TE Vwgh Erkenntnis 1995/5/30 95/05/0060

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Veröffentlicht am 30.05.1995
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof;
20/01 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB);
40/01 Verwaltungsverfahren;

Norm

ABGB §1332;
AVG §37;
AVG §71 Abs1 Z1;
VwGG §46 Abs1;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Degischer und die Hofräte Dr. Giendl, Dr. Kail, Dr. Pallitsch und Dr. Bernegger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Kommissär Dr. Gritsch, über die Beschwerde der E in W, vertreten durch Dr. A, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Wien-Umgebung vom 10. Jänner 1995, Zl. 10-A-9418, betreffend Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in einer Bausache (mitbeteiligte Partei: Stadtgemeinde K, vertreten durch den Bürgermeister), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Das Land Niederösterreich hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 13.010,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Eingabe vom 15. April 1994, zur Post gegeben am selben Tag, hat die Beschwerdeführerin, vertreten durch ihre Rechtsfreunde, einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Erhebung der Vorstellung gegen einen Bescheid des Gemeinderates der Stadtgemeinde K, ferner die Vorstellung und den Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung eingebracht. Das die Wiedereinsetzung betreffende Vorbringen hatte folgenden Wortlaut:

"Der Ersatzbescheid der Stadtgemeinde K vom 15. März 1994 wurde durch den Postzusteller am 22. März 1994 in die Kanzlei des ausgewiesenen Rechtsfreundes der Vorstellungswerberin gebracht. In der zwölften Kalenderwoche war die Kanzleileiterin auf Urlaub. Ungeachtet dessen wurde das Poststück von einer sehr erfahrenen Sekretärin, Frau M, übernommen und Herrn Dr. A vorgelegt. Dieser ordnete den Fristeintrag in Form einer EDV-mäßigen Erfassung an und kontrollierte die Eintragung sodann selbst am Bildschirm.

Der Kalender in der Kanzlei des ausgewiesenen Rechtsfreundes besteht in der Form, daß jeder Kalendertag gesondert EDV-mäßig erfaßt ist und der Ausdruck des Kalenders so erfolgt, daß jeder einzelne Kalendertag auf einem eigenen Kalenderblatt ausgedruckt ist. Die Kontrolle durch Herrn Dr. A ergab, daß die gegenständliche Frist aufgrund der, einen Bestandteil des Bescheides bildenden Rechtsmittelbelehrung, eingetragen war. Dieser Kalender, der wie oben gesagt, aus den einzelnen Tagesblättern besteht, wird einmal wöchentlich ausgedruckt. Am Montag dem 28. März 1994, also in der Karwoche, kontrollierte Dr. A nochmals persönlich, ob die gegenständliche Frist eingetragen war. Er erinnert sich, daß dies der Fall war. Nach der Eintragung der gegenständlichen Frist am 22. März 1994 wurden naturgemäß durch andere Angestellte der gegenständlichen Kanzlei eine Anzahl von Fristeneintragungen vorgenommen. Durch eine Fehlbedienung, die bedauerlicherweise nicht mehr nachvollzogen werden kann, ist aber die gegenständliche Fristeintragung am wöchentlichen Ausdruck, am Dienstag nach Ostern, also am 5. April 1994, nicht mehr aufgeschienen. Der 5. April 1994 wäre der letzte Tag der Frist gewesen. Am Mittwoch, dem 6. April 1994, benötigte Herr Dr. A den Akt, da dieser auch Aktenstücke beinhaltet, die für ein Mietrechtsverfahren vor dem Bezirksgericht K über dasselbe Objekt relevant sind. Dabei mußte er feststellen, daß die gegenständliche Frist bereits um einen Tag abgelaufen war. Eine Kontrolle der betreffenden Kalenderausdrucke ergab, daß die gegenständliche Rechtsmittelfrist noch am Montag, dem 28. März 1994, beim wöchentlichen Kalenderausdruck, am Dienstag, dem 5. April 1994, als letzten Tag dieser Frist aufschien, jedoch am Ausdruck des 5. April 1994 nicht mehr vorhanden war.

Beweise: beiliegende Kalenderausdrucke."

Mit dem nunmehr in Beschwerde gezogenen Bescheid hat die belangte Behörde als vom Amt der Niederösterreichischen Landesregierung betraute Behörde den Antrag der Beschwerdeführerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgewiesen und die Vorstellung gegen den Bescheid des Gemeinderates der mitbeteiligten Stadtgemeinde vom 15. März 1994 als verspätet zurückgewiesen. Zur Begründung wurde im wesentlichen ausgeführt, in dem Antrag vom 15. April 1994 werde die Fristversäumnis auf eine "Fehlbedienung" der EDV-Anlage zurückgeführt, welche "nicht mehr nachvollzogen werden könne". Es könne daher glaubhaft keine Aussage darüber getroffen werden, ob dieses Ereignis unabwendbar war bzw. ob ein Verschulden oder nur ein minderer Grad des Versehens vorliege.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.

Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten mit einer Gegenschrift vorgelegt und ebenso wie die mitbeteiligte Partei die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 71 Abs. 1 Z. 1 AVG ist gegen die Versäumung einer Frist auf Antrag der Partei, die durch die Versäumung einen Rechtsnachteil erleidet, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn die Partei glaubhaft macht, daß sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis verhindert war, die Frist einzuhalten und sie kein Verschulden oder nur ein minderer Grad des Versehens trifft.

Der Verwaltungsgerichtshof hat im Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 25. März 1976, Slg. Nr. 9.024/A, ausgesprochen, daß nicht nur ein äußeres Ereignis, sondern auch ein Irrtum ein "Ereignis" im Sinne des § 71 Abs. 1 AVG sein kann. Nach ständiger hg. Rechtsprechung ist ein Ereignis unvorhergesehen, wenn die Partei es tatsächlich nicht mit einberechnet hat und dessen Eintritt unter Bedachtnahme auf zumutbare Aufmerksamkeit und Voraussicht nicht erwartet werden konnte. Das im Begriff der "Unvorhergesehenheit" gelegene Zumutbarkeitsmoment ist dahin zu verstehen, daß die erforderliche zumutbare Aufmerksamkeit dann noch gewahrt ist, wenn der Partei in Ansehung der Wahrung der Frist nur ein "minderer Grad des Versehens" (seit der AVG-Novelle 1990 BGBl. Nr. 357) unterläuft (siehe den hg. Beschluß vom 26. November 1992, Zl. 92/06/0222). Ein solcher "minderer Grad des Versehens" (§ 1332 ABGB) liegt dann vor, wenn es sich um leichte Fahrlässigkeit handelt, also dann, wenn ein Fehler begangen wird, den gelegentlich auch ein sorgfältiger Mensch macht. Der Wiedereinsetzungswerber darf also nicht auffallend sorglos gehandelt haben, somit die im Verkehr mit Behörden und für die Einhaltung von Terminen und Fristen erforderliche und ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt außer Acht gelassen haben, wobei an beruflich rechtskundige Parteienvertreter ein strengerer Maßstab anzulegen ist als an rechtsunkundige Personen (siehe Fasching, Zivilprozeßrecht2, Rz. 580, sowie das hg. Erkenntnis vom 26. April 1994, Zl. 93/05/0104).

Die Fristenberechnung und -kontrolle gehört zu den haftungsträchtigsten Tätigkeiten eines Rechtsanwaltes. Zu kaum einem Gebiet der anwaltlichen Tätigkeit ist die Rechtsprechung so detailliert und ausgefeilt. Diese Rechtsprechung bezieht sich aber zum ganz überwiegenden Teil auf die herkömmliche Fristenkontrolle per Fristenbuch und manuellem Eintrag.

Grundsätzlich ist festzuhalten, daß eine Fehlausweisung der Fristvormerkungen in einem EDV-mäßig geführten Fristenbuch bei Anwendung eines gut eingeführten Programmes ein "Ereignis" im Sinne des § 71 Abs. 1 AVG sein kann, wenn die Partei nach den Umständen des Einzelfalles dessen Eintritt unter Bedachtnahme auf die zumutbare Aufmerksamkeit und Voraussicht nicht erwarten konnte. Bei Klärung der Frage, ob ein minderer Grad des Versehens vorliegt, wird man von einem Rechtsanwalt, der eine EDV-unterstützte Fristenverwaltung unterhält, verlangen müssen, daß er, nachdem er kontrolliert hat, ob Fristbeginn, Art der Frist und Fristdauer richtig eingetragen sind, BESONDERE

VORKEHRUNGEN FÜR DIE ART DER FRISTSTREICHUNG ERGIRFFEN HAT.

Ohne genaue Kenntnis der Art des Systems, das gewählt wurde, um zu verhindern, daß Fristvormerkungen auch dann gestrichen werden können, wenn die Sache noch nicht endgültig erledigt ist, kann nicht beurteilt werden, ob im Einzelfall tatsächlich ein minderer Grad des Versehens vorlag.

Der Begründung ihres Bescheides zufolge ging die belangte Behörde davon aus, daß "glaubhaft keine Aussage darüber getroffen werden könne, ob dieses Ereignis unabwendbar war bzw. ob ein Verschulden oder nur ein minderer Grad des Versehens" vorlag.

Die über den Wiedereinsetzungsantrag entscheidende Behörde ist aber, wie sich aus § 71 Abs. 1 Z. 1 AVG ableiten läßt, bei der Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag gehalten, eine abschließende Beurteilung darüber zu treffen, ob sie das angegebene Ereignis als unabwendbar bewertet und bejahendenfalls, ob den Antragsteller ein Verschulden bzw. nur ein minderer Grad des Versehens trifft, wobei grundsätzlich der Antragsteller verpflichtet ist, INITIATIV alles vorzutragen, was seiner Entlastung dient ("Behauptungspflicht", vgl. das hg. Erkenntnis vom 9. September 1981, Zl. 81/03/0098). Sieht sich die entscheidende Behörde aber außerstande, dies zu beurteilen, so hat sie den Einschreiter aufzufordern, detaillierte Angaben zu machen und allenfalls entsprechende Beweise anzubieten. Insbesondere müßte aufgeklärt werden, wie es zu einer Löschung der vorgemerkten Frist kommen konnte. Da die belangte Behörde im Beschwerdefall selbst davon ausgegangen ist, daß keine Aussage darüber getroffen werden könne, ob die Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 Z. 1 AVG vorliegen, bei Einholung entsprechender detaillierter Sachverhaltsdarstellungen aber eine abschließende Beurteilung des Fragenkomplexes möglich gewesen wäre, und auch nicht auszuschließen ist, daß die belangte Behörde bei Durchführung der erforderlichen Verfahrensergänzungen zu einem anderen Bescheidergebnis gelangt wäre, erweist sich der Verfahrensmangel auch als wesentlich im Sinne des § 42 Abs. 2 Z. 3 VwGG.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

Schlagworte

Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Mitwirkungspflicht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1995:1995050060.X00

Im RIS seit

20.11.2000
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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