TE Vwgh Erkenntnis 2023/3/9 Ra 2022/18/0294

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Veröffentlicht am 09.03.2023
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Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision der C M, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Jordangasse 7/4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. September 2022, W119 2179168-2/12E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird im Anfechtungsumfang (Abweisung der Beschwerde in Bezug auf die Rückkehrentscheidung sowie die darauf aufbauenden Spruchpunkte) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Die Revisionswerberin, eine philippinische Staatsangehörige, reiste im August 2005 in das österreichische Bundesgebiet ein.

2        Im Jahr 2011 stellte sie einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot-Karte plus“, welcher mit Bescheid der Niederlassungsbehörde vom 17. September 2012 abgewiesen wurde.

3        Mit Bescheid vom 13. November 2017 wies das BFA einen Antrag der Revisionswerberin vom 19. Oktober 2015 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab, erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung, sprach aus, dass die Abschiebung der Revisionswerberin zulässig sei, und setzte eine Frist für die freiwillige Ausreise.

4        Die hiergegen gerichtete Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 29. Oktober 2020 mit der Maßgabe ab, dass der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 58 Abs. 9 Z 2 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen wurde.

5        Am 27. August 2020 stellte die Revisionswerberin den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz, welchen sie im Wesentlichen damit begründete, als Zeugin Jehovas aufgrund ihres Glaubens verfolgt zu werden und bei Rückkehr in ihre Heimat Angst vor der Corona-Pandemie zu haben.

6        Mit Bescheid vom 14. September 2020 wies das BFA diesen Antrag zur Gänze ab, erteilte ihr keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung, stellte die Zulässigkeit ihrer Abschiebung auf die Philippinen fest und setzte eine Frist für die freiwillige Ausreise.

7        Die dagegen erhobene Beschwerde wies das BVwG mit Erkenntnis vom 23. September 2022 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

8        Betreffend die Rückkehrentscheidung führte das BVwG begründend aus, die Revisionswerberin, welche über keine Familienangehörigen in Österreich verfüge, habe zwar Deutschkenntnisse auf dem Niveau B1 erworben, zwei Arbeitsvorverträge sowie Unterstützungsschreiben vorgelegt und sei bei den Zeugen Jehovas und in einem näher genannten Verein aktiv. Ihr Aufenthalt sei jedoch bis zur Stellung ihres gegenständlichen Antrages auf internationalen Schutz - somit fünfzehn Jahre lang - illegal gewesen. Sie sei nie legal berufstätig gewesen und habe sich ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein müssen. Insgesamt würden die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung überwiegen und sei die Erlassung einer Rückkehrentscheidung zulässig.

9        Die hiergegen eingebrachte außerordentliche Revision wendet sich ausschließlich gegen die ergangene Rückkehrentscheidung sowie die hierauf aufbauenden Spruchpunkte. Die Zulässigkeit begründend bringt diese vor, das BVwG habe näher bezeichnete Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes außer Acht gelassen, wonach nach einem zehnjährigen Aufenthalt eine aufenthaltsbeendende Maßnahme nur dann als verhältnismäßig angesehen werden könne, wenn die fremde Person ihre Zeit in Österreich nicht genützt habe, um sich zu integrieren. Hiervon könne bei der Revisionswerberin, welche sich seit siebzehn Jahren in Österreich aufhalte, über Arbeitsvorverträge verfüge und in einem Verein aktiv sei, nicht ausgegangen werden. Das BVwG sei zudem von ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, wonach auch bei jahrelangem illegalen Aufenthalt und ohne Bestehen eines Aufenthaltstitels die Rechtsprechung betreffend einen über zehnjährigen Aufenthalt Anwendung finde. Der bloße illegale Aufenthalt stelle keinen Versagungsgrund für die Gewährung eines Aufenthaltstitels dar.

10       Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

11       Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

12       Die Revision ist zulässig und begründet.

13       Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte einer fremden Person darstellt, hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen der fremden Person, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 24.2.2022, Ra 2021/18/0296, mwN).

14       Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt fremder Personen regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen ist. Dann, wenn eine fremde Person die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. VwGH 14.4.2021, Ra 2020/18/0288, mwN).

15       Fallgegenständlich stellte das BVwG - ohne auf die zitierte Judikaturlinie einzugehen - hinsichtlich der privaten und familiären Interessen der Revisionswerberin fest, dass sich diese seit siebzehn Jahren im Bundesgebiet aufhalte, über Deutschkenntnisse auf dem Niveau B1 verfüge, Einstellungszusagen und Unterstützungserklärungen vorgelegt habe sowie bei den Zeugen Jehovas und einem weiteren näher genannten Verein aktiv sei. Als maßgeblich relativierend sah es den Umstand, dass der Aufenthalt der Revisionswerberin unrechtmäßig gewesen sei und sie ihre Integration im Bewusstsein der Unsicherheit ihres Aufenthaltes gesetzt habe.

16       Aus diesen Feststellungen kann jedenfalls nicht gefolgert werden, dass die Revisionswerberin, welche sich unbestrittenermaßen seit August 2005, zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt daher deutlich über zehn Jahre, durchgehend im Bundesgebiet aufhält, ihre verbrachte Zeit überhaupt nicht genutzt habe, um sich sozial und beruflich zu integrieren (vgl. in diesem Sinne auch VwGH 8.7.2021, Ra 2021/20/0080, mwN).

17       Wenn das BVwG die getätigten Integrationsbemühungen dadurch maßgeblich relativiert sieht, dass sich die Revisionswerberin ihres unsicheren Aufenthaltes habe bewusst sein müssen, hat es den Gesichtspunkt des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG („Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren“) zu sehr in den Vordergrund gestellt. Dieser Aspekt hat schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen ist und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung führen kann. Das gilt insbesondere bei einem mehr als zehn Jahre dauernden Inlandsaufenthalt (vgl. VwGH 13.1.2022, Ra 2021/14/0249, mwN).

18       Es ist dem BVwG zwar insofern zuzustimmen, dass der Verwaltungsgerichtshof in mehreren Entscheidungen zum Ausdruck gebracht hat, dass ungeachtet eines mehr als zehnjährigen Aufenthaltes und des Vorhandenseins gewisser integrationsbegründender Merkmale auch gegen ein Überwiegen der persönlichen Interessen bzw. für ein größeres öffentliches Interesse an der Verweigerung eines Aufenthaltstitels (oder an der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme) sprechende Umstände in Anschlag gebracht werden können (vgl. VwGH 3.6.2022, Ra 2022/18/0053, mwN).

19       Den Feststellungen des BVwG kann jedoch nicht entnommen werden, dass die Revisionswerberin in diesem Zusammenhang ein derartiges maßgebliches Fehlverhalten gesetzt hat, aufgrund dessen von einem Überwiegen der öffentlichen Interessen auszugehen wäre (beispielsweise eine strafrechtliche Verurteilung, Entzug vor Ausreise durch Untertauchen, vgl. hierzu näher VwGH 20.12.2021, Ra 2021/20/0437, 17.10.2016, Ro 2016/22/0005).

20       Die Revision zeigt daher zu Recht auf, dass das BVwG in seiner Abwägung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK bzw. § 9 BFA-VG von den in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes aufgestellten Leitlinien maßgeblich abgewichen ist.

21       Das angefochtene Erkenntnis war daher hinsichtlich der Erlassung einer Rückkehrentscheidung und der darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

22       Von der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.

23       Der Kostenersatz gründet auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 9. März 2023

Schlagworte

Auswertung in Arbeit!

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022180294.L00

Im RIS seit

12.04.2023

Zuletzt aktualisiert am

12.04.2023
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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