TE Vwgh Erkenntnis 2022/12/21 Ra 2021/21/0069

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Veröffentlicht am 21.12.2022
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

BFA-VG 2014 §21 Abs7
FrPolG 2005 §76
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
  1. VwGG § 42 heute
  2. VwGG § 42 gültig ab 01.01.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  3. VwGG § 42 gültig von 01.07.2012 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 51/2012
  4. VwGG § 42 gültig von 01.07.2008 bis 30.06.2012 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  5. VwGG § 42 gültig von 01.01.1991 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 330/1990
  6. VwGG § 42 gültig von 05.01.1985 bis 31.12.1990
  1. VwGG § 42 heute
  2. VwGG § 42 gültig ab 01.01.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  3. VwGG § 42 gültig von 01.07.2012 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 51/2012
  4. VwGG § 42 gültig von 01.07.2008 bis 30.06.2012 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  5. VwGG § 42 gültig von 01.01.1991 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 330/1990
  6. VwGG § 42 gültig von 05.01.1985 bis 31.12.1990

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision der M O, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Jordangasse 7/4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Jänner 2021, W171 2236118-2/6E, betreffend Schubhaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Über die Revisionswerberin, eine nigerianische Staatsangehörige, gegen die davor mit unbekämpft gebliebenem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 26. August 2020 eine Rückkehrentscheidung samt fünfjährigem Einreiseverbot erlassen worden war, wurde mit Mandatsbescheid des BFA vom 24. September 2020 gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft insbesondere auch zur Sicherung der Abschiebung verhängt. Der Bescheid wurde sogleich in Vollzug gesetzt.

2        Die vom BFA in der Folge unternommenen Abschiebeversuche am 22. Oktober 2020, am 12. November 2020, am 10. Dezember 2020 und am 19. Jänner 2021 scheiterten - ungeachtet einer vorangegangenen Identifizierung der Revisionswerberin am 8. Oktober 2020 - in Ermangelung der Ausstellung eines Heimreisezertifikats durch die nigerianische Botschaft. Nach dem erfolglosen Abschiebeversuch am 19. Jänner 2021 wurde die Revisionswerberin aus der Schubhaft entlassen.

3        Mit Erkenntnis vom 22. Oktober 2020 hatte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen den Schubhaftbescheid und die darauf gegründete Anhaltung in Schubhaft erhobene Beschwerde gemäß § 22a Abs. 1 Z 3 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG als unbegründet abgewiesen. Gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG stellte es überdies fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen.

4        Die dagegen erhobene Revision wurde vom Verwaltungsgerichtshof mit dem Beschluss VwGH 17.11.2022, Ra 2020/21/0497, zurückgewiesen. In seiner Begründung zur Realisierbarkeit der Abschiebung aus damaliger Sicht führte der Gerichtshof aus, das BVwG sei nicht von der dazu ergangenen ständigen Rechtsprechung abgewichen und habe konkrete Feststellungen über die Identifizierung der Revisionswerberin und die Zusage der Ausstellung eines Heimreisezertifikats durch die nigerianische Botschaft getroffen. Das eine Rückübernahmezusage anzweifelnde Revisionsvorbringen entferne sich von den insoweit nicht konkret bekämpften Feststellungen des BVwG. Dass die Abschiebung der Revisionswerberin nicht - wie geplant - am 22. Oktober 2020 erfolgt sei, mache die darauf noch nicht Bedacht nehmende Begründung des (dort) angefochtenen Erkenntnisses noch nicht rechtswidrig. Trotz der Nichtdurchführung der für den 22. Oktober 2020 geplanten Abschiebung der Revisionswerberin sei es in Anbetracht des bereits durchgeführten Botschaftstermins und der Zusage über die Ausstellung eines Heimreisezertifikates jedenfalls vertretbar gewesen, von einer letztlich erfolgreichen Abschiebung innerhalb der Schubhafthöchstdauer auszugehen. Im maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung habe die Anhaltung der Revisionswerberin in Schubhaft noch nicht einmal zwei Monate gedauert und es seien zumindest damals keine Hinweise ersichtlich gewesen, dass eine Abschiebung der Revisionswerberin nach Nigeria nicht in absehbarer Zeit doch möglich sein würde.

5        Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 19. Jänner 2021 wies das BVwG die gegen die Anhaltung in Schubhaft „ab Zustellung“ des einen neuen Schubhafttitel bildenden Erkenntnisses des BVwG vom 22. Oktober 2020 erhobene Beschwerde vom 12. Jänner 2021 gemäß § 22a Abs. 1 Z 3 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG als unbegründet ab (Spruchpunkt I.) und traf diesem Verfahrensergebnis entsprechende Kostenentscheidungen (Spruchpunkte II. und III.).

6        In seiner Begründung stützte sich das BVwG für die Annahme einer Fluchtgefahr - wie auch schon im Erkenntnis vom 22. Oktober 2020 (im folgenden auch „Vorerkenntnis“) - weiterhin auf die Tatbestände des § 76 Abs. 3 Z 1, 3 und 9 FPG. Zur Möglichkeit der Abschiebung stellte das BVwG fest, eine Delegation der nigerianischen Botschaft habe die Revisionswerberin am 8. Oktober 2020 identifiziert und die Ausstellung eines Heimreisezertifikates zugesagt. Die Abschiebung der Revisionswerberin nach Nigeria sei für den 22. Oktober 2020 geplant gewesen. „In rechtlicher Unkenntnis“ der nigerianischen Botschaft sei jedoch vor diesem Abschiebetermin die Ausstellung des Heimreisezertifikats verweigert worden. Es seien auch drei weitere Versuche, ein Heimreisezertifikat zu erhalten, misslungen, weil die nigerianische Botschaft geglaubt habe, eine Schubhaftbeschwerde bzw. eine eingebrachte Revision würde „an der Ausreiseverpflichtung rechtlich etwas ändern können“. Die Botschaft habe diesbezüglich „nicht vereinbarungskonform bzw. willkürlich“ agiert. Aufgrund der durch das BFA bisher erfolgten Interventionen bzw. Urgenzen in den vergangenen Monaten habe es bis zum Abschiebeversuch am 19. Jänner 2021 davon ausgehen dürfen, dass die Ausstellung eines bereits zugesagten Heimreisezertifikates nicht neuerlich verweigert würde. Nachdem die nigerianische Botschaft die Ausstellung des Heimreisezertifikates für die zuletzt am 19. Jänner 2021 geplante Abschiebung wiederum verweigert habe, sei die Revisionswerberin an diesem Tag aus der Schubhaft entlassen worden. Die Unmöglichkeit der Abschiebung habe sich - so folgerte das BVwG in der rechtlichen Begründung - erst nach dem gescheiterten Abschiebeversuch vom 19. Jänner 2021 ausreichend manifestiert.

7        Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG unterbleiben können, weil der Sachverhalt aufgrund der Aktenlage und des Inhalts der Beschwerde geklärt sei. Der entscheidungswesentliche, schon im Vorerkenntnis „herangezogene“ Sachverhalt - insbesondere das Vorliegen von Fluchtgefahr - sei in der Beschwerde nicht substantiiert bestritten worden. Die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Schubhaft basiere auf dem Akteninhalt, eine „eine nähere Abklärung der Sachlage“ habe unterbleiben können.

8        Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

9        Über die gegen diese Entscheidung erhobene außerordentliche Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10       Zum Vorliegen einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG wird in der Revision vorgebracht, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, indem es - vom Beschwerdevorbringen abweichende - gegenüber dem Vorerkenntnis vom 22. Oktober 2020 neue Feststellungen zur Begründung der Plausibilität der zeitnahen Möglichkeit einer Abschiebung, insbesondere zur Ursache der bisherigen Verweigerung der Ausstellung eines Heimreisezertifikats durch die Botschaft und zu den unternommenen Interventionen des BFA, getroffen und trotzdem von der in der Beschwerde beantragten mündlichen Verhandlung abgesehen habe.

11       Die Revision erweist sich - wie die nachstehenden Ausführungen zeigen - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als zulässig; sie ist auch berechtigt.

12       Gemäß § 21 Abs. 7 erster Fall BFA-VG kann trotz Vorliegens eines darauf gerichteten Antrags von der Durchführung einer Beschwerdeverhandlung abgesehen werden, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt bereits aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint.

13       Davon konnte im vorliegenden Fall angesichts der strittigen Frage betreffend die Möglichkeit der Erlangung eines Heimreisezertifikats von der nigerianischen Botschaft und der zeitnahen Realisierbarkeit der Abschiebung der Revisionswerberin nach Nigeria vor dem Hintergrund des mehrfachen Scheiterns von Abschiebeversuchen aber keine Rede sein.

14       Zur Frage der Realisierbarkeit einer zeitnahen Abschiebung der Revisionswerberin in ihren Herkunftsstaat (zu deren Relevanz siehe etwa VwGH 12.1.2021, Ra 2020/21/0378, Rn. 14, mwN, und den die Revisionswerberin betreffenden, oben in Rn. 4 bereits erwähnten Beschluss VwGH 17.11.2022, Ra 2020/21/0497, Rn. 15) legte das BVwG seiner Entscheidung - ohne nähere Anführung der jeweiligen Beweismittel - offenbar in den Akten befindliche interne Kommunikation des BFA zugrunde, aus der Interventionen bzw. Urgenzen des BFA bei der nigerianischen Botschaft zur Ausstellung eines Heimreisezertifikats für die Revisionswerberin ableitbar sind. Davon ausgehend kam es zum Ergebnis, das BFA habe - trotz mehrfacher Verweigerung der Ausstellung eines Heimreisezertifikats - bis zur letztlich erfolgten Enthaftung der Revisionswerberin am 19. Jänner 2021 davon ausgehen dürfen, dass ihre Abschiebung innerhalb der höchstzulässigen Schubhaftdauer möglich sei. Diesbezüglich bemängelt die Revision zutreffend, dass das BVwG diese Feststellungen und Annahmen nicht ohne Einräumung von rechtlichem Gehör zulasten der Revisionswerberin hätte treffen und insoweit auch nicht von einem geklärten Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG hätte ausgehen dürfen (vgl. VwGH 11.5.2021, Ra 2020/21/0526, Rn. 12; VwGH 11.3.2021, Ra 2020/21/0503, Rn. 16; siehe auch VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0152, Rn. 12/13).

15       Angesichts der über die Feststellungen im Vorerkenntnis hinausgehenden, vom BVwG nur anhand der Aktenlage und ohne Erörterung mit der Revisionswerberin erstmals getroffenen Sachverhaltsannahmen zu den Gründen für die Verweigerung der Ausstellung eines Heimreisezertifikats, den dadurch notwendig gewordenen Stornierungen der Abschiebeflüge und den (zeitlich und inhaltlich) nur undifferenziert zu Grunde gelegten Interventionen bzw. Urgenzen des BFA bei der nigerianischen Botschaft rügt die Revision somit zu Recht das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung. Im fortgesetzten Verfahren werden insbesondere auch Feststellungen zur jeweiligen Reaktion der nigerianischen Botschaft auf die Interventionen bzw. Urgenzen des BFA zu treffen sein, um in rechtlicher Hinsicht beurteilen zu können, bis zu welchem Zeitpunkt das BFA von einer zeitnahen Realisierbarkeit der Abschiebung ausgehen durfte.

16       Deshalb war das bekämpfte Erkenntnis in Bezug auf die Abweisung der Schubhaftbeschwerde gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben, was auch auf die zum Nachteil der Revisionswerberin getroffenen Kostenentscheidungen durchschlägt.

17       Von der in der Revision beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.

18       Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 21. Dezember 2022

Schlagworte

Besondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021210069.L00

Im RIS seit

30.01.2023

Zuletzt aktualisiert am

30.01.2023
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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