TE Vwgh Erkenntnis 1995/11/28 94/20/0879

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Veröffentlicht am 28.11.1995
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein;
40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 1991 §1 Z1;
AVG §37;
AVG §39 Abs2;
AVG §45 Abs2;
AVG §46;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwRallg;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Fürnsinn und die Hofräte Dr. Kremla, Dr. Händschke, Dr. Baur und Dr. Bachler als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Kopp, über die Beschwerde des Y in W, vertreten durch Dr. H, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 7. November 1994, Zl. 4.342.248/1-III/13/93, betreffend Asylgewährung, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Türkei kurdischer Nationalität, der am 4. September 1992 in das Bundesgebiet eingereist ist, hat seinen am 11. September 1992 schriftlich gestellten Asylantrag damit begründet, er habe "von 1985 auf 1986" in Elazig Soziologie studiert, habe dieses Studium aber abbrechen müssen, weil auf Studenten kurdischer Abstammung "ungeheurer Druck" ausgeübt worden sei. So sei er beim Versuch, sich zu Prüfungen anzumelden immer wieder vertröstet bzw. ignoriert worden. Am Universitätsgelände sei er zusammen mit einigen Kollegen von der Polizei verhaftet und stundenlang über seine politischen An- und Absichten verhört und für den Fall unrichtiger Angaben mit dem Tod bedroht worden. Da er diesen Druck nicht mehr ausgehalten habe, sei er zunächst zurück zu seinen Eltern gezogen. Da dort die Polizei gegen die Menschen und insbesondere die Jugendlichen ebenso wie in Elazig vorgegangen sei, sei er nach Istanbul gezogen. Dort habe er sich ca. fünf Jahre aufgehalten, wobei es ihm wegen seiner kurdischen Herkunft aber auch wegen des starken Bildungsgefälles zum Osten des Landes hin nicht möglich gewesen sei zu studieren. Er habe daher als Kellner gearbeitet. Er sei mehrmals insgesamt für mehrere Tage von der Polizei wegen Namensähnlichkeit mit einer türkischen bzw. kurdischen Terroristin namens G verhaftet worden. Die letzte derartige Anhaltung habe 20 Stunden gedauert und habe sich am 20. August 1992 ereignet. Der Beschwerdeführer sei immer wieder für den Fall unwahren Vorbringens mit seiner Ermordung bedroht worden.

Bei seiner Befragung am 7. Oktober 1992 durch das Bundesasylamt begründete der Beschwerdeführer seinen Asylantrag damit, daß er Tunceli verlassen habe, weil er sein Studium dort nicht habe fortsetzen können. Er habe der in der Osttürkei von den Soldaten ausgehenden Unterdrückung durch Verdächtigungen, der PKK anzugehören, entgehen wollen und sei zu seinem Onkel in Istanbul gefahren. Dieser habe geglaubt, der Beschwerdeführer gehöre einer illegalen Partei an, und habe ihn daher nicht aufgenommen. In Istanbul habe er versucht, sein Studium fortzusetzen; er habe aber dreimal die Aufnahmeprüfung für die Universität wegen des niedrigen Ausbildungsniveaus in der Osttürkei nicht geschafft. Der Beschwerdeführer sei in der Osttürkei lediglich Sympathisant der "DEV-Sol" gewesen und habe für diese in der Mittelschule Flugblätter verteilt. Daraus seien ihm aber keine Probleme erwachsen. Er habe allerdings bei seinem Studiumsantritt in Elazig mit fünf anderen kurdischen, alevitischen Kollegen keinen Heimplatz erhalten und habe daher mit diesen zusammen zunächst in einem Hotel gewohnt. Dies habe den Argwohn der Polizei erweckt und noch im Studienjahr 1985/1986 seien er und seine fünf Kollegen dreimal zur Polizei gebracht und verdächtigt worden, einer illegalen Organisation anzugehören. Es seien ihnen Anschläge und das Verteilen von Flugblättern vorgeworfen worden. Sie seien jedesmal fünf bis zehn Stunden festgehalten und geschlagen worden. Schließlich sei es bei einer Protestversammlung der Studenten, an der auch der Beschwerdeführer teilgenommen habe, zu Ausschreitungen, an denen er sich nicht beteiligt habe, gekommen, in deren Verlauf Polizisten mit Steinen beworfen worden seien. Am Abend habe der Beschwerdeführer gerade noch gesehen, wie zwei Polizisten in Zivil auf das von ihm bewohnte Haus zugekommen seien. Er sei sofort zu seinen Eltern geflüchtet, weil er eine weitere Festnahme psychisch nicht hätte ertragen können. Dort habe ihn die Polizei nicht gesucht. In Istanbul sei er des öfteren ("ungefähr 13 Mal") auf der Straße kontrolliert und immer wieder aufs Polizeirevier gebracht worden. Wegen seiner Namensgleichheit mit dem Terroristen G sei er jedesmal für etwa 20 Stunden festgehalten, verhört und geschlagen worden. Dies obwohl bei seinen letzten Einvernahmen der angeführte Terrorist bereits erschossen gewesen sei; dies sei der Polizei in Istanbul aber vermutlich noch nicht bekannt gewesen. Es sei ihm einfach deshalb, weil er aus der Provinz Tunceli gekommen sei, vorgeworfen worden, einer illegalen Organisation anzugehören, und mit dem Tod gedroht worden. Außer einer Schramme an der Unterlippe habe er keine sichtbaren Narben. Anlaß für seine Flucht sei eine Anhaltung etwa 20 Tage vor seiner Ausreise gewesen. Im Fall seiner Rückkehr müßte er mit fünf Jahren Gefängnis rechnen, weil die Polizei versuchen würde, ihm ein Geständnis für eine ungeklärte politische Straftat abzuzwingen.

In einem in den vorgelegten Verwaltungsakten enthaltenen Aktenvermerk des Bundesasylamtes vom 8. Oktober 1992 ist festgehalten, daß der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers während der niederschriftlichen Einvernahme des Beschwerdeführers um die Einvernahme eines Cousins des Beschwerdeführers, der sich bereits längere Zeit in Österreich aufhalte, ersucht habe. Der Zeuge könne die Anhaltungen und Schläge, die der Beschwerdeführer in der Türkei erlitten habe und über die der Zeuge telephonisch informiert worden sei, bestätigen. Dem Bundesasylamt erscheine diesem Aktenvermerk zufolge in Anbetracht des dargelegten Sachverhaltes eine solche zusätzliche Zeugeneinvernahme entbehrlich.

Mit Bescheid vom 8. Oktober 1992 wies das Bundesasylamt den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 3 Asylgesetz 1991 ab. Ausführungen hinsichtlich der beantragten Zeugeneinvernahme sind in diesem Bescheid nicht enthalten.

In der gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung rügte der Beschwerdeführer zunächst, daß sich die Behörde erster Instanz mit seinem Beweisantrag auf Zeugenvernehmung nicht auseinander gesetzt habe. Die Einvernahme des namhaft gemachten Zeugen hätte die Aussagen des Beschwerdeführers untermauert und in der Behörde erster Instanz die Überzeugung vom Vorliegen von Verfolgung hervorgerufen. Im übrigen bekräftigte der Beschwerdeführer sein erstinstanzliches Vorbringen. Insbesondere könne entgegen der Ansicht der Behörde erster Instanz die Verfolgung des Beschwerdeführers nicht deshalb ausgeschlossen werden, weil kein Kurde allein auf Grund seiner Abstammung verfolgt würde. Der Behörde erster Instanz könne auch nicht gefolgt werden, wenn sie die Auffassung vertrete, zwischen den Mißhandlungen des Beschwerdeführers und seiner Flucht bestehe kein zeitlicher Zusammenhang, weil er letztmalig 20 Tage vor seiner Ausreise von der Polizei geschlagen worden sei und davon auch eine Narbe an der Unterlippe davongetragen habe. Auf Grund dieser Narbe wäre die Behörde erster Instanz verpflichtet gewesen, den Asylantrag des Beschwerdeführers zufolge § 17 Abs. 4 Z. 2 Asylgesetz 1991 als offensichtlich begründet anzusehen. Der Ausschluß des Beschwerdeführers vom Hochschulstudium stehe im Widerspruch zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen. Gleichzeitig stellte der Beschwerdeführer den Antrag, das Bundesasylamt möge ihm gemäß § 7 Abs. 4 Asylgesetz 1991 eine "vorläufige Aufenthaltsbescheinigung" ausstellen.

Mit Bescheid vom 2. März 1993 wies das Bundesasylamt den Antrag des Beschwerdeführers auf Feststellung und Bescheinigung einer vorläufigen Aufenthaltsberechtigung gemäß § 7 Abs. 1 und 4 Asylgesetz 1991 ab.

Auch gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Berufung.

Mit Bescheid vom 7. November 1994 wies die belangte Behörde in Spruchpunkt 1.) die Berufung des Beschwerdeführers gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 8. Oktober 1992, mit dem sein Asylantrag abgewiesen worden war gemäß § 66 Abs. 4 AVG ab und in Spruchpunkt 2.) die Berufung des Beschwerdeführers gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 2. März 1993, mit dem sein Antrag auf Feststellung und Bescheinigung einer vorläufigen Aufenthaltsberechtigung abgewiesen worden war, gemäß § 66 Abs. 4 AVG in Verbindung mit § 7 Abs. 3 Asylgesetz 1991 ab.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften erhobene Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Der belangten Behörde ist zunächst zuzustimmen, wenn sie die Auffassung vertreten hat, daß die vom Beschwerdeführer dargelegte Behinderung bei der Absolvierung eines Universitätsstudiums keinen so intensiven Eingriff in die Rechtssphäre des Beschwerdeführers darstelle, daß ein weiterer Aufenthalt in seinem Heimatland deshalb für ihn unerträglich gewesen wäre. Ebenso ist ihr darin beizupflichten, daß Vorfälle, die - wie die Begebenheiten während des Studiums des Beschwerdeführers in den Jahren 1985 und 1986 - bereits länger zurückliegen, nicht geeignet sind, begründete Furcht vor Verfolgung im Zeitpunkt der Ausreise im Jahre 1992 glaubhaft zu machen.

Soweit die belangte Behörde die vom Beschwerdeführer ins Treffen geführten, wiederholten und bis 20 Tage vor seiner Ausreise andauernden Verhaftungen und Mißhandlungen als zu wenig konkretisiert und daher auch unglaubwürdig erachtet, ist ihr entgegenzuhalten, daß der Beschwerdeführer gerade zu diesem Beweisthema bereits im Verfahren vor der Behörde erster Instanz die Einvernahme seines Cousins als Zeuge beantragt hat. Diese Zeugeneinvernahme hat die belangte Behörde lediglich mit dem Bemerken abgelehnt, daß der Sachverhalt für sie hinlänglich feststehe. Wohl liegt es im Wesen der freien Beweiswürdigung, daß weitere Beweisaufnahmen dann unterbleiben können, wenn sich die Verwaltungsbehörde auf Grund der bisher vorliegenden Beweise ein klares Bild über die maßgebenden Sachverhaltselemente machen konnte (vgl. die in Hauer-Leukauf, Handbuch des österreichischen Verwaltungsverfahrens 4, Eisenstadt 1990, S. 304 f, zitierte Judikatur). Allerdings ist den Verwaltungsverfahrensgesetzen eine antizipative Beweiswürdigung fremd, und es ist demnach eine Würdigung der Beweise nur nach deren Aufnahme möglich (vgl. die in Hauer - Leukauf aaO, S. 311, zitierte Judikatur). Wenn wie im Beschwerdefall für das Vorliegen eines für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes - im Beschwerdefall die Frage des Vorliegens von Verfolgung des Beschwerdeführer während seines Aufenthaltes in Istanbul - ein Zeuge angeboten wird, steht die Vorgangsweise der belangten Behörde, die Einvernahme des Zeugen mit dem Hinweis auf den hinlänglich feststehenden Sachverhalt abzulehnen und gleichzeitig aber das durch die Zeugenaussage zu belegende Vorbringen als zu unsubstantiiert abzutun, in Widerspruch zu den Grundsätzen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens.

Der belangten Behörde kann auch nicht gefolgt werden, wenn sie die Freilassung des Beschwerdeführers als Indiz gegen eine Verfolgungsabsicht des türkischen Staates wertet. Aus den unwiderlegt gebliebenen Darlegungen des Beschwerdeführers ergibt sich, daß er immer wieder auf der Straße festgenommen und der Zugehörigkeit zu illegalen Organisationen bezichtigt wurde. Warum die Furcht, bei anderen Gelegenheiten wieder festgenommen zu werden, auf Grund der im Verlauf des dargestellten Geschehens immer wieder erfolgten Freilassungen des Beschwerdeführers unbegründet sein soll, ist nicht nachvollziehbar.

Es ergibt sich somit, daß Ermittlungen zu einem für die Frage des Vorliegens von Verfolgung bedeutsamen Sachvorbringen unterblieben sind, weshalb auch der Sachverhalt in einem wesentlichen Punkt ergänzungsbedürftig geblieben ist. Dies wirkt sich auch auf die Rechtmäßigkeit der mit dem rechtskräftigen Abschluß des Asylverfahrens begründeten Abweisung des das vorläufige Aufenthaltsrecht des Beschwerdeführers betreffenden Antrages aus.

Da insoweit auch Verfahrensvorschriften außer acht gelassen wurden, bei deren Einhaltung die belangte Behörde zu einem anderen Bescheid hätte gelangen können, mußte der angefochtene Bescheid zur Gänze - auch soweit mit ihm die Feststellung und Bescheinigung der vorläufigen Aufenthaltsberechtigung abgewiesen wurde - gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufgehoben werden.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

Schlagworte

Ablehnung eines Beweismittels Beweiswürdigung antizipative vorweggenommene Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Erheblichkeit des Beweisantrages

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1995:1994200879.X00

Im RIS seit

11.07.2001
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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