TE Vfgh Erkenntnis 1992/11/30 B1310/90

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Veröffentlicht am 30.11.1992
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Index

10 Verfassungsrecht
10/10 Grundrechte, Datenschutz, Auskunftspflicht

Norm

StGG Art8
EMRK Art3
PersFrSchG §4
VStG §35 litc
EGVG ArtIX Abs1 Z1

Leitsatz

Keine Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit durch Festnahme und Anhaltung; vertretbare Annahme der Ordnungsstörung; keine Verletzung im Recht auf Unterlassung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch seine Festnahme durch ein Organ der Bundespolizeidirektion Wien am 19. Oktober 1990 um etwa

17.30 Uhr, seine nachfolgende Anhaltung bis 21.30 Uhr dieses Tages sowie durch die Gewaltanwendung anläßlich seiner Festnahme durch Organe der Bundespolizeidirektion Wien weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Der Beschwerdeführer ist schuldig, dem Bund zu Handen der Finanzprokuratur die mit S 50.000,-- bestimmten Kosten des Verfahrens binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.a) In der auf Art144 B-VG gestützten Beschwerde wird vorgebracht, der Beschwerdeführer sei am 19. Oktober 1990 in einer Gruppe von mehreren Radfahrern über die Grünbergstraße im

12. Wiener Gemeindebezirk stadtauswärts in Richtung Graf Seilern Gasse gefahren. An einer - in der Beschwerde näher bezeichneten - Stelle sei die Gruppe von einem Beamten der Bundespolizeidirektion Wien angehalten worden. Als sich der Beschwerdeführer bei einem Sicherheitswachebeamten nach dem Grund der Fahrtunterbrechung erkundigte, sei er von Bezirksinspektor M R zur Ausweisleistung aufgefordert worden. Der Beamte habe sich mit dem ihm vom Beschwerdeführer übergebenen Ausweis entfernt, worauf der Beschwerdeführer in der Annahme, der Ausweis werde ihm nach Aufnahme der Personalien wieder ausgefolgt werden, mitgegangen sei. Ein anderer Beamter habe "schließlich" Bez.Insp. R aufgefordert, den Beschwerdeführer festzunehmen. Bez.Insp. R habe - ohne Angabe von Gründen - "unverzüglich" die Festnahme ausgesprochen. Der Beschwerdeführer sei sodann von vier Beamten ergriffen worden, "sodaß" er zu Sturz gekommen sei, "wobei" er von einem Beamten am Kinn so erfaßt worden sei, daß der Kopf des Beschwerdeführers im Rahmen seines Fahrrades eingeklemmt und festgehalten gewesen sei. Weiters sei die linke Hand des Beschwerdeführers durch einen Beamten nach hinten gebogen worden, sodaß das Handgelenk überdreht worden sei. Schließlich hätten die Beamten den Beschwerdeführer aus dem Rahmen des Rades gelöst und ihn unter Gewaltanwendung so zu Boden gebracht, daß er mit dem Gesicht zu Boden gekehrt gewesen sei.

Die Festnahme des Beschwerdeführers sei grundlos ausgesprochen worden. Der Beschwerdeführer habe weder geschrien noch Beschimpfungen ausgestoßen, der festnehmende Beamte habe nicht mit gutem Grund zur Auffassung gelangen können, daß der Beschwerdeführer eine Verwaltungsübertretung begangen habe. Überdies mangle es an einer Abmahnung sowie an der für den Festnehmungsgrund des §35 litc VStG 1950 erforderlichen Fortsetzung der strafbaren Handlung.

Die Vorgangsweise der Sicherheitswachebeamten derart, daß ein Beamter den Kopf des Beschwerdeführers erfaßt und unter erheblicher Gewaltanwendung "innerhalb des Rahmens des Fahrrades des Beschwerdeführers eingeklemmt" habe, sei keinesfalls als notwendig und maßhaltend anzusehen. Desgleichen sei das Zurückdrehen der linken Hand nach hinten, wodurch es zu einer Überdrehung des Handgelenkes gekommen sei, keine zur Erreichung des Zweckes der Amtshandlung notwendige und maßhaltende Maßnahme. Diese Vorgangsweise stelle eine erniedrigende, die Menschenwürde des Beschwerdeführers verletzende Behandlung im Sinne des Art3 EMRK dar.

b) Der Beschwerdeführer beantragt daher, der Verfassungsgerichtshof wolle feststellen, daß er durch seine Verhaftung, seine nachfolgende Anhaltung bis 21.30 Uhr und die im Zuge der Festnahme erfolgte Behandlung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf persönliche Freiheit und auf Unterlassung erniedrigender oder unmenschlicher Behandlung verletzt worden sei.

2. Die - durch die Finanzprokuratur vertretene - belangte Bundespolizeidirektion Wien begehrt in einer Gegenschrift die Abweisung bzw. Zurückweisung der Beschwerde.

In der Gegenschrift wird der in der Beschwerde dargestellte Sachverhalt weitgehend bestritten und ausgeführt, am 19. Oktober 1990 gegen 17.15 Uhr hätten ca. 50 Personen - darunter auch der Beschwerdeführer - in Wien 12, Graf Seilern Gasse den ersten Fahrstreifen der Fahrbahn "besetzt". Während Bez.Insp. R den Ausweis des Beschwerdeführers überprüft habe, sei ihm der Beschwerdeführer mehrmals mit dem Fahrrad gegen die Beine gefahren. Der Beschwerdeführer habe sein Verhalten damit begründet, daß ihm dies unabsichtlich passiere. Da alle Aufforderungen des Sicherheitswachebeamten an den Beschwerdeführer, dieses Verhalten einzustellen, keine Wirkung gezeigt hätten, habe der Beamte versucht, den Beschwerdeführer mit der rechten Hand auf Distanz zu halten. Als Bez.Insp. R den Körper des Beschwerdeführers mit der rechten Hand berührt habe (wobei es sich hiebei keinesfalls um einen Schlag oder Stoß gehandelt habe), habe sich der Beschwerdeführer völlig grundlos zu Boden fallen lassen, laut um Hilfe gerufen, sich an sein Fahrrad geklammert und zugleich - mit näher angeführten Worten - die Polizeibeamten beschimpft. Als der Beschwerdeführer weiterhin lautstark herumgeschrien und zahlreiche Schimpfwörter verwendet habe und mehrmalige Abmahnungen des Beamten ergebnislos geblieben seien, habe der Sicherheitswachebeamte um

17.30 Uhr die Festnahme des Beschwerdeführers ausgesprochen. Der Beschwerdeführer habe sich weiterhin geweigert, sein Fahrrad loszulassen. Der Beschwerdeführer habe sein Fahrrad so fest umklammert, daß mehrere Sicherheitswachebeamte trotz Anwendung entsprechender Körperkraft zahlreiche Versuche benötigt hätten, um auch nur eine Hand des Beschwerdeführers vom Fahrrad zu lösen. Der Beschwerdeführer sei schließlich mittels Arrestantenwagen in den Arrest abgegeben und nach Einvernahme zum Sachverhalt um 21.30 Uhr desselben Tages aus der Haft entlassen worden.

Der die Festnahme aussprechende Beamte - heißt es in der Gegenschrift weiter - habe zu der vertretbaren Auffassung gelangen können, der Beschwerdeführer habe die Tatbilder der Verwaltungsübertretungen nach ArtVIII und ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 verwirklicht. Die Behauptung des Beschwerdeführers, er sei nach erfolgter Ausweisleistung über Aufforderung eines anderen Beamten von Bezirksinspektor R grundlos festgenommen worden, entspreche nicht den Tatsachen. Die Festnahme sei erst erfolgt, nachdem sich der Beschwerdeführer grundlos zu Boden habe fallen lassen und trotz mehrmaliger Abmahnung und Androhung der Festnahme in ordinärer Weise herumgeschrien habe. Die Festnahme sei daher nach §35 litc VStG 1950 gerechtfertigt gewesen.

Auch die Gewaltanwendung gegen den Beschwerdeführer sei maßhaltend erfolgt. Zum Nachweis ihres Vorbringens legt die Finanzprokuratur ein Foto aus einer - näher genannten - Wochenzeitschrift vor (s. dazu unten unter Pkt. II.1.).

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1.a) Der Verfassungsgerichtshof hat Beweis erhoben durch die Einvernahme der Zeugen B R, Bez.Insp. M R und M S sowie des Beschwerdeführers als Partei im Rechtshilfewege.

Während Bez.Insp. R das Geschehen im wesentlichen so schilderte wie in der Gegenschrift, gab der Beschwerdeführer - im Gegensatz zu seinen Ausführungen in der Beschwerde - an, er habe nach seiner Festnahme sein Fahrrad festgehalten, weil er dieses nicht allein auf der Straße habe stehen lassen wollen. Einer der Beamten habe ihn dann weiter drängen wollen und ihn dabei an der Schulter genommen. Alles andere sei dann sehr schnell gegangen. Plötzlich sei eine Reihe von Polizisten und anderen Personen um ihn herum gewesen. Wie er genau zu Sturz gekommen sei, wisse er nicht mehr. Warum er sich an das Rad geklammert habe, sei ihm im nachhinein auch nicht klar, das ganze sei "irgendwie eskaliert". Wie man auch auf dem vorgelegten Foto sehe, habe einer der Beamten versucht, seine rechte Hand unter dem Fahrrad durchzuziehen, während der andere den Kopf nach oben drücken wollte. Wie es genau zu der auf dem Bild zu sehenden Situation gekommen sei, könne er nicht mehr sagen, er sei damals "wohl sehr im Streß" gewesen. Es sei jedenfalls nicht richtig, daß er einem Beamten mehrmals mit dem Fahrrad gegen die Beine gefahren sei.

Der Zeuge R - Teilnehmer an der Fahrradmanifestation - gab an, er sei, als er Schreie gehört habe, nach vorne gelaufen und habe dort den Beschwerdeführer auf dem Boden knieend und sein Fahrrad festhaltend gesehen. Von einem Zu-Sturz-Kommen im eigentlichen Sinn könne man vielleicht nicht sprechen; es sei vielmehr so gewesen, daß der Beschwerdeführer einerseits sein Rad festgehalten habe und andererseits die Polizeibeamten an ihm gezerrt hätten. So sei es dann geschehen, daß der Beschwerdeführer "plötzlich seinen Hals irgendwo zwischen den Fahrradstangen eingeklemmt hatte". Der Beschwerdeführer habe um Hilfe geschrien.

Der Zeuge S - ebenfalls Teilnehmer an der Fahrradmanifestation - sagte aus, er habe von der Amtshandlung gegen den Beschwerdeführer "relativ wenig" gesehen und gehört. Er habe nur gesehen, daß ein Polizeibeamter mit einem Ausweispapier in der Hand sich vom Beschwerdeführer entfernt habe und der Beschwerdeführer dem Polizisten nachgelaufen sei. Es habe zwischen dem Beschwerdeführer und dem Polizisten ein kurzes Gespräch stattgefunden, welches seitens des Beamten auf den Zeugen "einen eher heftigen Eindruck" gemacht habe. Der Beschwerdeführer sei dann zu seinem Fahrrad zurückgegangen und auf einmal habe ihn der Zeuge "fürchterlich schreien" gehört. Er sei dann näher gegangen, um zu sehen was los sei, zumal sich vor ihm (dem Zeugen) auch noch andere Menschen befunden hätten. Da habe er den Beschwerdeführer auf dem Boden liegen gesehen und beobachtet, wie sich vier oder fünf Polizisten über den Beschwerdeführer gebeugt und an ihm "herumgezerrt" hätten. Der Erinnerung des Zeugen nach sei dabei der Kopf des Beschwerdeführers zwischen Vorderrad und Rahmen des Fahrrades "gelangt". Einen konkreten Ausspruch der Festnahme des Beschwerdeführers durch einen Beamten habe er nicht gehört. Es sei aber so gewesen, daß sich "im Umfeld auch noch andere Ereignisse begeben" hätten.

b) Das mit der Gegenschrift vorgelegte Foto zeigt den am Boden sitzenden Beschwerdeführer, der mit beiden Oberarmen ein Fahrrad an dessen schräg nach unten verlaufender Querstange umklammert hat und sich mit beiden Händen an - nicht genau erkennbaren - Stellen des Fahrrades festhält. Ein hinter dem Beschwerdeführer stehender Polizeibeamter hält mit seiner (geöffneten) Hand den Beschwerdeführer am Kinn fest, während ein vor dem Beschwerdeführer gebückt stehender Beamter mit seiner rechten Hand die das Fahrrad festhaltende rechte Hand des Beschwerdeführers ergriffen hat. Das Fahrrad ist auf dem Foto als Damenfahrrad (ohne horizontal verlaufende Querstange) erkennbar. Daß der Kopf des Beschwerdeführers im Rahmen des Fahrrades eingeklemmt wäre, ist auf dem Foto nicht ersichtlich (und wäre mangels einer zweiten Querstange wohl auch nicht möglich gewesen).

2.a) Aufgrund des Parteienvorbringens sowie des Beweisverfahrens steht folgender - hier entscheidungsrelevanter - Sachverhalt fest:

Der Beschwerdeführer fuhr am 19. Oktober 1990 mit einer Gruppe von Radfahrern durch Wien. In der Graf Seilern Gasse im 12. Bezirk forderte Polizeibezirksinspektor M R den Beschwerdeführer zur Ausweisleistung auf. Während der Beamte den Ausweis des Beschwerdeführers überprüfte, stieß der Beschwerdeführer mit dem Rad mehrmals gegen die Beine des Sicherheitswachebeamten. Daraufhin machte der Beamte mit der Hand eine Abwehrbewegung, der Beschwerdeführer schrie lautstark herum und beschimpfte die Polizei. Nachdem Abmahnungen von seiten des Bez.Insp. R ergebnislos geblieben waren, sprach dieser Beamte um 17.30 Uhr die Festnahme des Beschwerdeführers aus.

Der Beschwerdeführer weigerte sich, sein Fahrrad loszulassen und klammerte sich in der oben (Pkt. 1.b) beschriebenen Weise an dieses. Seine Hände mußten zur Durchsetzung der Festnahme von mehreren Sicherheitswachebeamten mit Gewalt vom Fahrrad gelöst werden. Der Beschwerdeführer wurde in der Folge in den Arrest eingeliefert und nach Einvernahme durch einen Vertreter der belangten Bundespolizeidirektion um 21.30 Uhr desselben Tages aus der Haft entlassen.

b) Zu diesen Feststellungen gelangte der Verfassungsgerichtshof vor allem aufgrund des vorgelegten Fotos und der durchaus schlüssigen Angaben des die Amtshandlung durchführenden Polizeibeamten R. Der Beschwerdeführer hat seine Behauptungen in der Beschwerde über das Einklemmen seines Kopfes im Rahmen seines Fahrrades, welche mit dem in der Folge vorgelegten Foto nicht übereinstimmen, bei seiner nachfolgenden Vernehmung als Partei nicht mehr aufrecht erhalten, ebenso sein Beschwerdevorbringen, die Beamten hätten ihn zu Sturz gebracht.

Die vom Beschwerdeführer namhaft gemachten Zeugen R und S konnten zum Sachverhalt keine wesentlichen Angaben machen. Während der Zeuge R lediglich wahrgenommen hat, daß die Beamten versuchten, den sein Fahrrad festhaltenden Beschwerdeführer von diesem wegzuzerren und der Zeuge eher diffus erklärte, so sei es "dann geschehen, daß der Beschwerdeführer plötzlich seinen Hals irgendwo zwischen den Fahrradstangen eingeklemmt hatte", hat der Zeuge S von der Amtshandlung "relativ wenig" gehört und gesehen und erklärt, mehrere Beamte hätten an dem schreienden, sein Fahrrad festhaltenden Beschwerdeführer "herumgezerrt".

Bei diesen Beweisergebnissen sieht sich der Verfassungsgerichtshof nicht in der Lage, das Beschwerdevorbringen, welches vom Beschwerdeführer in der Folge - offensichtlich aufgrund des inzwischen vorgelegten Fotos - in einem entscheidenden Punkt abgeschwächt wurde, als erwiesen anzunehmen. Dies gilt auch für die - in einem gewissen Ausmaß vom Zeugen S bestätigte - Behauptung, der Beschwerdeführer sei völlig grundlos, gleichsam aus heiterem Himmel, plötzlich festgenommen worden, nur weil er dem sich mit dem Ausweis entfernenden Sicherheitswachebeamten R nachgegangen sei. Ein derartiger Ablauf des Geschehens widerspricht jeder inneren Wahrscheinlichkeit. Überdies hat der Zeuge S die Vorgänge zwischen dem Beschwerdeführer und dem Polizeibeamten R auch nicht lückenlos und eindeutig wahrgenommen, weil er erst "näher hingegangen" ist, als er den Beschwerdeführer schreien hörte, "um zu sehen, was los sei, zumal ja zunächst vor mir sich auch noch andere Menschen befunden hatten".

3. Der festgestellte Sachverhalt ist rechtlich wie folgt zu beurteilen:

Vorausgeschickt wird hier, daß dieses beim Verfassungsgerichtshof am 1. Jänner 1991 bereits anhängig gewesene Verfahren (über eine Beschwerde gegen Akte polizeilicher Befehls- und Zwangsgewalt) kraft der Übergangsbestimmung des ArtIX Abs2 (iVm ArtX Abs1 Z1) des Bundesverfassungsgesetzes vom 29. November 1988 (Bundes-Verfassungsgesetz-Novelle 1988), BGBl. 685, nach der "bisherigen" Rechtslage, d.h. nach der Rechtslage bis zum 31. Dezember 1990, zu Ende zu führen ist.

a) Zur Festnahme und Anhaltung des Beschwerdeführers:

Art8 des - gemäß Art8 Abs4 des BVG BGBl. 684/1988 hier noch anzuwendenden - StGG gewährt - ebenso wie Art5 EMRK (s. VfSlg. 7608/1975, 8815/1980) - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung" (s. VfSlg. 3315/1958, 9919/1984, 10441/1985 ua.):

Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit RGBl. 87/1862, das gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, legt in seinem §4 fest, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen.

§35 VStG 1950 ist ein solches Gesetz (zB VfSlg. 7252/1974), doch setzt die Festnehmung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in allen in dieser Gesetzesvorschrift angeführten Fällen (lita bis c) voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird: Sie muß also eine als Verwaltungsübertretung strafbare Handlung begehen und bei Verübung des Delikts angetroffen werden. Gemäß der litc des §35 VStG 1950 ist eine Festnahme unter den schon umschriebenen Voraussetzungen zum Zweck der Vorführung vor die Behörde aber nur dann statthaft, wenn der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht. Freilich kommt es hier nicht auf die Richtigkeit des erhobenen Vorwurfs an; es genügt vielmehr, wenn das amtshandelnde Sicherheitsorgan aus damaliger Sicht - nach Lage des Falles - mit gutem Grund (d.i. vertretbar) der - sujektiven - Auffassung sein durfte, daß die in Rede stehende Tat verübt worden sei (vgl. zB VfSlg. 4143/1962, 7309/1974, 10321/1985, 10441/1985, VfGH 26.2.1991 B538/89 und 25.2.1992 B1409/90).

Alle diese Voraussetzungen lagen hier vor:

Nach dem festgestellten Sachverhalt konnte der die Festnahme vornehmende Sicherheitswachebeamte R vertretbarerweise davon ausgehen, daß der Beschwerdeführer durch sein Verhalten (lautstarkes Herumschreien und Beschimpfen der Polizei trotz Abmahnung) eine Verwaltungsübertretung nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 begangen hatte (zu ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 vgl. zB VfSlg. 11146/1986 und die dort angeführte Vorjudikatur). Bei diesem Ergebnis ist es entbehrlich zu untersuchen, ob der Beamte vertretbarerweise auch das Vorliegen des Straftatbestandes nach ArtVIII EGVG 1950 annehmen konnte. Bez.Insp. R konnte jedenfalls im Hinblick darauf, daß der Beschwerdeführer in seinem Verhalten verharrte, auch vertretbarerweise davon ausgehen, daß der Beschwerdeführer dieses Verhalten fortsetzen werde.

Die Festnahme des Beschwerdeführers ist also gemäß §35 litc VStG 1950 rechtmäßig erfolgt.

Angesichts der Verfahrensergebnisse ist es unter gebührender Bedachtnahme auf die Begleitumstände des Falles nicht zweifelhaft, daß der Beschwerdeführer ohne unnötige Verzögerung einvernommen und daraufhin aus der Haft entlassen wurde (vgl. zB VfSlg. 8146/1977, 9980/1984). In der Beschwerde wird auch nicht behauptet, daß die Dauer der Anhaltung des Beschwerdeführers ungebührlich lang gewesen sei oder die Behörde sich unnötige Verzögerungen zuschulden habe kommen lassen.

b) Zur Gewaltanwendung gegen den Beschwerdeführer:

Im Beweisverfahren ist - wie der oben dargelegte Sachverhalt zeigt - kein Anhaltspunkt dafür hervorgekommen, daß gegen den Beschwerdeführer Gewalt in unangemessener oder brutaler Form (etwa durch Einklemmen des Kopfes im Fahrradrahmen) angewendet worden wäre oder daß die Sicherheitswachebeamten den Beschwerdeführer sonst in einer in den Schutzbereich des Art3 EMRK fallenden herabsetzenden oder demütigenden Art und Weise (vgl. zB VfSlg. 11687/1988 und die dort zitierte Vorjudikatur) behandelt hätten. Das Beweisverfahren hat (lediglich) ergeben, daß die Beamten angemessene Gewalt gegen den sich seiner Festnahme durch Anklammern an sein Fahrrad widersetzenden Beschwerdeführer gebraucht haben.

4. Da die behaupteten Grundrechtsverstöße somit insgesamt nicht stattgefunden haben und auch sonst nicht hervorgekommen ist, daß der Beschwerdeführer durch die inkriminierten Amtshandlungen in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht oder wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden wäre, ist die Beschwerde abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VerfGG.

Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Festnehmung, Mißhandlung, Radfahrer, Ordnungsstörung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1992:B1310.1990

Dokumentnummer

JFT_10078870_90B01310_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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