TE Vwgh Erkenntnis 2023/1/12 Ra 2022/22/0031

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Veröffentlicht am 12.01.2023
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Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision 1. der H Z, 2. der Z Z, und 3. der Z Z, alle vertreten durch Mag. Jürgen Dorner, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Tuchlauben 13/12, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 17. Februar 2022, W233 2193582-3/5E, W233 2193584-3/5E und W233 2193583-3/5E, betreffend Duldung gemäß § 46a FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Erstrevisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Nach der unbestritten gebliebenen Darstellung im angefochtenen Erkenntnis und den vorgelegten Verwaltungsakten liegt der vorliegenden Revisionssache folgender Verfahrensgang zugrunde:

Die Erstrevisionswerberin, Mutter der minderjährigen Zweit- und Drittrevisionswerberinnen (alle chinesische Staatsangehörige), stellte 2017 für sich und ihre Töchter Anträge auf internationalen Schutz, die mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA, belangte Behörde) vom 27. März 2018 vollumfänglich abgewiesen wurden. Unter einem wurden den Revisionswerberinnen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und gegen sie Rückkehrentscheidungen erlassen; weiters wurde festgestellt, dass ihre Abschiebung nach China zulässig sei, und eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen festgesetzt. Die dagegen erhobene Beschwerde der Revisionswerberinnen wurde vom Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 28. April 2020 abgewiesen.

2        Am 12. August 2020 brachte die Erstrevisionswerberin für sich und ihre Töchter erneut Anträge auf internationalen Schutz ein, die mit Bescheiden der belangten Behörde vom 15. September 2020 wegen entschiedener Sache zurückgewiesen wurden. Unter einem ergingen wiederum (insbesondere) Rückkehrentscheidungen und wurde festgestellt, dass die Abschiebung der Revisionswerberinnen nach China zulässig sei, keine Frist für die freiwillige Ausreise festgesetzt und wurden befristete Einreiseverbote erlassen. Die gegen diese Bescheide erhobene Beschwerde wurde vom BVwG mit Erkenntnis vom 9. Oktober 2020 (mit einer Maßgabe) und unter ersatzloser Behebung der gegen die Töchter der Erstrevisionswerberin erlassenen Einreiseverbote abgewiesen.

3        Am 30. Juni 2021 beantragte die Erstrevisionswerberin für sich und ihre Töchter gestützt auf § 46a Abs. 1 Z 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) die Ausstellung einer Duldungskarte nach § 46a Abs. 4 FPG. Begründend brachte die Erstrevisionswerberin vor, sie sei am 1. März 2021 bei der chinesischen Botschaft gewesen, wo ihr mitgeteilt worden sei, dass die Identitäten der Revisionswerberinnen nicht zu finden seien. Aus diesem Grund sei es auch nicht möglich gewesen, entsprechende chinesische Dokumente auszustellen, und es seien auch keine Heimreisezertifikate für die Revisionswerberinnen ausgestellt worden.

4        Mit Bescheiden vom 21. Dezember 2021 wies die belangte Behörde diese Anträge ab. Begründend führte die belangte Behörde aus, die Erstrevisionswerberin habe im Zuge der Erstbefragung bei der Landespolizeidirektion Niederösterreich eine (näher bezeichnete) chinesische Geburtsurkunde in Vorlage gebracht. Hätte die Erstrevisionswerberin ihre Geburtsurkunde bei der chinesischen Botschaft vorlegt, wären den Revisionswerberinnen bestimmt Dokumente ausgestellt worden. Ihre Abschiebung erscheine daher nicht unmöglich und ihre Identität stehe somit auch fest. Es lägen keine Gründe für eine Duldung gemäß § 46a FPG vor.

5        In der dagegen erhobenen Beschwerde vom 18. Jänner 2022 brachten die Revisionswerberinnen (ua.) vor, die Erstrevisionswerberin habe entgegen der Ansicht der belangten Behörde nie eine Geburtsurkunde besessen. Aus diesem Grund habe ihre Identität vor der chinesischen Botschaft nicht festgestellt werden können. Die im bekämpften Bescheid angeführte Dokumentnummer entspreche (wenn man hinsichtlich einer Ziffer von einem Tippfehler ausgehe) dem Auszug aus dem Geburtseintrag der Zweitrevisionswerberin. Die Erstrevisionswerberin habe alles ihr Mögliche getan, um von der chinesischen Botschaft ihre Identität feststellen zu lassen und für ihre Rückreise nach China entsprechende Dokumente zu erhalten. So habe sie bei der chinesischen Botschaft auch den Fragebogen „zur Identifizierung der Bürgschaft von China“ ausgefüllt. Darüber hinaus stelle die chinesische Botschaft aufgrund der restriktiven Einreisepolitik der chinesischen Regierung seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie aktuell keine Heimreisezertifikate aus. Vor diesem Hintergrund sei in absehbarer Zeit auch nicht damit zu rechnen, dass Heimreisezertifikate ausgestellt würden.

6        Mit einer weiteren Stellungnahme wurde eine Bestätigung der Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH (BBU GmbH) vorgelegt, wonach die Erstrevisionswerberin seit 12. Jänner 2022 in einem laufenden Rückkehrverfahren gemeldet sei, welches in Absprache mit dem BFA durchgeführt werde.

7        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde der Revisionswerberinnen als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

8        Das BVwG stellte fest, es gäbe keine Anhaltspunkte dafür, dass eine Abschiebung der Revisionswerberinnen aus tatsächlichen, von ihnen nicht zu vertretenden Gründen unmöglich wäre. Es könne nicht festgestellt werden, dass es den Revisionswerberinnen aus von ihnen nicht zu vertretenden Gründen nicht möglich gewesen sei, mit der chinesischen Botschaft in Wien in Kontakt zu treten, um entsprechende Dokumente für ihre Ausreise zu beschaffen.

9        Beweiswürdigend führte das BVwG aus, das unbelegte und pauschale Vorbringen der Erstrevisionswerberin, sie habe bereits erfolglos bei der chinesischen Botschaft vorgesprochen, sei nicht ausreichend dafür, die behauptete Weigerung der chinesischen Botschaft, den Revisionswerberinnen Reisedokumente auszustellen, zu belegen. Ein Nachweis, dass sie sich tatsächlich bei der chinesischen Botschaft um Ausstellung der Reisedokumente bemüht habe, sei von der Erstrevisionswerberin nicht vorgelegt worden. Zwar habe die Erstrevisionswerberin vorgebracht, einen Fragebogen „zur Identifizierung der Bürgschaft von China“ ausgefüllt zu haben, jedoch sei weder aus diesem noch aus anderen von ihr vorgelegten Dokumenten ersichtlich, dass sie tatsächlich bei der chinesischen Botschaft vorstellig gewesen sei und diese ihren Antrag auf Ausstellung der entsprechenden Dokumente abgelehnt habe. Auch die „von der BBU GmbH vorgelegten Bestätigungen vom 26. Jänner 2022“ seien für eine solche Annahme nicht ausreichend. Es sei daher nicht glaubhaft, dass die Erstrevisionswerberin alles in ihrer Macht Stehende unternommen habe, um die Ausstellung der Dokumente bei der chinesischen Botschaft zu erwirken. Vielmehr sei davon auszugehen, dass sich die Erstrevisionswerberin nicht um die Ausstellung von Reisedokumenten in zumutbarer Weise bemüht habe.

Auch mit der Behauptung, China stelle aufgrund der restriktiven Einreisepolitik seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie seit Monaten keine Heimreisezertifikate aus, sei für die Revisionswerberinnen nichts gewonnen. Diese Behauptung finde in den aktuellen Länderinformationen der Staatendokumentation über China keine Deckung. Dort sei ausgeführt, dass unter den dort näher beschriebenen Umständen chinesische Staatsbürger nach ihrer Rückkehr nach China das Recht hätten, sich wieder im Land niederzulassen. Dass China nicht bereit wäre, seine eigenen Staatsangehörigen einreisen zu lassen, könne somit nicht erkannt werden.

10       In seiner rechtlichen Beurteilung hielt das BVwG im Wesentlichen fest, es sei als Regelfall vorausgesetzt, dass der Fremde seiner Ausreiseverpflichtung freiwillig nachkomme. Lägen im Einzelfall bestimmte faktische Ausreisehindernisse vor, wie sie insbesondere im Fehlen eines für die Ausreise erforderlichen Reisedokumentes bestehen könnten, sei es Teil einer freiwilligen Erfüllung der Ausreiseverpflichtung, sich aus Eigenem um die Beseitigung dieser Ausreisehindernisse zu kümmern (und etwa die Neuausstellung eines Reisedokumentes zu beantragen). Dies ergebe sich aus § 46 Abs. 2 FPG, wonach ein zur Ausreise verpflichteter Fremder grundsätzlich angehalten sei, das im Fehlen eines Reisedokumentes gelegene Ausreisehindernis im Rahmen seiner Möglichkeiten selbst zu beseitigen.

Die Erstrevisionswerberin habe keinen Nachweis erbracht, dass sie tatsächlich zwecks Ausstellung von Reisedokumenten mit der chinesischen Botschaft Kontakt aufgenommen habe bzw. aus welchen Gründen ihr die Ausstellung der Reisedokumente von der chinesischen Botschaft verweigert worden sei. Sie sei somit ihrer Pflicht nicht nachgekommen, bei der für sie zuständigen Behörde aus Eigenem Reisedokumente für sich und ihre minderjährigen Töchter zu beantragen und die Erfüllung dieser Pflicht dem BFA gegenüber nachzuweisen. Da die Voraussetzungen für die beantragte Duldung somit nicht vorlägen, sei die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

11       Die Voraussetzungen für ein Absehen von der Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG, wonach eine mündliche Verhandlung unterbleiben könne, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine, seien im gegenständlichen Fall erfüllt.

12       Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, in deren Zulässigkeitsbegründung die Revisionswerberinnen im Wesentlichen vorbringen, die Voraussetzungen für das Absehen von einer mündlichen Verhandlung seien im gegenständlichen Fall nicht vorgelegen. Der Sachverhalt sei aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde keineswegs hinreichend geklärt. Das BVwG habe sich in seiner Beweiswürdigung darauf beschränkt, das Vorbringen der Revisionswerberinnen, wonach die Erstrevisionswerberin bei der chinesischen Botschaft vorstellig gewesen sei, ihre Identität jedoch nicht habe festgestellt werden können, schlichtweg als unglaubwürdig abzutun. Auch eine von der BBU GmbH vorgelegte Bestätigung habe das BVwG als nicht ausreichend qualifiziert.

13       Der Verwaltungsgerichtshof hat - nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

14       Die Revision ist aus dem geltend gemachten Grund zulässig und auch begründet.

15       Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht.

16       Der Verwaltungsgerichtshof erachtet in ständiger Rechtsprechung für das Vorliegen des erstgenannten, vom BVwG herangezogenen Tatbestandes des § 21 Abs. 7 BFA-VG folgende Kriterien als maßgeblich: Der entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Entscheidungszeitpunkt des Verwaltungsgerichts noch immer die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Behörde muss die die maßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das Verwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der behördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Behörde festgestellten Sachverhalts außer Betracht bleiben kann (vgl. VwGH 30.6.2021, Ra 2018/22/0124, Pkt. 7.2., mit Verweis auf VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018).

17       Diese Voraussetzungen lagen im gegenständlichen Fall nicht vor:

Die Revisionswerberinnen haben durch das dargestellte Beschwerdevorbringen, die Erstrevisionswerberin habe einen Fragebogen zur Identifizierung der Bürgerschaft von China ausgefüllt und China würde aufgrund der restriktiven Einreisepolitik seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie keine Heimreisezertifikate ausstellen, nicht unmaßgebliche, ergänzende Tatsachenbehauptungen aufgestellt und damit den vom BFA festgestellten Sachverhalt nicht bloß unsubstantiiert bestritten. Zudem sind sie der auf das Vorhandensein einer Geburtsurkunde der Erstrevisionswerberin gestützten Begründung der belangten Behörde dahingehend entgegengetreten, dass es sich bei dem bezogenen Dokument nicht um die Geburtsurkunde der Erstrevisionswerberin handle und diese eine solche auch nie besessen habe.

18       Das BVwG hat die Überlegungen der belangten Behörde zum Vorliegen einer Geburtsurkunde der Erstrevisionswerberin im angefochtenen Erkenntnis nicht übernommen, sondern es setzte sich mit dem im Beschwerdeverfahren neu erstatteten Vorbringen der Revisionswerberinnen und mit der Stellungnahme der BBU GmbH vom Jänner 2022 beweiswürdigend auseinander und ergänzte die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung damit nicht bloß unwesentlich.

19       Eine solche ergänzende Beweiswürdigung hat jedoch regelmäßig erst nach einer Verhandlung, in der auch ein persönlicher Eindruck von der betroffenen Person gewonnen werden kann, zu erfolgen (vgl. VwGH 19.4.2018, Ra 2017/20/0363, Rn. 10, mwN).

20       In Hinblick darauf hätte das BVwG nicht von einem geklärten Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA-VG ausgehen dürfen.

21       Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

22       Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff, insbesondere § 53 Abs. 1 VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 12. Jänner 2023

Schlagworte

Auswertung in Arbeit!

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022220031.L00

Im RIS seit

24.02.2023

Zuletzt aktualisiert am

24.02.2023
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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