TE Vwgh Erkenntnis 1995/7/11 95/13/0153

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Veröffentlicht am 11.07.1995
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
22/02 Zivilprozessordnung
32/01 Finanzverfahren allgemeines Abgabenrecht
40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

AVG §69 Abs1 Z2 implizit
BAO §116
BAO §116 Abs1
BAO §303 Abs1 litb
BAO §303 Abs1 litc
VwRallg
ZPO

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Weiss und die Hofräte Dr. Hargassner und Mag. Heinzl als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Cerne, über die Beschwerde der A in W, vertreten durch S, Rechtsanwalt in, gegen den Bescheid (Berufungsentscheidung) der Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland (Berufungssenat VI) vom 24. April 1995, Zl 16-94/3252/03, betreffend Antrag auf Wiederaufnahme der Einkommensteuerverfahren für die Jahre 1983 bis 1990, zu Recht erkannt:

Spruch

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

Begründung

Nach der Beschwerde und dem ihr angeschlossenen angefochtenen Bescheid ist zwischen den Parteien des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens ausschließlich die Rechtsfrage strittig, ob der Antrag der Beschwerdeführerin auf Wiederaufnahme der Einkommensteuerverfahren 1983 bis 1990 gemäß § 303 Abs 1 BAO im Verwaltungsrechtszug zu Recht abgewiesen wurde. Nach der im wesentlichen mit der Sachverhaltsdarstellung des angefochtenen Bescheides übereinstimmenden Sachverhaltsdarstellung der Beschwerde habe die Beschwerdeführerin im Jahr 1983 eine Hälfte ihres Unternehmens veräußert. Mit der anderen Hälfte habe sie sich an einer KG beteiligt und jährlich einen Garantiegewinn erhalten. Am 31. Dezember 1989 habe die KG die Zahlung des Garantiegewinnes eingestellt. Im daraufhin von der Beschwerdeführerin eingeleiteten Zivilverfahren habe die KG behauptet, daß 1983 das gesamte Unternehmen der Beschwerdeführerin verkauft worden sei, mit welcher Rechtsansicht sich die KG letztlich durchgesetzt habe, weshalb die Beschwerdeführerin in der Folge den Antrag auf Wiederaufnahme der Einkommensteuerverfahren 1983 bis 1990 gestellt habe.

Die belangte Behörde vertrat in dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid die Ansicht, daß ein Wiederaufnahmegrund im Sinne des § 303 BAO nicht vorliege, weil eine Tatsache oder ein Beweismittel im Sinne des § 303 Abs 1 lit b BAO nicht neu hervorgekommen sei.

Die Beschwerdeführerin erachtet sich durch den angefochtenen Bescheid in ihrem durch § 303 BAO eingeräumten Recht auf Bewilligung der Wiederaufnahme eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens verletzt und beantragt dessen Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Die Beschwerdeführerin vertritt in der Beschwerde ausschließlich die Ansicht, daß der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zu bewilligen gewesen wäre, weil der Bescheid im Sinne des § 303 Abs 1 lit c BAO von Vorfragen abhängig gewesen sei, und nachträglich über eine solche Vorfrage von der hiezu zuständigen Behörde (Gericht) in wesentlichen Punkten anders entschieden worden sei. Sie beruft sich in diesem Zusammenhang auf ein Urteil des Handelsgerichtes Wien vom 24. Jänner 1992, in welchem entschieden worden sei, daß eine Veräußerung (bzw ein Verkauf) auch der zweiten Hälfte des Unternehmensanteiles vorgenommen worden sei.

Nun ist richtig, daß gemäß § 303 Abs 1 lit c BAO ein Wiederaufnahmegrund auch dann gegeben sein kann, wenn der Bescheid von Vorfragen im Sinne des § 116 BAO abhängig war. Eine Vorfrage im Sinne des § 303 Abs 1 lit c BAO ist ein vorweg zu klärendes Element des zur Entscheidung stehenden Rechtsfalles, das als Hauptfrage - dh durch einen Abspruch rechtsfeststellender oder rechtsgestaltender Natur - von anderen Verwaltungsbehörden oder von den Gerichten zu entscheiden wäre, aber kraft der Anordnung des § 116 Abs 1 BAO von der Abgabenbehörde nach eigener Anschauung beurteilt werden darf (vgl das hg Erkenntnis vom 21. Februar 1985, 83/16/0027). Bildet sich die Abgabenbehörde in diesem Sinn ein Urteil über die Vorfrage und legte sie ihre selbst gefundene Lösung der Vorfrage ihrem Bescheid zugrunde, ergeht aber sodann nach Rechtskraft ihrer Entscheidung, von der zuständigen Stelle in bindender Weise eine inhaltlich abweichende Erledigung dieser Rechtsfrage, dann liegt ein Wiederaufnahmegrund nach § 303 Abs 1 lit c BAO vor. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens ist aber in solchen Fällen nur unter der weiteren Voraussetzung zulässig, daß nach den Grundsätzen des § 116 BAO eine Bindung der Abgabenbehörde an die Entscheidung der anderen Stelle überhaupt zu bejahen ist, was ua zur Voraussetzung hat, daß auch im Verfahren der anderen Stelle bei der Ermittlung des Sachverhaltes von Amts wegen vorzugehen ist (vgl Stoll, BAO, Kommentar, 2928). Mangels einer amtswegigen Sachverhaltsermittlung im Zivilgerichtsverfahren ist die Voraussetzung einer Bindung der Abgabenbehörde an zivilgerichtliche Urteile jedoch nicht gegeben. Im Beschwerdefall kam daher eine Wiederaufnahme der Verfahren nach § 303 Abs 1 lit c BAO schon deshalb nicht in Betracht.

Zu Recht hat aber die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid die Ansicht vertreten, daß Tatsachen im Sinne des § 303 BAO ausschließlich mit dem Sachverhalt des abgeschlossenen Verfahrens zusammenhängende tatsächliche Umstände sind; also Sachverhaltselemente, die bei einer entsprechenden Berücksichtigung zu einem anderen Ergebnis (als vom rechtskräftigen Bescheid zum Ausdruck gebracht) geführt hätten, wie etwa Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften. Neue Erkenntnisse in bezug auf die rechtliche Beurteilung solcher Sachverhaltselemente - gleichgültig ob diese späteren rechtlichen Erkenntnisse (Neubeurteilungskriterien) durch die Änderung der Verwaltungspraxis oder Rechtsprechung oder nach vorhergehender Fehlbeurteillung oder Unkenntnis der Gesetzeslage eigenständig gewonnen werden - sind keine Tatsachen. Die nachteiligen Folgen einer früheren unzutreffenden Würdigung oder Wertung des offen gelegt gewesenen Sachverhaltes oder einer fehlerhaften rechtlichen Beurteilung - gleichgültig durch welche Umstände veranlaßt - lassen sich bei unveränderter Tatsachenlage nicht nachträglich im Weg der Wiederaufnahme des Verfahrens beseitigen. Dies gilt auch dann, wenn auf Grund einer Entscheidung eines Zivilgerichtes eine andere als die bisher vorgenommene Würdigung eines gegebenen Sachverhaltes rechtsrichtig erscheint (vgl das hg Erkenntnis vom 11. Februar 1988, 86/16/0192). Es war daher auch nicht rechtswidrig, wenn die belangte Behörde der zivilgerichtlichen Entscheidung die Eigenschaft als Wiedereinsetzungsgrund im Sinne des § 303 Abs 1 lit b BAO nicht zuerkannt hat.

Da somit schon der Inhalt der Beschwerde erkennen ließ, daß die Beschwerdeführerin durch den angefochtenen Bescheid in dem vom Beschwerdepunkt umfaßten Recht nicht verletzt wurde, war die Beschwerde gemäß § 35 Abs 1 VwGG in nichtöffentlicher Sitzung als unbegründet abzuweisen.

Wien,am 11. Juli 1995

Schlagworte

Individuelle Normen und Parteienrechte Bindung der Verwaltungsbehörden an gerichtliche Entscheidungen Individuelle Normen und Parteienrechte Bindung der Verwaltungsbehörden an gerichtliche EntscheidungenVerfahrensgrundsätze im Anwendungsbereich des AVG Offizialmaxime Mitwirkungspflicht ManuduktionspflichtVerfahrensgrundsätze außerhalb des Anwendungsbereiches des AVG Verfahrensgrundsätze im Anwendungsbereich des AVG Offizialmaxime Mitwirkungspflicht ManuduktionspflichtVerfahrensgrundsätze außerhalb des Anwendungsbereiches des AVG

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1995:1995130153.X00

Im RIS seit

16.04.2021

Zuletzt aktualisiert am

16.04.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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