TE Vfgh Erkenntnis 1991/11/25 B130/91

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.11.1991
beobachten
merken

Index

27 Rechtspflege
27/01 Rechtsanwälte

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
DSt 1872 §2

Leitsatz

Verletzung im Gleichheitsrecht durch willkürliche Verhängung einer Disziplinarstrafe über einen Rechtsanwalt; Fortsetzung eines als ruhend vereinbarten Verfahrens nicht in jedem Fall disziplinär zu ahnden

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Die Rechtsanwaltskammer Wien ist schuldig, dem Beschwerdeführer die mit S 15.000,-- bestimmten Kosten des Verfahrens binnen 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Mit Erkenntnis des Disziplinarrates der Rechtsanwaltskammer Wien vom 20. Oktober 1989, Zl. D 247/87, war der Beschwerdeführer der Disziplinarvergehen der Verletzung der Berufspflichten und der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes für schuldig erkannt worden, weil er entgegen einer mit dem Gegenanwalt getroffenen Vereinbarung des "ewigen" Ruhens eines bestimmten, beim Arbeits- und Sozialgericht Wien anhängigen Verfahrens dessen Fortsetzung beantragt hatte. Er wurde hiefür unter Bedachtnahme auf weitere Disziplinarerkenntnisse zu einer Zusatzgeldbuße von

S 5.000,-- und zum Ersatz der (anteiligen) Kosten des Disziplinarverfahrens verurteilt. Von - nicht den Gegenstand dieses verfassungsgerichtlichen Beschwerdeverfahrens bildenden - weiteren Anschuldigungen wurde er freigesprochen und von den diesbezüglichen anteiligen Kosten des Disziplinarverfahrens losgezählt.

2. Der dagegen erhobenen Berufung des Beschwerdeführers wurde mit Erkenntnis der Obersten Berufungs- und Disziplinarkommission für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (im folgenden: OBDK) vom 2. Juli 1990, Zl. Bkd 24/90-9, nicht Folge gegeben. Nach Darstellung des maßgeblichen - sowohl im zugrundeliegenden Verwaltungsverfahren als auch in diesem verfassungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren unbestritten gebliebenen - Sachverhaltes wird dieses Erkenntnis wie folgt begründet:

"Ausgehend vom festgestellten Sachverhalt erweist sich aber die rechtliche Beurteilung des Disziplinarrates als zutreffend.

Denn der Beschuldigte hat ohne jeden Vorbehalt 'ewiges' Ruhen des Verfahrens vor dem Arbeits- und Sozialgericht Wien vereinbart. Da diese Vereinbarung mithin bedingungs- und vorbehaltslos erfolgte, durfte sie der Beschuldigte nicht später dahin umdeuten, daß sie nur unter bestimmten weiteren Voraussetzungen gelten soll; er hatte vielmehr zu seinem Wort zu stehen und die Vereinbarung so einzuhalten, wie er sie mit dem Gegenanwalt abgeschlossen hat. Daß er sich in der Folge über diese Vereinbarung hinwegsetzte, indem er (nach Ablauf der Drei-Monate-Frist) die Fortsetzung des Verfahrens beantragte, stellt demnach sowohl eine Verletzung der Berufspflichten als auch eine Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes dar, und zwar nicht nur (worauf der Disziplinarrat in den Gründen des angefochtenen Erkenntnisses abstellt) im Hinblick auf die Art und Weise, wie der Beschuldigte (ohne zuvor die Gegenseite zu kontaktieren) den Fortsetzungsantrag gestellt hat, sondern (schon) im Hinblick darauf, daß er einen solchen Antrag bei der gegebenen Sachlage überhaupt gestellt hat (worauf sich der Spruch des angefochtenen Erkenntnisses - zutreffend - bezieht).

Der Disziplinarrat hat somit - entgegen dem Rechtsstandpunkt des Berufungswerbers - im Ergebnis zu Recht einen Schuldspruch gefällt, weshalb der Berufung ein Erfolg versagt bleiben muß."

3. Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, in welcher die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte, der Sache nach insbesondere des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des bekämpften Bescheides begehrt wird.

Begründet wird die Beschwerde mit Hinweisen auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes VfSlg. 11.776/1988, wonach eine Verurteilung nach §2 des - hier (noch) anzuwendenden (der angefochtene Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 27. Dezember 1990 zugestellt; vgl. ArtV, insbes. Z1 des BG BGBl. 474/1990) - Gesetzes betreffend die Handhabung der Disziplinargewalt über Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter, RGBl. 40/1872 (im folgenden: DSt), nur dann dem auch im Disziplinarverfahren der Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter anzuwendenden Art7 MRK entspreche, wenn sie wegen einer Verletzung von Berufspflichten oder wegen eines Verstoßes gegen Ehre und Ansehen des Standes erfolge, wobei sich diese Tatbestände aus gesetzlichen Regelungen oder aus verfestigten Standesauffassungen ergeben, die in einer dem Klarheitsgebot entsprechenden Bestimmtheit feststehen müßten; der Vorwurf der Verletzung der Berufspflichten bzw. von Ehre und Ansehen des Standes im Hinblick auf Art7 MRK müsse entsprechend konkretisiert sein. Bloße Erwägungen der Disziplinarbehörde darüber, warum einem Beschuldigten sein Verhalten subjektiv vorwerfbar sei, genügten nicht; dem Disziplinarerkenntnis müsse entnommen werden können, gegen welche konkreten Berufspflichten der Beschwerdeführer verstoßen und welche Standespflichten er verletzt habe, sodaß das inkriminierte Verhalten als Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes zu werten sei.

Im vorliegenden Fall habe die belangte Behörde weder angegeben, gegen welche konkrete Berufspflicht der Beschwerdeführer verstoßen habe, noch welche Standespflicht er verletzt haben sollte. Der ihm zur Last gelegte Vorwurf, eine bedingungs- und vorbehaltslos geschlossene Ruhensvereinbarung unzulässig umgedeutet und widerrufen zu haben, gehe über die Qualität einer bloßen Erwägung nicht hinaus, da die Zulässigkeit, eine Ruhensvereinbarung zu widerrufen, in Rechtsprechung und Lehre unbestritten sei. Die Argumentation, er dürfe die Vereinbarung, da er sie geschlossen habe, nicht widerrufen, stehe an sich mit der - näher begründeten - materiell-rechtlichen Zulässigkeit des von ihm gesetzten Schrittes in Widerspruch.

Die belangte Behörde sei nicht auf sein Vorbringen eingegangen, "daß ja die der Ruhensvereinbarung zu Grunde liegende materielle Vereinbarung nicht eingehalten wurde." Er sei im Interesse seines Mandanten gezwungen gewesen, das ruhende Verfahren fortzusetzen, weil die Basis der formellen Ruhensvereinbarung durch die Nichterfüllung des materiellen Vergleiches weggefallen sei.

Die belangte Behörde habe es in ihrer Begründung verabsäumt, die Grundlagen der allgemeinen gesellschaftlichen Anschauungen noch allfällige gefestigte Gewohnheiten des jeweiligen Berufsstandes in einer Art und Weise ihrer Entscheidung zugrunde zu legen, daß deren Übereinstimmung mit dem Gesetz überprüft werden könnte. Nach Ansicht der Beschwerde leidet der angefochtene Bescheid an einem völligen Fehlen nachvollziehbarer Begründungen, was eine der Überprüfung des Verfassungsgerichtshofes zugängliche grobe Fehlerhaftigkeit (im Sinne von VfSlg. 10.065/1986, 10.757/1986) darstelle. Auch ein Abwägen von Gründen und in der Berufung aufgezeigten Gegengründen sei nicht zu erkennen.

4. Die OBDK als belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in welcher sie den angefochtenen Bescheid verteidigt und die Abweisung der Beschwerde beantragt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Bei der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der angewendeten Rechtsvorschriften (vgl. zur Unbedenklichkeit des §2 DSt VfSlg. 7494/1975, 9160/1981, 11.007/1986, 11.350/1987) kann eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg. 10.413/1985, 11.682/1988) nur vorliegen, wenn die Behörde der angewendeten Rechtvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn sie bei Erlassung des Bescheides Willkür geübt hat.

2. Der belangten Behörde ist hier letzterer Vorwurf zu machen.

Sie erkennt zutreffend, daß Spruch und Begründung des erstinstanzlichen Bescheides an einem inneren Widerspruch leiden. Ersterer stellt nämlich darauf ab, daß der Beschwerdeführer bei der gegebenen Sachlage überhaupt einen Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens vor dem Arbeits- und Sozialgericht gestellt hat. Hingegen ist der Begründung dieses Bescheides zu entnehmen, daß dem Beschuldigten zuzugestehen sei, daß auch die Bekämpfung einer Vereinbarung über die Prozeßbeendigung durch ewiges Ruhen des Verfahrens möglich und im Interesse des Klienten vertretbar sein könne, daß aber dem Beschwerdeführer "durch seinen ohne Vorankündigung gestellten Fortsetzungsantrag" (S. 11 des erstinstanzlichen Bescheides) ein disziplinarrechtlich zu ahndendes Verhalten vorzuwerfen sei; "nicht die Wiederaufnahme ... an sich, sondern die dabei eingeschlagene Vorgangsweise" (S. 12 des erstinstanzlichen Bescheides) wird ihm dort zum Vorwurf gemacht.

Dagegen vertritt die belangte Behörde die Meinung, die vom Beschwerdeführer getroffene Vereinbarung über das Ruhen des Verfahrens sei bedingungs- und vorbehaltslos erfolgt, und es sei dem Beschwerdeführer sowohl vorzuwerfen, daß, aber auch wie er die Fortsetzung des strittigen Verfahrens betrieben habe.

Damit ist ihr aber deshalb ein in die Verfassungssphäre reichender Fehler unterlaufen, weil ihre Auffassung, das Betreiben der Fortsetzung eines als ruhend vereinbarten Verfahrens sei in jedem Fall disziplinär zu ahnden, verfehlt ist. Denn ein solches Verhalten eines Rechtsanwaltes kann nicht nur zulässig, sondern im Interesse des Klienten auch geboten sein. Ein disziplinär zu ahndendes Verhalten kann jedoch nur angenommen werden, wenn im Einzelfall ein spezifisch vorwerfbares Verhalten hinzutritt. Im vorliegenden Fall hatte aber der Beschwerdeführer im zugrundeliegenden Verwaltungsverfahren vorgebracht, daß sein Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens, welches als ruhend vereinbart worden war, im ausdrücklichen Auftrag seines Klienten deshalb erfolgte, weil die Gegenseite die in dieser Vereinbarung übernommenen Zusagen nicht erfüllt habe. Unter dieser Voraussetzung käme aber auch dem Umstand keine entscheidende Bedeutung zu, daß der Beschwerdeführer vor Stellung des Antrages auf Fortsetzung des Verfahrens den gegnerischen Anwalt nicht kontaktiert hat. Denn diesfalls wäre es offensichtlich im Interesse des Klienten des Beschwerdeführers gelegen gewesen, diesen Schritt unverzüglich zu setzen. Auch mußten sowohl der Prozeßgegner wie dessen Vertreter in diesem Falle ohne weiteres mit einer solchen Antragstellung rechnen, sodaß ihnen gegenüber objektiv betrachtet keinerlei Verhalten des Beschwerdeführers angenommen werden könnte, welches mit der Ehre und dem Ansehen des Standes unvereinbar wäre bzw. die Verletzung einer Berufspflicht darstellen würde.

Der angefochtene Bescheid erweist sich daher als willkürlich. Er verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz und war demgemäß aufzuheben.

III. 1. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG. In den zugesprochenen Prozeßkosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von

S 2.500,-- enthalten.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz und §19 Abs4 Z2 VerfGG ohne vorangehende mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Rechtsanwälte, Disziplinarrecht Rechtsanwälte

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1991:B130.1991

Dokumentnummer

JFT_10088875_91B00130_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten