TE Vwgh Erkenntnis 2023/2/20 Ra 2021/07/0062

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Veröffentlicht am 20.02.2023
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §24
VwGVG 2014 §24 Abs1
  1. VwGG § 42 heute
  2. VwGG § 42 gültig ab 01.01.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  3. VwGG § 42 gültig von 01.07.2012 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 51/2012
  4. VwGG § 42 gültig von 01.07.2008 bis 30.06.2012 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  5. VwGG § 42 gültig von 01.01.1991 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 330/1990
  6. VwGG § 42 gültig von 05.01.1985 bis 31.12.1990

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Himberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, über die Revision der G GmbH in W, vertreten durch die Onz & Partner Rechtsanwälte GmbH in 1010 Wien, Schwarzenbergplatz 16, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich vom 2. Juli 2021, Zl. LVwG-AV-13/001-2021, betreffend die Anpassung einer Sicherstellung nach dem Abfallwirtschaftsgesetz 2002 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptfrau von Niederösterreich), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von insgesamt € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Mit Bescheid der belangten Behörde vom 1. Dezember 2020 wurde gegenüber der Revisionswerberin als Betreiberin einer im Jahr 1995 abfallrechtlich genehmigten Bauschutt- und Erdaushubdeponie die im Bewilligungsbescheid vorgeschriebene Sicherstellung nach § 48 Abs. 2 Abfallwirtschaftsgesetz 2002 gemäß Abs. 2b dieser Bestimmung angepasst. Demnach sei während der Ablagerungs- und Stillhaltephase eine Sicherstellung in der Höhe von € 3.134.707 zu leisten und werde die Sicherheit für die verbleibende Nachsorgephase mit € 254.730 - beide Beträge indexangepasst - festgesetzt. Weiters traf die belangte Behörde nähere Bestimmungen über den zur Leistung der Sicherstellung zu hinterlegenden Bankhaftbrief.

2        In der Begründung des Bescheides ist eine Stellungnahme der Amtssachverständigen für Deponietechnik und Gewässerschutz vom 24. November 2020 wiedergegeben, die eine vom Deponieaufsichtsorgan erstellte (nicht im Detail dargestellte) Sicherstellungsberechnung vom 15. September 2020 mit näheren Erwägungen als plausibel beurteilt. Feststellungen oder beweiswürdige Erwägungen enthält der Bescheid nicht. Die rechtliche Beurteilung erschöpft sich im Wesentlichen im Satz, dass das Ermittlungsverfahren eindeutig einen Anpassungsbedarf der Sicherstellung ergeben habe.

3        Gegen diesen Bescheid erhob die Revisionswerberin - vertreten durch ihre Geschäftsführerin, nicht jedoch einen Rechtsanwalt oder eine Rechtsanwältin - Beschwerde an das Verwaltungsgericht. Darin brachte sie im Wesentlichen vor, dass die Berechnung die besondere Situation der Deponie (vergleichsweise große Fläche, jedoch seit Jahren kein Deponiebetrieb) nicht berücksichtige, sodass die herangezogene, vom zuständigen Bundesministerium herausgegebene, aber unverbindliche „Richtlinie zur Berechnung von finanziellen Sicherstellungen für Deponien“ für diesen Fall ungeeignet sei. Weiters ergebe sich weder aus dem Bescheid noch aus der Sicherstellungsberechnung, ob tatsächlich entsprechend § 47 Abs. 9 Deponieverordnung 2008 nur das am 1. Jänner 2008 offene Volumen herangezogen worden sei. Es hätte (näher begründet) das vorhandene Material großzügiger in Abzug gebracht werden müssen - der bloße Abzug in der Höhe von 80 % sei nicht nachvollziehbar begründet worden. Auch wenn die Oberflächenabdeckung noch nicht erfolgt sei, könne aufgrund des nicht mehr stattfindenden Deponiebetriebs und der damit nicht mehr vorhandenen Gefährdung nicht davon ausgegangen werden, dass noch Maßnahmen gesetzt werden müssten, die einer derart hohen Sicherstellung bedürften. Schließlich gehe die Revisionswerberin mit näherer Begründung davon aus, dass im Fall der bloßen Anpassung einer Sicherstellung eine Wertsicherung nicht neu vorgesehen werden könne.

4        Das Verwaltungsgericht übermittelte der Revisionswerberin aus dem Akt der belangten Behörde die Sicherstellungsberechnung des Deponieaufsichtsorgans vom 15. September 2020 und das „deponietechnische Gutachten“ vom 24. November 2020 samt Beilagen zum Parteiengehör. Die Revisionswerberin teilte daraufhin mit, dass sie weiterhin von der Unzulässigkeit einer Wertsicherung ausgehe und im Übrigen auf die Beschwerde verweise. Um alle Punkte besprechen zu können, werde um die Durchführung einer Verhandlung ersucht.

5        Mit dem angefochtenen Erkenntnis setzte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen die Sicherstellungsbeträge neu fest (für die Ablagerungs- und Stillhaltephase insgesamt € 3.137.437 und für die verbleibende Nachsorgephase € 254.951), passte den Zeitpunkt für die Leistung der Sicherstellung an und traf eine Regelung für den Übergang zur Nachsorgephase. Darüber hinausgehend wies es die Beschwerde als unbegründet ab. Eine ordentliche Revision gegen dieses Erkenntnis erklärte es für nicht zulässig.

6        Begründend traf es umfangreiche Feststellungen zum Bewilligungsstand der gegenständlichen Deponie und den der Sicherstellungsberechnung zu Grunde liegenden Annahmen. Beweiswürdigend stützt es sich im Wesentlichen auf das als schlüssig und nachvollziehbar beurteilte Gutachten der Amtssachverständigen für Deponietechnik und Gewässerschutz vom 24. November 2020, dem weder in der Beschwerde noch in der Stellungnahme der Revisionswerberin entgegengetreten worden sei. Das Verwaltungsgericht verweist dazu auf das nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes erforderliche „Entgegentreten auf gleicher fachlicher Ebene“ bei Vorliegen eines schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachtens.

Weiters legt das Verwaltungsgericht u.a. dar, warum seiner Ansicht nach die Richtlinie zur Berechnung von finanziellen Sicherstellungen für Deponien sehr wohl auch im vorliegenden Fall geeignet sei; für die gegenteilige Annahme der Revisionswerberin habe diese keinerlei Beweismittel vorgelegt. Auch könne nicht festgestellt werden, dass Material großzügiger in Abzug gebracht werden müsse, weil dazu keine Qualitätsnachweise bzw. Prüfberichte vorgelegt worden seien. Schließlich sei das Vorbringen, die Sicherstellung sei überhöht, weil von der Deponie keine Gefährdung ausgehe, sehr allgemein und es sei nicht erkennbar, gegen welche konkrete Position es sich richte.

7        Im Rahmen seiner umfangreichen rechtlichen Erwägungen verwarf das Verwaltungsgericht u.a. die Einwendungen der Revisionswerberin, wonach nur das per 1. Jänner 2008 offene Volumen zu berücksichtigen sei und eine Wertsicherung nicht vorgesehen werden dürfe. Der Abzug von Materialkosten im Ausmaß von 80 % der vorhandenen Baurestmassen entspreche der Richtlinie zur Berechnung von finanziellen Sicherstellungen für Deponien. Das allgemeine Vorbringen, die Berechnung sei nicht nachvollziehbar, lasse nicht an der Richtigkeit der Berechnungen zweifeln.

Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe nach § 24 Abs. 1 und 4 VwGVG abgesehen werden können, weil der entscheidungswesentliche Sachverhalt geklärt sei, eine mündliche Erörterung lasse keine weitere Klärung der Rechtssache erwarten. Es lägen ausschließlich Tat- und Rechtsfragen vor, zu deren Lösung im Sinne der Judikatur des EGMR zu Art. 6 EMRK eine mündliche Verhandlung nicht geboten sei. Die Revisionswerberin habe erst in ihrer Stellungnahme um eine Verhandlung ersucht und diese nicht bereits - wie von § 24 Abs. 3 VwGVG verlangt - in der Beschwerde beantragt. Weiters habe sie nicht dargelegt, weshalb sie zu den übermittelten Unterlagen nicht auch außerhalb einer Verhandlung Vorbringen erstatten hätte können.

8        Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit vorbringt, das Verwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgewichen.

9        Nach Einleitung des Vorverfahrens durch den Verwaltungsgerichtshof hat die belangte Behörde eine Revisionsbeantwortung erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

10       Die Revision ist aus dem von ihr genannten Grund zulässig und auch begründet.

11       Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht (selbst bei anwaltlich vertretenen Parteien) auch ohne Antrag von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen, wenn es dies für erforderlich hält, wobei die Durchführung einer mündlichen Verhandlung ohne Parteiantrag nicht im Belieben, sondern im pflichtgemäßen Ermessen des Verwaltungsgerichtes steht. Eine Verhandlung ist - abgesehen vom Fall, dass ein rechtlich normiertes Gebot eine solche verlangt - von Amts wegen etwa dann durchzuführen, wenn ein für die Sache relevantes konkretes sachverhaltsbezogenes Beschwerdevorbringen erstattet wird oder die Beweiswürdigung der Verwaltungsbehörde substantiiert bekämpft wird, oder wenn das Verwaltungsgericht von dem durch die Behörde festgestellten unbestritten gebliebenen Sachverhalt abgehen will oder die Entscheidung auf Umstände stützen will, die nicht Gegenstand des Verwaltungsverfahrens waren, darf es doch in seine rechtliche Würdigung keine Sachverhaltselemente einbeziehen, die der Partei nicht bekannt waren (vgl. etwa VwGH 27.8.2018, Ra 2018/22/0136, 25.2.2019, Ra 2018/08/0251, und 13.9.2016, Ra 2016/03/0085, je mwN).

12       Art. 6 Abs. 1 EMRK bzw. Art. 47 GRC stehen einem Entfall der Verhandlung dann nicht entgegen, wenn es ausschließlich um rechtliche oder sehr technische Fragen geht oder wenn das Vorbringen des Revisionswerbers angesichts der Beweislage und angesichts der Beschränktheit der zu entscheidenden Fragen nicht geeignet ist, irgendeine Tatsachen- oder Rechtsfrage aufzuwerfen, die eine mündliche Verhandlung erforderlich macht. Der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung kann auch in Fällen gerechtfertigt sein, in welchen lediglich Rechtsfragen beschränkter Natur oder von keiner besonderen Komplexität aufgeworfen werden (vgl. VwGH 17.10.2019, Ra 2016/08/0010, mwN).

13       Gemäß § 24 Abs. 3 VwGVG hat der Beschwerdeführer die Durchführung einer Verhandlung in der Beschwerde oder im Vorlageantrag zu beantragen. Auf den Anspruch auf Durchführung einer Verhandlung kann zwar verzichtet werden, was dann angenommen werden kann, wenn der Beschwerdeführer keinen Verhandlungsantrag im Sinn des § 24 Abs. 3 VwGVG stellt. Ein schlüssiger Verzicht liegt aber nicht vor, wenn eine unvertretene Partei weder über die Möglichkeit einer Antragstellung belehrt wurde, noch Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie von dieser Möglichkeit hätte wissen müssen (vgl. VwGH 29.1.2020, Ra 2019/09/0141, 0142, mwN).

14       Einwendungen gegen die Schlüssigkeit eines Gutachtens einschließlich der Behauptung, die Befundaufnahme sei unzureichend bzw. der Sachverständige gehe von unrichtigen Voraussetzungen aus, haben ebenso wie Einwendungen gegen die Vollständigkeit des Gutachtens auch dann Gewicht, wenn sie nicht auf gleicher fachlicher Ebene angesiedelt sind, also insbesondere auch ohne Gegengutachten erhoben werden. Die unvollständige und unrichtige Befundaufnahme vermag auch ein Laie nachvollziehbar darzulegen. Das Verwaltungsgericht ist in diesem Fall verpflichtet, sich mit diesen - der Sachverhaltsfrage zuzurechnenden - Einwendungen in einer Verhandlung auseinanderzusetzen (vgl. VwGH 8.10.2020, Ra 2020/07/0002, mwN).

15       Die Revisionswerberin hat in der Beschwerde die von der belangten Behörde (erkennbar) angenommenen Sachverhaltsgrundlagen nicht bloß unsubstantiiert bestritten, indem sie u.a. einen geringeren Sicherstellungsbedarf im Hinblick auf den fehlenden Deponiebetrieb behauptet und die Angemessenheit der herangezogenen Berechnungsmethoden begründet bestritten hat. Das ist nicht zuletzt daran zu erkennen, dass sich das Verwaltungsgericht veranlasst gesehen hat, auf diese Argumente der Revisionswerberin beweiswürdigend - und insofern über die Erwägungen der belangten Behörde hinausgehend - einzugehen.

16       Im Lichte der dargestellten Rechtsprechung wäre das Verwaltungsgericht daher schon deshalb verpflichtet gewesen, von Amts wegen eine mündliche Verhandlung durchzuführen, um in deren Rahmen u.a. zu klären, ob die Einwendungen der Revisionswerberin die Stellungnahme der Amtssachverständigen zu erschüttern vermögen. Dass die (unvertretene) Revisionswerberin nicht gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG bereits in der Beschwerde einen Verhandlungsantrag gestellt (sondern erst im weiteren Verlauf des Beschwerdeverfahrens um Durchführung einer Verhandlung ersucht) hat, kann nicht als (implizierter) Verzicht auf die Verhandlung gewertet werden und ist daher auch kein taugliches Argument für deren Nichtdurchführung.

17       Eine Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. VwGH 19.2.2020, Ra 2019/14/0509, mwN).

18       Das angefochtene Erkenntnis war somit - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

19       Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 20. Februar 2023

Schlagworte

Parteiengehör Verfahrensbestimmungen Amtswegigkeit des Verfahrens Mitwirkungspflicht Manuduktionspflicht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2023:RA2021070062.L00

Im RIS seit

20.03.2023

Zuletzt aktualisiert am

20.03.2023
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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