TE Vfgh Erkenntnis 2023/3/15 E4001/2021

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Veröffentlicht am 15.03.2023
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Index

10/07 Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit

Norm

B-VG

Leitsatz

Auswertung in Arbeit

Spruch

I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit der Beschwerde gegen Spruchpunkt VII. des angefochtenen Bescheides mit der Maßgabe abgewiesen wurde, dass die Dauer des Einreiseverbotes auf ein Jahr herabgesetzt wird, wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist russischer Staatsangehöriger. Er stellte am 7. Dezember 2020 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid vom 3. Mai 2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung zulässig ist, erteilte eine Frist für die freiwillige Ausreise und sprach ein dreijähriges Einreiseverbot gegen den Beschwerdeführer aus.

2. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 20. September 2021 als unbegründet ab. Das Einreiseverbot begründet es zusammengefasst damit, dass der Beschwerdeführer keinen Nachweis habe erbringen können, wie er seinen Unterhalt aus eigenem finanziere. Angesichts des kurzen Aufenthaltes in Österreich, der mangelnden Schulausbildung und des Umstandes, dass keine konkrete Einstellungszusage vorliege, müsse die Zukunftsprognose negativ ausfallen und es könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer seinen Lebensunterhalt ohne staatliche Unterstützung bestreiten könne. Es erscheine daher die Erlassung eines Einreiseverbotes, insbesondere in Anbetracht der fehlenden Existenzmittel sowie unter Berücksichtigung des geringen Grades an Integration des Beschwerdeführers im Bundesgebiet, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung geboten. Es werde aber die konkrete Gefahr des Beschwerdeführers für die öffentliche Ordnung als gering bewertet, weil er lediglich den Tatbestand des §53 Abs2 Z6 FPG (idF vor BGBl I 202/2022) erfülle. Daher sei die Dauer des Einreiseverbotes auf ein Jahr herabzusetzen.

3. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, und die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung beantragt werden.

II. Erwägungen

1. Soweit sich die – zulässige – Beschwerde gegen die Erlassung eines auf ein Jahr befristeten Einreiseverbotes richtet, ist sie auch begründet:

         Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 6. Dezember 2022, G264/2022, §53 Abs2 Z6 des Bundesgesetzes über die Ausübung der Fremdenpolizei, die Ausstellung von Dokumenten für Fremde und die Erteilung von Einreisetitel (Fremdenpolizeigesetz 2005 – FPG), BGBl I 100/2005, idF BGBl I 87/2012, als verfassungswidrig aufgehoben und verfügt, dass diese Bestimmung nicht mehr anzuwenden ist.

         Gemäß Art140 Abs7 B-VG ist daher die aufgehobene Gesetzesbestimmung nicht nur im Anlassfall, sondern ausnahmslos in allen Fällen und folglich auch im vorliegenden Fall nicht mehr anzuwenden (VfSlg 15.401/1999, 19.419/2011).

         Das Bundesverwaltungsgericht wendete bei Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses die als verfassungswidrig aufgehobene Gesetzesbestimmung an. Es ist nach Lage des Falles nicht ausgeschlossen, dass diese Gesetzesanwendung für die Rechtsstellung des Beschwerdeführers nachteilig war. Der Beschwerdeführer wurde somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit der Beschwerde gegen die Erlassung eines auf drei Jahre befristeten Einreiseverbotes mit der Maßgabe abgewiesen wurde, dass die Dauer des Einreiseverbotes auf ein Jahr herabgesetzt wird, wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in seinen Rechten verletzt.

Das Erkenntnis ist daher insoweit aufzuheben.

2. Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof gegen die Abweisung der Beschwerde durch das Bundesverwaltungsgericht in Bezug auf die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch des Status des subsidiär Schutzberechtigten, der Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung, der Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Die vorliegende Beschwerde behauptet die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten.

Der Verfassungsgerichtshof geht in Übereinstimmung mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (s etwa EGMR 7.7.1989, Fall Soering, EuGRZ 1989, 314 [319]; 30.10.1991, Fall Vilvarajah ua, ÖJZ 1992, 309 [309]; 6.3.2001, Fall Hilal, ÖJZ 2002, 436 [436 f.]) davon aus, dass die Entscheidung eines Vertragsstaates, einen Fremden in welcher Form immer außer Landes zu schaffen, unter dem Blickwinkel des Art3 EMRK erheblich werden und demnach die Verantwortlichkeit des Staates nach der EMRK begründen kann, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden sind, dass der Fremde konkret Gefahr liefe, in dem Land, in das er gebracht werden soll, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (vgl VfSlg 13.837/1994, 14.119/1995, 14.998/1997).

Das Bundesverwaltungsgericht hat weder eine grundrechtswidrige Gesetzesauslegung vorgenommen noch sind ihm grobe Verfahrensfehler unterlaufen, die eine vom Verfassungsgerichtshof aufzugreifende Verletzung des genannten Grundrechtes darstellen (vgl VfSlg 13.897/1994, 15.026/1997, 15.372/1998, 16.384/2001, 17.586/2005). Ob ihm sonstige Fehler bei der Rechtsanwendung unterlaufen sind, hat der Verfassungsgerichtshof nicht zu beurteilen.

Soweit die Verletzung des Art4 GRC (Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung) geltend gemacht wird, ist festzuhalten, dass dieses Recht keinen über die oben genannten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte hinausgehenden Gewährleistungsumfang hat und aus den oben genannten Gründen nicht verletzt wird (zur Anwendbarkeit der Grundrechte-Charta im verfassungsgerichtlichen Verfahren vgl VfSlg 19.632/2012).

Die im Übrigen gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der Frage, ob das Bundesverwaltungsgericht ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt und seine Entscheidung in jeder Hinsicht rechtmäßig begründet hat, nicht anzustellen.

Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde abzusehen und sie gemäß Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abzutreten (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG; zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit der Beschwerde gegen Spruchpunkt VII. des angefochtenen Bescheides mit der Maßgabe stattgegeben wurde, dass die Dauer des Einreiseverbotes auf ein Jahr herabgesetzt wird, wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben.

2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese insoweit dem Verwaltungsgerichtshof gemäß Art144 Abs3 B-VG zur Entscheidung abgetreten (zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungs-gerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,–. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.

5. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2023:E4001.2021

Zuletzt aktualisiert am

17.04.2023
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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