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41/02 Passrecht Fremdenrecht;Norm
AsylG 1991 §1 Z1;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Leukauf und die Hofräte Dr. Kremla, Dr. Händschke, Dr. Baur und Dr. Bachler als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Klebel, über die Beschwerde der E, vertreten durch Dr. G, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 30. September 1994, Zl. 4.344.947/1-III/13/94, betreffend Asylgewährung, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die Beschwerdeführerin, eine türkische Staatsangehörige kurdischer Nationalität, die am 22. August 1994 in das Bundesgebiet eingereist ist, hat den Bescheid des Bundesasylamtes vom 25. August 1994, mit dem ihr Asylantrag abgewiesen worden war, mit Berufung bekämpft. Mit Bescheid vom 30. September 1994 wies die belangte Behörde die Berufung gemäß § 66 Abs. 4 AVG ab.
Der Verfassungsgerichtshof lehnte die Behandlung der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde mit Beschluß vom 5. Dezember 1994, B 2397/94-3, ab und trat diese gleichzeitig dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab. In der im verwaltungsgerichtlichen Verfahren beigebrachten Beschwerdeergänzung macht die Beschwerdeführerin Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Die Beschwerdeführerin hat bei ihrer niederschriftlichen Einvernahme durch das Bundesasylamt am 24. August 1994 angegeben, sie habe bereits zu einem früheren, ihr nicht mehr exakt erinnerlichen Zeitpunkt gemeinsam mit ihrem geschiedenen Ehegatten in Deutschland um Asyl angesucht. Ihr Antrag sei aber abgewiesen und sie in ihr Heimatland abgeschoben worden. Sie sei dort - weil sie nicht im Besitz eines Reispasses gewesen sei - sofort am Flughafen festgenommen und für zwei Monate in einer dunklen Zelle inhaftiert, fünf bis sechs mal verhört und hiebei mit Gummiknüppeln geschlagen sowie an den Haaren gerissen worden. Die Beamten seien ungehalten gewesen, weil die Beschwerdeführerin im Ausland um Asyl angesucht habe. Anschließend sei sie mit ihrem geschiedenen Ehegatten nach Kizirli gezogen, wo sie eines Tages - sie habe sich allein zu Hause befunden - fünf PKK-Kämpfer über deren Verlangen verpflegt habe. Das Dorf sei daraufhin am Abend von Regierungssoldaten umzingelt worden. Die Beschwerdeführerin sei mit vielen anderen Dorfbewohnern festgenommen und für zehn Tage inhaftiert worden. Es sei ihr vorgeworfen worden, PKK-Kämpfer unterstützt zu haben. Sie sei am ersten Tag der Haft und anschließend bei den Verhören verprügelt worden. Zwei Monate vor ihrer Ausreise hätten linksgerichtete Dorfbewohner auf einer Tür des Hauses der Beschwerdeführerin ein Plakat der PKK aufgehängt, welches bei einer Hausdurchsuchung wahrgenommen worden sei. Die Beschwerdeführerin sei daraufhin für fünfzehn Tage inhaftiert und während der Einvernahmen mißhandelt worden. Anschließend sei sie "rausgeschmissen" worden. Die Beschwerdeführerin habe weder die Soldaten noch die PKK unterstützen wollen, aus Angst vor den PKK-Kämpfern diesen aber doch geholfen. In die Westtürkei sei sie deshalb nicht umgezogen, weil es dort auch nicht anders sei als in Südostanatolien. Auf die Frage, ob sie in Deutschland aus ähnlichen Gründen um Asyl angesucht habe, gab die Beschwerdeführerin an, sie habe damals nicht viel erzählt, sondern sich ihrem Gatten angeschlossen.
In der gegen den erstinstanzlichen Bescheid erhobenen Berufung wandte sich die Beschwerdeführerin sowohl gegen die Verneinung ihrer Flüchtlingeigenschaft als auch gegen die von der Behörde erster Instanz angenommene Verfolgungssicherheit während ihrer Aufenthalte in den im Zuge ihres Reiseweges durchquerten Staaten Bulgarien, Rumänien und Ungarn. Hinsichtlich Bulgarien und Rumänien legte die Beschwerdeführerin ihrer Berufung schriftliche Ausführungen des Hochkommissärs der Vereinten Nationen für die Flüchtlinge bei, in denen dieser darlegte, daß es in Rumänien lediglich rudimentäre innerstaatliche Asylverfahrensvorschriften gäbe, die keinen qualitativen Rechtsschutz garantierten. Die im Ansatz eingerichteten Asylbehörden nähmen ihre Aufgaben regelmäßig nicht wahr, das Refoulement-Verbot sei wiederholt verletzt worden. In Bulgarien stehe kein Gesetz über die Feststellung der Flüchtlingeigenschaft in Kraft; wohl nähmen die bulgarischen Behörden fallweise Asylanträge entgegen, doch seien bislang keine meritorischen Entscheidungen getroffen worden. Insbesondere Asylwerber ohne ausreichende Personaldokumente oder ohne bulgarischen Sichtvermerk würden ohne Prüfung ihres Asylantrages in Drittstaaten oder in ihre Herkunftsländer zurückgestellt.
Die belangten Behörde hat das Vorbringen der Beschwerdeführerin zunächst dahin gewürdigt, daß ihren Angaben keine individuell gegen ihre Person gerichtete, konkrete Verfolgung entnommen werden könne. Hiebei hat die belangte Behörde, soweit sie sich auf die nach Angaben des ehemaligen Ehepartners der Beschwerdeführerin mit Oktober 1992 zu datierenden Vorgänge im Zuge ihrer Rückkehr aus Deutschland bezogen hat, richtig erkannt, daß die in diesem Zusammenhang geltend gemachten Verfolgungshandlungen im Zeitpunkt der Ausreise der Beschwerdeführerin zeitlich bereits zu weit zurücklagen, um noch als maßgeblich für ihre Flucht angesehen werden zu können (vgl. für viele andere z.B. das hg. Erkenntnis vom 17. Juni 1994, Zl. 92/01/1081).
Hingegen kann der belangten Behörde nicht gefolgt werden, wenn sie die im Frühjahr des Jahres 1994 ins Treffen geführte Inhaftierung und Mißhandlung deshalb für die Glaubhaftmachung eines Fluchtgrundes als nicht geeignet angesehen hat, weil diesen Drangsalierungen auch viele andere Bewohner des Dorfes ausgesetzt gewesen seien. Die Beschwerdeführerin hat nämlich unwiderlegt angegeben, daß sie an dem Tag des Einschreitens des Militärs fünf PKK-Kämpfer verpflegt habe. Daß die Inhaftierung der Beschwerdeführerin und insbesondere ihre während dieser Haft erlittenen Mißhandlungen nicht mit dieser Unterstützung der PKK - diese wurde der Beschwerdeführerin ihren Angaben zufolge ausdrücklich vorgeworfen - in Zusammenhang zu bringen sei, hat die belangte Behörde aber nicht dargetan.
Ebensowenig hält die Argumentation der belangten Behörde, der Umstand, daß die Beschwerdeführerin nach ihrer Inhaftierung im Zusammenhang mit dem in ihrem Haus aufgefundenen Plakat formlos freigelassen worden sei, woraus auf mangelndes Interesse des türkischen Staates an einer "nachhaltigen Belangung" der Beschwerdeführerin geschlossen werden könne, der dem Verwaltungsgerichtshof aufgegebenen Schlüssigkeitsprüfung stand. Vielmehr deuten die mehrfachen Verhaftungen der Beschwerdeführerin und insbesondere das Auffinden eines für die PKK werbenden Plakates in ihrem Haus darauf hin, daß sie bei einem Verbleib in ihrer Heimat im Hinblick auf den durch das angeführte Plakat erhärteten Verdacht, die PKK zu unterstützen, durchaus mit weiteren Verhaftungen rechnen mußte. Ihre Furcht, weiteren Verfolgungshandlungen ausgesetzt zu werden, kann daher nicht von vornherein als unbegründet angesehen werden.
Soweit die belangte Behörde der Beschwerdeführerin vorhält, ihrem Vorbringen könne nicht entnommen werden, daß sie gegen Polizeiübergriffe nicht Schutz in einem anderen Teil ihres Heimatlandes hätte finden können, ist zunächst festzuhalten, daß die Beschwerdeführerin bereits bei ihrer Ersteinvernahme in dieser Hinsicht ausgeführt hat, sie sei deshalb nicht in die Westtürkei gezogen, weil es dort auch nicht anders sei als in Südostanatolien. Dieses Vorbringen hat die Beschwerdeführerin in der Beschwerde insofern bekräftigt, als sie ausgeführt hat, sie sei in der gesamten Türkei der Gefahr von Verfolgung ausgesetzt. Dieses Vorbringen konnte sie, ohne gegen das gemäß § 41 Abs. 1 VwGG im verwaltungsgerichtlichen Verfahren geltenden Neuerungsverbot zu verstoßen, erstmals in der Beschwerde erheben, weil ihr eine auf die gesamte Türkei bezogene inländische Fluchtalternative im Verwaltungsverfahren nicht vorgehalten worden ist. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin widerlegende Ergebnisse eines diesbezüglichen Ermittlungsverfahrens können den Verwaltungsakten nicht entnommen werden, sodaß die Annahme einer inländischen Fluchtalternative nicht durch in einem mängelfreien Verfahren gewonnene Erkenntnisse der belangten Behörde gedeckt ist.
Sollte im nunmehr zufolge der Aufhebung des angefochtenen Bescheides fortzusetzenden Verwaltungsverfahren über die Berufung der Beschwerdeführerin das Vorliegen von Verfolgungssicherheit für die Beschwerdeführerin in anderen Gebieten ihres Heimatlandes neuerlich als Begründungselement in Betracht gezogen werden, wird es Aufgabe der belangten Behörde sein, hiezu entsprechende Ermittlungen anzustellen und deren Ergebnis dem Parteiengehör zu unterziehen.
Selbst wenn die belangte Behörde die Flüchtlingseigenschaft der Beschwerdeführerin bejaht hätte, wäre die Gewährung von Asyl für sie ausgeschlossen, wenn sie - wie das die belangte Behörde auch angenommen hat - in einem anderen Staat bereits vor Verfolgung sicher gewesen wäre. Die belangte Behörde ist im Gegensatz zur Behörde erster Instanz in dieser Hinsicht nicht mehr von Verfolgungssicherheit in Ungarn ausgegangen, sodaß sich Ausführungen zur Situation in diesem Land erübrigen. Was die Erlangung von Verfolgungssicherheit in Bulgarien und Rumänien anbelangt, hat die Beschwerdeführerin bereits in der Berufung unter Vorlage von Ausführungen des Hochkommissärs der Vereinten Nationen für die Flüchtlinge diese Annahme bestritten. Die belangte Behörde hat nunmehr, ohne eine Ergänzung oder Wiederholung des erstinstanzlichen Ermittlungsverfahrens anzuordnen, diesen solcherart belegten Ausführungen lediglich unter Hinweis auf die Mitgliedschaft dieser Staaten bei der Genfer Flüchtlingskonvention und auf die daraus zu erschließende Einhaltung der sich aus dieser Mitgliedschaft ergebenden Pflichten entgegengehalten, für die Verfolgungssicherheit komme es nicht darauf an, ob sich der Rückschiebeschutz durch das Bestehen eines formalisierten Feststellungsverfahrens manifestiere, oder ob die Flüchtlingseigenschaft "je in casu incidenter" von der Fremdenpolizeibehörde zu beurteilen sei. Aus diesen das Vorbringen der Beschwerdeführerin nicht widerlegenden Ausführungen der belangten Behörde folgt somit, daß - wie die Beschwerdeführerin zutreffend geltend macht - keine ausreichenden Ermittlungen gepflogen wurden, um annehmen zu können, Bulgarien und Rumänien böten als Zufluchtsstaaten von ihrer effektiv geltenden Rechtsordnung her einen dem Standard der Genfer Flüchtlingskonvention entsprechenden Schutz.
Diese Ausführungen sind nach Maßgabe der die Beschwerdeführerin im Verfahren treffenden Mitwirkungspflicht ausreichend konkretisiert, um die Wesentlichkeit der der belangten Behörde unterlaufenen Verletzung von Verfahrensvorschriften (Parteiengehör, Ermittlungs- und Begründungspflicht) zu erkennen. Die Mitwirkungspflicht der Partei geht nicht so weit, daß sich die Behörde ein ordnungsgemäßes Verfahren ersparen könnte, zu dessen Durchführung sie (hier gemäß §§ 11 und 16 Asylgesetz 1991 in Verbindung mit §§ 39, 45 und 60 AVG) verpflichtet ist (vgl. das hg. Erkenntnis vom 26. April 1984, Zl. 81/05/0019, u.v.a.). Der Mitwirkungspflicht kommt dort Bedeutung zu, wo es der Behörde nicht möglich ist, von sich aus und ohne Mitwirkung der Partei tätig zu werden (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 23. Jänner 1987, Zl. 86/11/0044, und vom 27. April 1993, Zl. 91/08/0123). Dies trifft auf die allgemein in Bulgarien und Rumänien beobachtete Vorgangsweise betreffend den Schutz von Flüchtlingen vor Rückschiebung in ihren Heimatstaat nicht zu. Die Pflicht eines Beschwerdeführers zur Darlegung der Wesentlichkeit von Verfahrensmängeln vor dem Verwaltungsgerichtshof geht nicht weiter als seine Mitwirkungspflicht im Verwaltungsverfahren gegangen wäre, hätte die belangte Behörde die Verfahrensvorschriften beachtet (vgl. das hg. Erkenntnis vom 26. Jänner 1995, Zl. 94/19/0413).
Insgesamt ergibt sich somit, daß der Sachverhalt in wesentlichen Punkten einer Ergänzung bedarf und daß die belangte Behörde in mehrfacher Hinsicht Verfahrensvorschriften verletzt hat, bei deren Einhaltung sie zu einem anderen Bescheid hätte gelangen können. Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1995:1995200026.X00Im RIS seit
20.11.2000