TE Vwgh Beschluss 2023/2/16 Ra 2022/18/0229

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Veröffentlicht am 16.02.2023
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E3L E19103010
10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AVG §38
EURallg
VwGG §62 Abs1
32011L0095 Status-RL Art9 Abs1 lita
32011L0095 Status-RL Art9 Abs1 litb
  1. VwGG § 62 heute
  2. VwGG § 62 gültig ab 01.01.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  3. VwGG § 62 gültig von 01.07.2012 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 51/2012
  4. VwGG § 62 gültig von 01.07.2008 bis 30.06.2012 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  5. VwGG § 62 gültig von 05.01.1985 bis 30.06.2008

Beachte


Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2022/18/0230
Ra 2022/18/0231

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision 1. des Z N, 2. der S M, und 3. des R N, alle vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. August 2022, 1. W231 2251366-1/7E, 2. W231 2251368-1/7E und 3. W231 2236146-1/21E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Das Revisionsverfahren wird bis zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union in den Rechtssachen C-608/22 und C-609/22 über die mit Beschlüssen des Verwaltungsgerichtshofes vom 14. September 2022, EU 2022/0016 (Ra 2021/20/0425) und EU 2022/0017 (Ra 2022/20/0028), vorgelegten Fragen ausgesetzt.

Begründung

1        Die revisionswerbenden Parteien sind afghanische Staatsangehörige. Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind miteinander verheiratet und Eltern des minderjährigen Drittrevisionswerbers. Die Zweitrevisionswerberin stellte am 15. Jänner 2020 einen Antrag auf internationalen Schutz, der Erstrevisionswerber stellte für sich und den Drittrevisionswerber am 2. September 2021 Anträge auf internationalen Schutz.

2        Mit Bescheiden vom 17. September 2020, vom 28. Dezember 2021 sowie vom 3. Jänner 2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der erst- bis drittrevisionswerbenden Parteien auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihnen den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihnen befristete Aufenthaltsberechtigungen (Spruchpunkt III.).

3        Die gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des BFA erhobenen Beschwerden der revisionswerbenden Parteien wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

4        Begründend führte das BVwG im Wesentlichen - soweit hier relevant - aus, das Fluchtvorbringen sei aus näher dargelegten Gründen nicht glaubhaft. Insbesondere die Zweitrevisionswerberin habe ihre Fluchtgründe über das gesamte Verfahren hinweg uneinheitlich und mehrfach widersprüchlich geschildert. Keine der revisionswerbenden Parteien sei in der Lage gewesen, ein konsistentes, glaubhaftes und vor allem deckungsgleiches Bild ihrer Fluchtgründe zu präsentieren. Hinsichtlich der Zweitrevisionswerberin hätten die Zusammenschau ihrer Angaben und der von ihr in der mündlichen Verhandlung gewonnene persönliche Eindruck keine grundlegende und verfestigte Änderung ihrer Lebensführung im Sinne eines „westlich“ orientierten Lebensstils ergeben. Nach einer knappen Auseinandersetzung mit den Länderberichten und der allgemeinen Situation von Frauen in Afghanistan, kam das BVwG zu dem Schluss, der Zweitrevisionswerberin würde weder allein aufgrund ihres Geschlechts, noch aufgrund einer individuellen Bedrohung aus Gründen der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgung drohen.

5        Die gegen dieses Erkenntnis des BVwG erhobene außerordentliche Revision bringt hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten an die Zweitrevisionswerberin im Wesentlichen vor, aufgrund der im Spruch genannten Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) liege eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung vor. Darüber hinaus macht sie Begründungsmängel geltend. Aufgrund des durchzuführenden Familienverfahrens sei der Ausgang der Entscheidung des EuGH für alle revisionswerbenden Parteien von entscheidungsmaßgeblicher Bedeutung.

6        Mit den im Spruch genannten Beschlüssen vom 14. September 2022 hat der Verwaltungsgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

„1. Ist die Kumulierung von Maßnahmen, die in einem Staat von einem faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur gesetzt, gefördert oder geduldet werden und insbesondere darin bestehen, dass Frauen

-    die Teilhabe an politischen Ämtern und politischen Entscheidungsprozessen verwehrt wird,

-    keine rechtlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden, um Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt erhalten zu können,

-    allgemein der Gefahr von Zwangsverheiratungen ausgesetzt sind, obgleich solche vom faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur zwar verboten wurden, aber den Frauen gegen Zwangsverheiratungen kein effektiver Schutz gewährt wird und solche Eheschließungen zuweilen auch unter Beteiligung von faktisch mit Staatsgewalt ausgestatteten Personen im Wissen, dass es sich um eine Zwangsverheiratung handelt, vorgenommen werden,

-    einer Erwerbstätigkeit nicht oder in eingeschränktem Ausmaß überwiegend nur zu Hause nachgehen dürfen,

-    der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen erschwert wird,

-    der Zugang zu Bildung - gänzlich oder in großem Ausmaß (etwa indem Mädchen lediglich eine Grundschulausbildung zugestanden wird) - verwehrt wird, sich ohne Begleitung eines (in einem bestimmten Angehörigenverhältnis stehenden) Mannes nicht in der Öffentlichkeit, allenfalls im Fall der Überschreitung einer bestimmten Entfernung zum Wohnort, aufhalten oder bewegen dürfen,

-    ihren Körper in der Öffentlichkeit vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen haben,

-    keinen Sport ausüben dürfen,

im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) als so gravierend anzusehen, dass eine Frau davon in ähnlicher wie der unter lit. a des Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist?

2. Ist es für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten hinreichend, dass eine Frau von diesen Maßnahmen im Herkunftsstaat allein aufgrund ihres Geschlechts betroffen ist, oder ist für die Beurteilung, ob eine Frau von diesen - in ihrer Kumulierung zu betrachtenden - Maßnahmen im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2011/95/EU betroffen ist, die Prüfung ihrer individuellen Situation erforderlich?“

7        Der Beantwortung dieser Fragen durch den Gerichtshof der Europäischen Union kommt für die Behandlung der vorliegenden Revision - wie diese auch zutreffend aufzeigt - ebenfalls Bedeutung zu. Es liegen daher die Voraussetzungen des gemäß § 62 Abs. 1 VwGG auch vom Verwaltungsgerichtshof anzuwendenden § 38 AVG vor, weshalb das Revisionsverfahren auszusetzen war (vgl. VwGH 14.11.2022, Ra 2022/19/0083, mwN).

Wien, am 16. Februar 2023

Schlagworte

Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022180229.L00

Im RIS seit

21.03.2023

Zuletzt aktualisiert am

21.03.2023
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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