geplant in zweckentfremdeter Weise beansprucht, ist doch die vorliegende Versammlung auf diese Weise in erster Linie darauf gerichtet, andere (namentlich die Textilunternehmen) in ihren Rechtsgütern (konkret: in ihrer Freiheit auf Erwerbstätigkeit) zu beeinträchtigen. Andererseits vertritt auch die erkennende Behörde die Auffassung, dass es dem Veranstalter möglich gewesen wäre, die Öffentlichkeit über die leidvolle Situation der Pelztiere zu informieren, ohne im unmittelbaren Nahbereich des Geschäftes die Kundgebung abzuhalten. Ein Abstand von lediglich 5m zum Eingangsbereich lässt nicht nur eine Behinderung des Kunden- und Fußgängerverkehrs besorgen, sondern gewährleistet auch keinesfalls einen ungestörten Geschäftsbetrieb.

Die Behörde war auch nicht berechtigt, von sich aus die Versammlungsanzeige zu ändern, zu modifizieren oder zu konkretisieren. Die Versammlung war - wie sie angezeigt wurde - entweder zur Gänze zu untersagen oder zur Gänze nicht zu untersagen. Sieht sich die Behörde veranlasst, wegen auch nur eines einzelnen bestimmten Umstandes (hier: Versammlungsort lediglich 5m vom Geschäftslokal entfernt) die Untersagung auszusprechen, so hat sie zuvor den Veranstalter darauf aufmerksam zu machen und ihm die Änderung der Versammlungsanzeige (hier: Versammlungsort etwa 20m vom Geschäftslokal entfernt) nahezulegen. Der diesbezüglichen Ladung hat der Veranstalter jedoch ohne Angabe von Gründen keine Folge geleistet.

Vor diesem Hintergrund musste eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch eine Interessenabwägung im Sinne des bisher Gesagten zu Ungunsten des Veranstalters ausfallen und das Interesse des Veranstalters an der Abhaltung der angezeigten Versammlung in der geplanten Form gegenüber den in Art11 Abs2 EMRK aufgezählten Interessen am Unterbleiben der Versammlung in den Hintergrund treten. Vielmehr machte der Schutz der in Art11 Abs2 EMRK genannten Güter, nämlich die Rechte und Freiheiten anderer (konkret: das Recht auf Freiheit der Erwerbstätigkeit) die Untersagung der beabsichtigten Versammlung notwendig."

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Versammlungsfreiheit sowie auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird. Wörtlich führt die Beschwerde aus:

"Aus dem bloßen Faktum, dass allenfalls der Erwerb eines Unternehmens beeinträchtigt würde, was die belangte Behörde nicht einmal nachgewiesen, sondern lediglich erschlossen hat und wogegen sich dieses auch leicht zivilrechtlich wehren könnte, kann nicht, auch nicht im Zuge einer Interessensabwägung, die Berechtigung zur Untersagung einer Versammlung resultieren, da sonst das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit unterminiert würde.

...

Die Untersagung einer Versammlung sogar wegen massiver Proteste - solche sind seitens der Firma K B gar nicht vorgelegen - großer Bevölkerungskreise und sogar angedrohter Störungsaktionen (sic!) befand der VfGH für unzulässig, weil gerade durch eine solche Interpretation der Untersagungstatbestände das Grundrecht für die Minderheit durch Druck der Mehrheit gänzlich ausgehöhlt würde (VfSlg. 8608/1979 [richtig: VfSlg. 8609/1979]).

Würde man der Ansicht der belangten Behörde folgen, wäre jede Art von Versammlungen in deren Themenumfeld sich erwerbstätige Personen befinden könnten, zu untersagen.

Die belangte Behörde hat es verabsäumt auf Basis des Akteninhaltes (!) darzutun, warum in concreto die Versammlung untersagt hätte werden dürfen.

Die Judikatur in dieser Richtung gibt der Behörde aber nur dann eine Prognose- und Vermutungsermächtigung, wenn bei vorhergehenden gleichartigen Versammlungen mit gleichartigen Teilnehmern das öffentliche Wohl durch gesetzwidrige Verhaltensweisen gefährdet oder beeinträchtigt wurde. Das war nie der Fall und ergibt sich auch nicht aus dem gesamten Akt.

Auch auf Basis einer allenfalls zu erstellenden Gefährlichkeitsprognose hätte die Versammlung also gar nicht untersagt werden dürfen.

...

Die von der belangten Behörde durchgeführte Abwägung des Grundrechtes der Erwerbsfreiheit mit dem der Versammlungsfreiheit zugunsten ersterem erfolgte zu Unrecht. Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit ist grundsätzlich als wichtiger als jenes der Erwerbsfreiheit einzustufen. Die von der belangten Behörde gewählte Abwägung hätte also nur bei entsprechend massiven Eingriffen in die Erwerbsfreiheit erfolgen dürfen. Solche ergeben sich aber nicht aus dem Akt. Der Beschwerdeführer war daher auch nicht verpflichtet, dem Vorschlag der Abhaltung der Versammlung an einem anderen Ort zuzustimmen, zumal ja angezeigter Zweck der Versammlung war, gegen den von der Firma K B durchgeführten Pelzhandel Stellung zu nehmen.

...

Es liegt ... ein Verfahrensmangel, der in die

Verfassungssphäre reicht, vor. Die belangte Behörde hat sich mit den Argumenten in der Berufung überhaupt nicht auseinander gesetzt und ihrer Entscheidung wie unter 1. dargelegt ungeprüft Unwahrheiten zu Grunde gelegt."

3. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie dem Beschwerdevorbringen entgegentritt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1.1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg. 12.257/1990 und 15.109/1998 sowie die dort zitierte Vorjudikatur) ist jede Verletzung des Versammlungsgesetzes, die unmittelbar die Ausübung des Versammlungsrechtes betrifft und damit in die Versammlungsfreiheit eingreift, als Verletzung des durch Art12 StGG verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes zu werten. So verletzt etwa jeder Bescheid, mit dem österreichischen Staatsbürgern gegenüber die Abhaltung einer Versammlung untersagt wird, das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Versammlungsfreiheit schon dann, wenn das Gesetz unrichtig angewendet wurde. Dies gilt auch für Vereine (vgl. VfSlg. 6095/1969, 6305/1970, 6530/1971).

Die belangte Behörde hat den Bescheid, mit dem sie die angezeigte Versammlung untersagte, auf §6 VersG gestützt, der wie folgt lautet:

"§6. Versammlungen, deren Zweck den Strafgesetzen zuwiderläuft oder deren Abhaltung die öffentliche Sicherheit oder das öffentliche Wohl gefährdet, sind von der Behörde zu untersagen."

1.2. Die Bestimmung ist angesichts des materiellen Gesetzesvorbehalts in Art11 Abs2 EMRK im Einklang mit dieser Verfassungsnorm zu interpretieren. Die Behörde ist daher zur Untersagung nur dann ermächtigt, wenn dies aus einem der in Art11 Abs2 EMRK genannten Gründe notwendig ist (s. dazu etwa VfSlg. 10.443/1985, 12.155/1989, 12.257/1990).

Bei ihrer Entscheidung hat die Behörde die Interessen des Veranstalters an der Abhaltung der Versammlung in der geplanten Form gegen die in Art11 Abs2 EMRK aufgezählten Interessen am Unterbleiben der Versammlung abzuwägen. Diese Entscheidung ist eine Prognoseentscheidung, die die Behörde auf Grundlage der von ihr festzustellenden, objektiv erfassbaren Umstände in sorgfältiger Abwägung zwischen dem Schutz der Versammlungsfreiheit und den von der Behörde wahrzunehmenden öffentlichen Interessen zu treffen hat.

2.1. Im vorliegenden Fall ging die belangte Behörde davon aus, dass die Untersagung der angezeigten Versammlung zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer - konkret: des Rechtes auf Freiheit der Erwerbstätigkeit - notwendig sei. Sie gelangte zur Auffassung, dass die in Rede stehende Versammlung einen "krassen Missbrauch des Versammlungsrechts" darstelle, da die Kundgebung in erster Linie darauf gerichtet sei, die Textilunternehmen in ihrer Freiheit auf Erwerbstätigkeit zu beeinträchtigen und durch die wiederholte Abhaltung ähnlicher Versammlungen dazu zu bringen, den Pelzhandel einzustellen. Dadurch werde das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit aber in "zweckentfremdeter Weise" beansprucht.

Nach Auffassung der Behörde wäre es dem Veranstalter durchaus möglich gewesen, die Öffentlichkeit über die Situation der Pelztiere zu informieren, ohne die Kundgebung im unmittelbaren Nahbereich des betroffenen Bekleidungsunternehmens abzuhalten. Ein Abstand von lediglich 5 Metern zum Eingangsbereich lasse aber nicht nur eine Behinderung des Kunden- und Fußgängerverkehrs besorgen, sondern gewährleiste auch keinesfalls einen ungestörten Geschäftsbetrieb. Der Ladung der Bundespolizeidirektion Wien, die in der Absicht übermittelt worden sei, den Veranstalter darauf aufmerksam zu machen und ihm die Änderung der Versammlungsanzeige - hier: Versammlung in 20 Meter Entfernung zum Geschäftslokal - nahe zu legen, sei jedoch ohne Angaben von Gründen keine Folge geleistet worden.

2.2. Wie bereits dargelegt, lässt Art11 Abs2 EMRK staatliche Eingriffe in die grundrechtlich gewährleistete Versammlungsfreiheit auf gesetzlicher Grundlage zu, wenn dies in einer demokratischen Gesellschaft etwa zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. Zu den Rechten und Freiheiten anderer iSd Art11 Abs2 EMRK zählt zweifellos auch das Recht auf freie Erwerbstätigkeit gemäß Art6 StGG.

Wenn der beschwerdeführende Verein davon ausgeht, dass dem Recht, sich zu versammeln, stets mehr Gewicht beizumessen ist als dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit der Erwerbstätigkeit, ist dies verfehlt; im Falle von entgegengesetzten, in Grundrechten wurzelnden Interessen ist der Staat gehalten, die Ausübung der betroffenen Grundrechte im Wege eines Interessensausgleichs zu gewährleisten.

Aber auch der Veranstalter einer Versammlung (so zB VfSlg. 14.869/1997) hat sich ernsthaft darum zu bemühen, dass die Versammlung gesetzmäßig ablaufen kann und dass Rechte und Freiheiten von Personen, die nicht an der Versammlung teilnehmen, möglichst wenig beeinträchtigt werden, dass also die Versammlungsfreiheit nicht zu Lasten Dritter missbraucht wird.

2.3. Im bekämpften Bescheid wurde die Untersagung der Versammlung nach Abwägung der berührten Interessen im Wesentlichen damit begründet, dass bei dem geplanten Versammlungsort kein ausreichender Abstand zum Eingangsbereich des betroffenen Textilunternehmens eingehalten würde.

Vorauszuschicken ist, dass die Bundespolizeidirektion Wien dem beschwerdeführenden Verein am 6. Juni 2007 eine Ladung übermittelte, in der auch darauf hingewiesen wurde, dass bei Nichterscheinen mit der Untersagung der Versammlung zu rechnen sei. Die Obliegenheit, dieser Ladung nachzukommen, wurde allerdings vom beschwerdeführenden Verein nicht beachtet, weshalb es der Behörde auch nicht möglich war, mit dem beschwerdeführenden Verein mögliche Alternativen zum geplanten Versammlungsort zu besprechen, die zum erforderlichen Ausgleich der Interessen geführt hätten. Die Behörde hatte daher über die Versammlung in der angezeigten Form zu entscheiden.

2.4. Die Behörde war auch nicht berechtigt, von sich aus die Versammlungsanzeige zu ändern oder zu modifizieren. Sie hatte die Versammlung - in der Art, wie sie angezeigt wurde - entweder zu untersagen oder nicht zu untersagen. Wenn die Behörde meinte, auch nur eine der Modalitäten der beabsichtigten Versammlung (etwa der Kundgebungsort) sei derart, dass eines der in Art11 Abs2 EMRK aufgezählten Schutzgüter gefährdet würde, hatte sie die Versammlung zu untersagen; hätte sie die Untersagung unterlassen, so wäre die Versammlung in der angezeigten Form erlaubt gewesen (VfSlg. 15.362/1998).

Sieht sich die Behörde veranlasst, nur wegen eines einzelnen bestimmten Umstandes die Untersagung auszusprechen, so hat sie zuvor den Veranstalter darauf aufmerksam zu machen und ihm die Änderung der Versammlungsanzeige nahe zu legen (VfSlg. 9103/1981, 15.362/1998). Dieser Vorgangsweise wurde von der Versammlungsbehörde erster Instanz - wie bereits dargelegt - durch die Ladung, die zu diesem Zweck erfolgte, entsprochen.

2.5. Der Beurteilung der Versammlung in der angezeigten Form legte die Behörde ihre Erfahrungswerte im Zusammenhang mit ähnlichen in der Vergangenheit abgehaltenen Kundgebungen des beschwerdeführenden Vereins in der Nähe von Bekleidungsunternehmen zugrunde (diverse Versammlungsberichte über die Verdeckung der Schaufenster durch Transparente und Fotos, teils aggressives Ansprechen von Kunden, Blockierung der Zu- und Abgänge zum Geschäftslokal, Störung des Kundenverkehrs etc.) und gelangte so zur Prognose, dass eine mit den bisherigen Versammlungen vergleichbare Situation zu erwarten sei.

Der belangten Behörde ist daher nicht entgegenzutreten, wenn sie die Untersagung der angezeigten Versammlung - mit Blick auf den (in Aussicht genommenen) sehr geringen Abstand der Versammlungsteilnehmer zum Eingangsbereich des Geschäftslokals (5 Meter) und die dadurch zu gewärtigende Behinderung des Kunden- und Fußgängerverkehrs - zum Schutz des Rechtes auf Freiheit der Erwerbstätigkeit für geboten hielt. Die befürchtete Beeinträchtigung des Geschäftsbetriebes wäre anders auch nicht zu vermeiden gewesen, da der beschwerdeführende Verein - ungeachtet der Möglichkeit, in Abkehr zum ursprünglich geplanten Versammlungsort einen größeren Abstand zum Eingangsbereich des Textilunternehmens einzuhalten - eine Änderung der Versammlungsanzeige (wie dargestellt) offenbar nicht in Betracht gezogen hat und auch nicht dargetan hat, dass der Versammlungszweck nur am ursprünglich vorgesehenen Ort hätte erreicht werden können (zur Prüfung der einem konkreten Versammlungsort inhärenten [Sicherheits-]Risiken vgl. etwa VfSlg. 15.952/2000).

3. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Versammlungsfreiheit ist sohin nicht erfolgt.

Im Hinblick darauf, dass die Behörde rechtsrichtig entschieden hat und dass gegen die bei Erlassung des angefochtenen Bescheides angewendeten Rechtsvorschriften keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen, ist es ausgeschlossen, dass die beschwerdeführende Partei durch den bekämpften Bescheid in einem anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht oder in ihren Rechten wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm verletzt wurde.

4. Die Beschwerde war daher abzuweisen.

5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Versammlungsrecht, Erwerbsausübungsfreiheit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2008:B1695.2007

Zuletzt aktualisiert am

19.08.2010
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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