TE Vwgh Erkenntnis 1995/6/9 95/02/0081

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Veröffentlicht am 09.06.1995
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG);
19/05 Menschenrechte;
40/01 Verwaltungsverfahren;

Norm

AVG §63 Abs1;
AVG §66 Abs4;
AVG §67a Abs1 Z1;
AVG §67a Abs2;
B-VG Art90 Abs2;
MRK Art6 Abs1;
VStG §45 Abs1;
VStG §51 Abs1;
VStG §51;
VStG §51c;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. W. Pesendorfer und die Hofräte Dr. Stoll und Dr. Holeschofsky als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Eigelsberger, über die Beschwerde des Bundesministers für Arbeit und Soziales gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich vom 29. Dezember 1994, Zl. VwSen-221024/2/Le/La, betreffend Übertretung des Bundesgesetzes über die Beschäftigung von Kindern und Jugendlichen (mitbeteiligte Partei: H in G, vertreten durch Dr. J, Rechtsanwalt in G), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Grieskirchen vom 13. Juni 1994 wurde das auf Grund einer Anzeige des Arbeitsinspektorates gegen die Mitbeteiligte eingeleitete Strafverfahren wegen einer Reihe von Übertretungen des KJBG gemäß § 45 Abs. 1 Z. 1 VStG eingestellt, weil nicht mit der für eine Bestrafung notwendigen Sicherheit das Vorliegen der vorgeworfenen Verwaltungsübertretungen angenommen werden könne.

Dagegen erhob das Arbeitsinspektorat (mit einer entsprechenden Begründung) Berufung und stellte den Antrag, den erwähnten Bescheid "abzuändern und die Beschuldigte wie in der Strafanzeige ... beantragt, zu bestrafen".

Mit Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich vom 29. Dezember 1994 wurde diese Berufung mit der Feststellung, daß der unabhängige Verwaltungssenat zur Entscheidung über einen Berufungsantrag, wie ihn das Arbeitsinspektorat gestellt habe, nicht zuständig sei, zurückgewiesen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf § 13 des Arbeitsinspektionsgesetzes 1993 gestützte Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof. Dieser hat erwogen:

Zunächst ist festzuhalten, daß trotz des Umstandes, daß das Arbeitsinspektorat unter anderem für einige Verstöße gegen das KJGB die Verhängung jeweils einer S 10.000,-- übersteigenden Geldstrafe beantragt hat und dies daher (im Instanzenzug) möglich schien, sowohl für eine verfahrensrechtliche als auch eine meritorische Erledigung der Berufung das Einzelmitglied des unabhängigen Verwaltungssenates zuständig war. Nach der hg. Rechtsprechung (vgl. das Erkenntnis vom 31. März 1993, Zl. 92/01/0402) entscheiden nämlich die unabhängigen Verwaltungssenate im Grunde des § 51c VStG über Berufungen durch Kammern (die aus drei Mitgliedern bestehen) nur dann, wenn im angefochtenen Bescheid eine primäre Geldstrafe oder eine S 10.000,-- übersteigende Geldstrafe verhängt wurde, sonst aber durch eines ihrer Mitglieder. Da aber im Beschwerdefall im vor dem unabhängigen Verwaltungssenat angefochtenen Bescheid die zitierte Voraussetzung für die Kammerzuständigkeit fehlte (das Strafverfahren wurde eingestellt), folgt daraus die Zuständigkeit des Einzelmitgliedes.

Gemäß § 66 Abs. 4 AVG (diese Vorschrift ist nach § 24 VStG auch im Verwaltungsstrafverfahren anzuwenden) hat die Berufungsbehörde (außer dem in Abs. 2 erwähnten Fall), sofern die Berufung nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, immer in der Sache selbst zu entscheiden. Sie ist berechtigt, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung (§ 60) ihre Anschauung an die Stelle jener der Unterbehörde zu setzen und demgemäß den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern.

Die Verpflichtung der Berufungsbehörde, außer in den genannten Fällen immer in der Sache selbst zu entscheiden, bedeutet hinsichtlich der Befugnis der Berufungsbehörde, den Spruch des bei ihr angefochtenen Bescheides abzuändern, vornehmlich eine Absage an die Möglichkeit einer bloßen Kassation eines rechtswidrigen unterinstanzlichen Bescheides statt einer Reformation und - anders als im Verwaltungsstrafverfahren - eine Absage an das Verbot einer "reformatio in peius" im administrativen Verwaltungsverfahren; daneben hat aber die Wendung "in der Sache" in § 66 Abs. 4 erster Satz AVG die Bedeutung einer Einschränkung der der Berufungsbehörde nach dem zweiten Satz des § 66 Abs. 4 leg. cit. eingeräumten weiten Entscheidungsbefugnis. "Sache" in diesem zuletzt genannten Sinn ist (sofern dem Berufungswerber nicht nur ein eingeschränktes Mitspracherecht zukommt) die Angelegenheit, die den Inhalt des Spruches des Bescheides der Unterbehörde gebildet hat, im Fall einer eingeschränkten Berufung der vom Rechtsmittel erfaßte Teil des Bescheides, wenn dieser vom übrigen Bescheidinhalt trennbar ist (vgl. zum Ganzen das hg. Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 28. November 1993, Slg. Nr. 11 237/A).

Entgegen der Ansicht der belangten Behörde (die sie in der Gegenschrift näher ausführt) war "Sache" des gegenständlichen Berufungsverfahrens im Sinne des § 66 Abs. 4 AVG nicht "ausschließlich", ob die Einstellung des Verwaltungsstrafverfahrens zu Recht erfolgte oder nicht mit der Folge, daß im letzteren Fall der Einstellungsbescheid der Behörde erster Instanz lediglich aufzuheben und der Erstbehörde die Durchführung des Verwaltungsstrafverfahrens sowie die Verhängung einer Strafe aufzutragen war. Vielmehr war "Sache" im Sinne des § 66 Abs. 4 AVG, ob die Mitbeteiligte wegen der ihr angelasteten Verwaltungsübertretungen zu bestrafen war oder nicht, was im ersteren Fall zum Recht und zur Pflicht der Berufungsbehörde führen mußte, die Mitbeteiligte wegen der erwähnten Verwaltungsübertretungen für schuldig zu befinden und zu bestrafen. Daß dem unabhängigen Verwaltungssenat damit zugesonnen wird, Aufgaben und Stellung einer "erstinstanzlichen Strafverfolgungsbehörde" zu übernehmen, liegt im Wesen des § 66 Abs. 4 AVG in Verbindung mit der Funktion des unabhängigen Verwaltungssenates als Berufungsbehörde, was die belangte Behörde offenbar verkennt. Von einer dadurch gegebenen Verkürzung des "Rechtsschutzes um eine Instanz" für die Mitbeteiligte kann keine Rede sein.

Ausgehend von einer verfehlten Prämisse geht auch das weitere, darauf aufbauende Argument der belangten Behörde, eine (zusätzliche) Schranke der Prüfungsbefugnis der Berufungsbehörde sei darin gelegen, daß sie nicht jenen Rahmen überschreiten dürfe, der durch die Berufung selbst gesetzt worden sei, ins Leere.

Was aber schließlich den Einwand anlangt, es liege durch die Einstellung des Strafverfahrens durch die Behörde erster Instanz keine "Anklage" vor, so ist dieser schon deshalb verfehlt, weil im Verwaltungsstrafverfahren das "Anklageprinzip" (Teilung in ein "anklagendes" und "richtendes" bzw. "urteilendes" Organ) nicht vorgesehen ist (vgl. Walter-Mayer, Grundriß des österreichischen Verwaltungsverfahrens, 5. Aufl., RZ 826).

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Schlagworte

Beschränkungen der Abänderungsbefugnis Beschränkung durch die Sache Besondere Rechtsprobleme Verwaltungsstrafrecht Beschränkungen der Abänderungsbefugnis Beschränkung durch die Sache Bindung an den Gegenstand des vorinstanzlichen Verfahrens Allgemein Inhalt der Berufungsentscheidung Kassation Inhalt der Berufungsentscheidung Voraussetzungen der meritorischen Erledigung Zurückweisung (siehe auch §63 Abs1, 3 und 5 AVG) Umfang der Abänderungsbefugnis Allgemein bei Einschränkung der Berufungsgründe beschränkte Parteistellung Umfang der Abänderungsbefugnis Reformatio in peius

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1995:1995020081.X00

Im RIS seit

08.11.2001
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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