TE Vwgh Beschluss 1993/11/24 93/15/0190

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Veröffentlicht am 24.11.1993
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG);
10/07 Verwaltungsgerichtshof;
32/01 Finanzverfahren allgemeines Abgabenrecht;
40/01 Verwaltungsverfahren;

Norm

AVG §71 Abs1 lita;
AVG §71 Abs1 Z1;
BAO §102;
BAO §308 Abs1;
B-VG Art130 Abs2;
VwGG §26;
VwGG §46 Abs1;
ZustG §21;

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):93/15/0191

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat über den Antrag der J in F, vertreten durch Dr. W, Rechtsanwalt in K, auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdefrist des mit Beschluß vom 18. November 1993, 93/15/0139, abgeschlossenen Verfahrens sowie über die unter einem erhobene Beschwerde gegen den Bescheid (Berufungsentscheidung) der Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland, Berufungssenat VIII, vom 29. Juni 1993, 6/4 - 4348/92-08, betreffend Einkommen- und Gewerbesteuer für das Jahr 1990, den Beschluß gefaßt:

Spruch

Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird abgewiesen.

Die Beschwerde gegen den Bescheid wird zurückgewiesen.

Begründung

Mit Beschluß vom 18. November 1993, 93/15/0139, wies der Gerichtshof die Beschwerde gegen den im Spruch dieses Beschlusses genannten Bescheid (in der Folge: Bescheid) gemäß § 34 Abs 1 und 3 VwGG mit der Begründung zurück, wie sich sowohl aus der Gegenschrift der belangten Behörde als auch aus den Verwaltungsakten ergebe, sei der Bescheid am 7. Juli 1993 zugestellt worden, weswegen die erst am 19. August 1993 zur Post gegebene Beschwerde verspätet sei.

Im in bezug auf die Zustellung der Gegenschrift der belangten Behörde fristgerecht zur Post gegebenen Antrag wird die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdefrist begehrt. Unter einem wird Beschwerde gegen den Bescheid erhoben.

Aus den Ausführungen der Antragstellerin und den beigeschlossenen eidesstattlichen Erklärungen ergibt sich folgender, vom Gerichtshof als bescheinigt angesehener Sachverhalt:

Der im gemeinsamen Haushalt mit der Antragstellerin lebende Ehegatte bestätigte mit seiner Unterschrift am 7. Juli 1993 auf dem Zustellschein die Übernahme des Bescheides. Er öffnete das Kuvert, gab den Bescheid jedoch nicht am selben Tag, sondern frühestens am nächsten Tag an die am Zustelltag mit Arbeit überlastete Antragstellerin weiter. Der Ehegatte teilte der Antragstellerin weder mit, an welchem Tag der Bescheid von ihm übernommen worden sei, noch übergab er ihr das Kuvert. Die Antragstellerin war daher nicht in der Lage, dem von ihr zur Erhebung einer Beschwerde an den Gerichtshof beauftragten Rechtsanwalt auf Befragen das Zustelldatum des Bescheides bekannt zu geben. Der Rechtsanwalt erklärte daraufhin, er werde sich noch um das genaue Zustelldatum kümmern. In der Folge gab der Rechtsanwalt der bei ihm seit 20 Jahren als Kanzleileiterin verläßlich tätigen ES den Auftrag festzustellen, wann der Bescheid tatsächlich zugestellt worden sei. ES erkundigte sich zunächst beim Steuerberater der Antragstellerin, erhielt jedoch nur die Auskunft, das genaue Zustelldatum sei nicht bekannt, die Zustellung sei aber etwa Mitte Juli 1993 erfolgt. Auf Befragen durch ES teilte der Ehegatte der Antragstellerin mit, die Zustellung des Bescheides sei am 9. Juli 1993 erfolgt, worauf ES den dementsprechenden Fristvormerk verfaßte und dies dem Rechtsanwalt mitteilte.

Die Antragstellerin vertritt unter Hinweis auf § 102 BAO die Meinung, die belangte Behörde habe das ihr bei der Art der Zustellung eingeräumte Ermessen insofern verletzt, als sie wegen des Vorliegens wichtiger Gründe hätte verfügen müssen, den Bescheid zu eigenen Handen zuzustellen. Der Bescheid sei für sie von existentieller Bedeutung, weil die geforderte Abgabe eine Größenordnung erreiche, die ihre mühsam erkämpfte Rettung vor einer Insolvenz zunichte machen könne. Mit der Zustellung des Bescheides habe für sie die Frist zur Erhebung einer Beschwerde an den Gerichtshof zu laufen begonnen. Es habe daher ein wichtiger Grund vorgelegen, die Zustellung zu eigenen Handen zu verfügen. Die von der belangten Behörde gewählte Art der Zustellung sei somit unzulässig, weswegen der Bescheid erst mit dem tatsächlichen Zukommen an sie am 8. Juli 1993 als zugestellt gelte. Die im § 26 Abs 1 Z 1 VwGG normierte sechswöchige Frist zur Erhebung einer Beschwerde sei daher gewahrt.

Für den Fall, daß der Gerichtshof die Zustellung des Bescheides entgegen ihrer Ansicht am 7. Juli 1993 als bewirkt ansehe, und somit die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erforderlich sei, hält die Antragstellerin zunächst fest, ihr Ehegatte sei nicht bevollmächtigt gewesen, Schriftstücke für sie zu übernehmen. Es sei weiters unvorhersehbar gewesen, daß ES als langjährige Kanzleileiterin ihres Rechtsanwaltes sich mit der Auskunft ihres Ehegatten, der Bescheid sei am 9. Juli 1993 zugestellt worden, begnügt, nicht aber auch bei der belangten Behörde nachgefragt habe. Es sei daher für ihren Rechtsanwalt weder vorhersehbar noch abwendbar gewesen, daß ES bei der Führung des Fristenvormerks von einer Zustellung des Bescheides am 9. Juli 1993 ausgegangen sei. Sie sei daher durch eine Verkettung unvorhergesehener und unabwendbarer Ereignisse, nämlich durch das Fehlverhalten der bisher äußerst verläßlichen und jahrelang als Kanzleileiterin tätigen ES und der unrichtigen Auskunft ihres Ehegatten, sohin ohne ihr Verschulden daran gehindert gewesen, die Frist für die Erhebung der Beschwerde einzuhalten, weswegen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen sei.

Der Antragstellerin ist folgendes entgegenzuhalten:

Gemäß § 102 BAO idgF hat die Abgabenbehörde, wenn wichtige Gründe hiefür vorliegen, die schriftlichen Ausfertigungen mit Zustellnachweis zuzustellen. Bei Vorliegen besonders wichtiger Gründe ist die Zustellung zu eigenen Handen des Empfängers zu bewirken.

In der Bundesabgabenordnung sind weder besonders wichtige Gründe normiert, die eine Zustellung zu eigenen Handen erfordern, noch ist für bestimmte Erledigungen der Abgabenbehörde eine derartige Zustellung gefordert. Die Art der Zustellung liegt somit, entgegen der Ansicht der Antragstellerin, nicht im Ermessen der Behörde.

Die Antragstellerin zeigt nicht auf, weswegen bei der Zustellung des Bescheides BESONDERS WICHTIGE Gründe vorgelegen seien, die eine Zustellung desselben zu ihren eigenen Handen notwendig gemacht hätte. Mit der bloßen Behauptung, der Bescheid sei für sie von existentieller Bedeutung, weswegen die belangte Behörde diesen zu eigenen Handen zustellen hätte müssen, vermag die Antragstellerin eine Rechtswidrigkeit insbesondere auf Grund des Umstandes, daß eine abweisende Berufungsentscheidung ergangen ist, was in Anbetracht einer ebenfalls abweisenden Berufungsvorentscheidung keineswegs überraschend sein konnte, nicht darzutun. Daß mit der Zustellung eines Bescheides der Abgabenbehörde zweiter Instanz die Frist für die Beschwerde an den Gerichtshof ausgelöst wird, stellt keinen besonders wichtigen Grund dar, die Zustellung zu eigenen Handen zu verfügen. Da die Ersatzzustellung an den Ehegatten der Antragstellerin im Sinn des § 16 ZuStellG wirksam war, ist der Gerichtshof zu Recht davon ausgegangen, daß der Bescheid am 7. Juli 1993 zugestellt worden ist.

Nach § 46 Abs 1 VwGG ist einer Partei auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis - so dadurch, daß sie von einer Zustellung ohne ihr Verschulden keine Kenntnis erlangt hat - eine Frist versäumt und dadurch einen Rechtsnachteil erleidet. Daß der Partei ein Verschulden an der Versäumung zur Last liegt, hindert die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht, wenn es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handelt.

Der Gerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, daß ein Verschulden des Parteienvertreters einem Verschulden der Partei selbst gleichzusetzen ist (vgl Dolp, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit3, 656 f). Die Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt somit im Hinblick auf die Bestimmungen des § 46 Abs 1 zweiter Satz VwGG nur in Betracht, wenn dem Wiedereinsetzungswerber und seinem Vertreter kein Versehen oder nur ein minderer Grad des Versehens angelastet werden kann. Der Begriff des minderen Grades des Versehens ist als leichte Fahrlässigkeit im Sinn des § 1332 ABGB zu verstehen. Der Wiedereinsetzungswerber und sein Vertreter dürfen also nicht auffallend sorglos gehandelt haben. Auffallend sorglos handeln sie, wenn die ihnen im Verkehr mit Gerichten und für die Einhaltung von Terminen und Fristen erforderliche und die ihnen nach ihren persönlichen Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt außer acht gelassen wird (vgl Dolp, aaO, 663).

In diesem Sinn ist zunächst der Antragstellerin auffallende Sorglosigkeit anzulasten. Sie hätte nämlich sofort bei Übergabe des Bescheides durch ihren Ehegatten fragen müssen, wann dieser die Sendung übernommen habe. Dies umsomehr, als auch das Kuvert nicht übergeben wurde und damit nicht ersichtlich war, an welchem Tag der Ehegatte den Zustellschein unterschrieben hatte. Eine derartige Vorgangsweise wäre der Antragstellerin auch bei der von ihr behaupteten Arbeitsüberlastung im Hinblick auf die für die Einhaltung von Fristen erforderliche Sorgfalt zumutbar gewesen. Die Antragstellerin war auch auf Befragen ihres Rechtsanwaltes anläßlich der Erteilung des Auftrages, Beschwerde an den Gerichtshof zu erheben, nicht in der Lage, das Zustelldatum des Bescheides bekanntzugeben. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte die Antragstellerin von sich aus Maßnahmen setzen müssen, um das Zustelldatum in Erfahrung zu bringen. In der gänzlichen Unterlassung jeglicher diesbezüglicher Handlung ist ein auffallend sorgloses Verhalten der Antragstellerin selbst zu erblicken, das der Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entgegensteht.

Auch dem Rechtsanwalt der Antragstellerin kann kein minderer Grad des Verschuldens zugebilligt werden. Unbestritten ist, daß die beim Rechtsanwalt als Kanzleileiterin beschäftigte ES nur den Steuerberater und den Ehegatten der Antragstellerin befragt hat, wann der Bescheid zugestellt worden ist. Es wäre der seit 20 Jahren als Kanzleileiterin tätigen ES wohl zumutbar gewesen, bei der belangten Behörde das Zustelldatum des Bescheides telefonisch oder durch Akteneinsicht zu ermitteln. Daß sie dies unterlassen hat, ist als grobes Verschulden zu werten. Dieses Verschulden der Kanzleileiterin stellt für den Rechtsanwalt dann ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis dar, wenn er der ihm zumutbaren und nach der Sachlage gebotenen Überwachungspflicht gegenüber der Kanzleileiterin nachgekommen ist. Ein Rechtsanwalt muß die Organisation seines Kanzleibetriebes so einrichten, daß die richtige Vormerkung von Terminen sichergestellt ist. Dabei wird durch entsprechende Kontrollen unter anderem dafür vorzusorgen sein, daß Unzulänglichkeiten durch menschliches Versagen aller Voraussicht nach auszuschließen sind. Ein Rechtsanwalt verstößt demnach auch dann gegen eine Sorgfaltspflicht, wenn er weder im allgemeinen noch im besonderen (wirksame) Kontrollsysteme vorgesehen hat, die im Fall des Versagens eines Mitarbeiters Fristversäumungen auszuschließen geeignet sind (vgl Dolp, aaO, 657 f). Der Rechtsanwalt der Antragstellerin hat nicht ausgeführt, welche Kontrollsysteme in seiner Kanzlei vorgesehen sind, um menschliches Versagen aller Voraussicht nach auszuschließen. Gerade in einem Fall, in dem das Zustelldatum eines Bescheides noch nicht bekannt ist, wäre aber eine Kontrolle nach der Sachlage geboten und dem Rechtsanwalt auch zumutbar gewesen. Insbesondere ist dem Rechtsanwalt der Antragstellerin anzulasten, er habe nicht dafür Sorge getragen, daß die Ermittlung des Zustelldatums im Weg der dafür einzig zielführenden und jedenfalls zumutbaren Anfrage bei der belangten Behörde vorgenommen wurde. Die Unterlassung jeglicher Vorsorge in dieser Richtung stellt eine grob fahrlässige Pflichtverletzung des Rechtsanwaltes in seiner Stellung als berufsmäßiger Parteienvertreter dar und ist daher nicht als minderer Grad des Versehens anzusehen. Daran vermag die Behauptung, ES habe die ihr bisher anvertrauten Tätigkeiten sorgfältig und verläßlich erfüllt, nichts zu ändern, weil dies nicht dazu führen kann, auf jegliche Kontrolle zu verzichten.

Entgegen den Ausführungen der Antragstellerin wurde daher die im § 26 Abs 1 Z 1 VwGG normierte sechswöchige Frist nicht durch eine Verkettung unvorhergesehener und unabwendbarer Ereignisse, die auf einen bloß minderen Grad des Versehens zurückzuführen sind, sondern durch eine Kette auffallender Sorglosigkeiten versäumt.

Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdefrist war daher abzuweisen.

Die unter einem nunmehr erhobene Beschwerde gegen den Bescheid war mangels Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen entschiedener Sache gemäß § 34 Abs 1 VwGG zurückzuweisen, weil der Gerichtshof die denselben Verwaltungsakt bekämpfende Beschwerde bereits mit Beschluß vom 18. November 1993 zurückgewiesen hat.

Schlagworte

Ermessen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1993:1993150190.X00

Im RIS seit

03.04.2001

Zuletzt aktualisiert am

25.11.2010
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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