TE Vwgh Erkenntnis 1995/11/28 95/08/0308

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.11.1995
beobachten
merken

Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof;
40/01 Verwaltungsverfahren;

Norm

AVG §71 Abs1 Z1;
VwGG §46 Abs1;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Liska und die Hofräte Dr. Knell, Dr. Müller, Dr. Novak und Dr. Sulyok als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Hackl, über die Beschwerde der Maria H, vertreten durch den Sachwalter Fritz H in W, dieser vertreten durch Dr. L, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid der Wiener Landesregierung vom 23. Mai 1995, Zl. MA 12 - 13002/93, betreffend Abweisung eines Antrages auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in einer Sozialhilfesache, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Das Land Wien hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 13.220,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid hat die belangte Behörde dem Antrag der Beschwerdeführerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einbringung einer Vorstellung gegen einen Mandatsbescheid des Wiener Krankenanstaltenverbundes vom 18. März 1993 abgewiesen.

Dabei ist die belangte Behörde von folgendem Sachverhalt ausgegangen:

"Innerhalb offener Frist verfaßte der Rechtsvertreter der (Beschwerdeführerin) die Vorstellung und gab nach Korrektur derselben den unterzeichneten Schriftsatz am 1.4.1993 zwecks postalischer eingeschriebener Versendung an die Behörde seiner hiefür zuständigen Kanzleiangestellten. Über das Geschehen nach der Übergabe des Schriftsatzes gab die (Beschwerdeführerin) im Wiedereinsetzungsantrag an, daß auf Grund eines nicht mehr nachvollziehbaren Versehens die versandfertige Ausfertigung von der Kanzleikraft nicht frankiert, sondern irrtümlich unfrankiert in den Handakt zurückgelegt und dieser in das entsprechende Aktenfach mit dem 4-wöchigen Kalender zur Evidenthaltung eingereiht worden sei. In der Berufung gegen den den Wiedereinsetzungsantrag abweisenden Bescheid präzisierte die (Beschwerdeführerin) diese Ausführungen dahingehend, daß ihr Rechtsvertreter zusammen mit der Weisung, den zeitgerecht ausgefertigten und unterfertigten Schriftsatz eingeschrieben an die Behörde zu senden, gleichzeitig auch die Weisung gegeben habe, ihm den Akt zwecks Evidenthaltung vier Wochen auf Kalender zu legen. Nach Angaben der Berufungswerberin sind 4-wöchige Kalendierungen in der Kanzlei ihres Rechtsvertreters üblich und wurde dementsprechend der Akt am 30.4.1993 wieder vorgelegt, weshalb erst dann die Fristversäumnis erkannt wurde.

Wenn daher die Kanzleiangestellte des Parteienvertreters die ausdrückliche Weisung erhält, den ihr übergebenen Schriftsatz eingeschrieben an die Behörde zu versenden, sie jedoch anschließend den unterschriebenen und versandbereiten Schriftsatz in den Handakt einlegt und danach für vier Wochen kalendiert, so vermag die Berufungsbehörde darin weder ein unabwendbares Ereignis, noch einen lediglich minderen Grad des Versehens erkennen. Dies deshalb, da sich die Kanzleiangestellte der Bedeutung des Schriftsatzes durchaus bewußt gewesen sein mußte, wenn sie einerseits die Weisung des Parteienvertreters bekam, den Schriftsatz zur Post zu geben, andererseits diesen anschließend auch selbständig dem richtigen Handakt zuordnete. Nicht nur durch die Eintragung "Vorstellung" im Fristenbuch, sondern auch durch die Tatsache, daß das den Akt betreffende Rechtsmittel geschrieben und danach korrigiert wurde, mußte der Kanzleikraft verdeutlicht worden sein, daß es sich beim gegenständlichen Terminakt nicht bloß um einen Wiedervorlageakt zur Durchsicht handelte. Auch kann nicht von ausreichenden organisatorischen Vorkehrungen von Fristversäumnissen gesprochen werden, wenn im Fristenbuch keine Anmerkungen darüber vorhanden sind, ob die an einem bestimmten Tag anfallenden Aufgaben tatsächlich durchgeführt wurden. Selbst wenn neben den Stichworten in den Rubriken "Fristenanmerkung" sowie "Parteien" angeführten Abkürzungen diese Bedeutung zukommt, hätte eine etwa am Ende eines jeweiligen Arbeitstages stattfindende Kontrolle des Fristenbuches ergeben müssen, daß die Postaufgabe des Rechtsmittels nicht erfolgte."

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, der Sache nach Rechtswidrigkeit des Inhaltes geltend machende Beschwerde.

Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die belangte Behörde stützt sich in der oben wiedergegebenen Begründung des angefochtenen Bescheides im wesentlichen auf zwei Umstände, die sie für wiedereinsetzungsschädlich hält: Zum einen qualifizierte sie das Verhalten der KANZLEIANGESTELLTEN des Beschwerdevertreters als einen minderen Grad des Versehens überschreitend, zum anderen lastete sie dem Beschwerdevertreter an, die Kontrolle des Fristenbuches unterlassen zu haben.

Was den erstgenannten Vorwurf betrifft, vertritt der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, daß das Verschulden des Vertreters einer Partei an der Fristversäumung dem Verschulden der Partei selbst gleichzuhalten ist, während jenes des Kanzleibediensteten eines bevollmächtigten Rechtsanwaltes demjenigen der Partei oder des Rechtsanwaltes nicht schlechterdings gleichgesetzt werden darf. Das Versehen einer solchen Kanzleibediensteten stellt dann ein unvorhersehbares und unabwendbares Ereignis dar, wenn der Rechtsanwalt der ihm zumutbaren und nach der Sachlage gebotenen Überwachungspflicht jener Bediensteten gegenüber nachgekommen ist. Ein Verschulden trifft den Rechtsanwalt jedenfalls dann nicht, wenn sich zeigt, daß die Fristversäumung auf einem ausgesprochen weisungswidrigem Verhalten der betreffenden Kanzleibediensteten beruht, ohne daß ein eigenes Verschulden des Rechtsanwaltes hinzugetreten wäre (vgl. etwa die Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofes vom 27. März 1990, Zl. 89/07/0184, vom 25. September 1990, Zlen. 90/08/0149, 0150, 0162, und 0163, sowie vom 10. Oktober 1991, Zl. 91/06/0162).

Der Parteienvertreter, der den fristgebundenen Schriftsatz auf Vollständigkeit aller Beilagen kontrolliert, unterfertigt und zur Abfertigung der Sekretärin übergeben hat, verletzt seine anwaltliche Sorgfaltspflicht nicht etwa dadurch, daß er die sonst verläßliche, langjährige Kanzleikraft bei der Kuvertierung oder bei der Postaufgabe nicht persönlich überwacht. Es kann nämlich nicht als eine - unter dem Gesichtspunkt einer rationellen und arbeitsteiligen, die Besorgung abgegrenzter Aufgabenbereiche delegierenden Betriebsführung - zweckmäßige und zumutbare Kontrollmaßnahme angesehen werden, wenn sich der Rechtsanwalt nach der Übergabe der Poststücke an die damit beauftragte Mitarbeiterin in jedem Fall noch von der tatsächlichen Durchführung der Expedierung der Sendung zu überzeugen hätte. Solche rein technische Vorgänge kann der Rechtsanwalt daher ohne nähere Beaufsichtigung einer verläßlichen Kanzleikraft überlassen (vgl. den Beschluß vom 10. Oktober 1991, Zl. 91/06/0162, mit zahlreichen Rechtsprechungshinweisen).

Soweit sich daher die belangte Behörde in der Begründung des angefochtenen Bescheides eingehend mit dem Verschulden der Kanzleiangestellten befaßt, übersieht sie, daß es vor dem Hintergrund der genannten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht auf deren Verschulden, sondern ausschließlich auf ein allfälliges Organisationsverschulden des Beschwerdevertreters ankommt, sodaß der angefochtene Bescheid insoweit inhaltlich rechtswidrig ist.

Ein Organisationsverschulden des Beschwerdevertreters erblickt die belangte Behörde allerdings darin, daß die "am Ende des jeweiligen Arbeitstages" erforderliche Kontrolle des Fristenbuches - ihrer Deutung des Fristenbuches zufolge - nicht erfolgt sei.

Dazu wird in der Beschwerde ausgeführt, daß aus der vorgelegten Kopie des Fristenbuches ersichtlich sei, "daß die Erledigung bis zum Versendungsvorgang tatsächlich überprüft wurde, weshalb die eingetragene Frist abgehakt wurde".

Der Beschwerdevertreter hat mit seinem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eine Ablichtung des Fristenbuches, welche den 1. bis 4. April 1993 umfaßt, vorgelegt. In dieser Ablichtung sind die eingetragenen Fristen teils durchgestrichen, teils abgehakt, teils aber auch mit Handzeichen versehen, von denen nicht erkennbar ist, welche Bedeutung ihnen zukommt. Die Beschwerdeführerin hat zur Frage der Fristenkontrolle in ihrem Wiedereinsetzungsantrag nichts ausdrückliches vorgebracht. Weder die Behörde erster Instanz, noch die Berufungsbehörde hat in der Folge den Beschwerdevertreter dazu befragt, auf welche Weise in seiner Kanzlei die erfolgte Kontrolle einer Rechtsmittelfrist ersichtlich gemacht wird. Auch hat die belangte Behörde ihre - dem Tatsachenbereich zugehörende - Feststellung, daß eine Kontrolle der Rechtsmittelfrist nicht erfolgt sei, dem Beschwerdeführer nicht vorgehalten, sodaß er auch im Verfahren keine Gelegenheit hatte, dazu Stellung zu nehmen. Die Feststellung der belangten Behörde, eine Kontrolle des Fristenbuches hätte ergeben müssen, daß die Postaufgabe des Rechtsmittels nicht erfolgt sei, beruht daher auf keinen entsprechenden Ermittlungsergebnissen. Aus dem äußeren Erscheinungsbild des Fristenbuches allein ist die Schlußfolgerung der belangten Behörde nicht zweifelsfrei ableitbar.

In diesem Zusammenhang sei in rechtlicher Hinsicht auch darauf hingewiesen, daß das Streichen des Terminvormerkes durch den Beschwerdevertreter vor der eigentlichen Postabfertigung, aber nach Übergabe an die Sekretärin kein Verschulden darstellen würde, weil einerseits der Beschwerdevertreter ohne weitere Kontrolle auf das tatsächliche Erfolgen der Postaufgabe entweder durch eine verläßliche oder durch eine im Einzelfall angewiesene Kanzleikraft vertrauen darf, andererseits nur eine die rechtzeitig erfolgte Erledigung durch den Rechtsanwalt anzeigende zeitgerechte Streichung des Fristvormerkes dessen eigentlicher Funktion entspricht (vgl. dazu ausführlich den bereits erwähnten Beschluß vom 10. Oktober 1991, Zl. 91/06/0162).

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1995:1995080308.X00

Im RIS seit

20.11.2000

Zuletzt aktualisiert am

23.06.2010
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten