TE Vfgh Erkenntnis 2022/12/14 E1858/2021

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.12.2022
beobachten
merken

Index

10/07 Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit

Norm

B-VG

Leitsatz

Auswertung in Arbeit

Spruch

I. Die Beschwerdeführerin ist durch Spruchpunkt II. des angefochtenen Erkenntnisses wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

II. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

III. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige der Russischen Föderation. Sie stellte am 24. Dezember 2020 einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen Antrag hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Bescheid vom 29. Jänner 2021 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkte I., II.), der Beschwerdeführerin einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.), festgestellt, dass die Abschiebung in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt V.) und dass keine Frist für die freiwillige Ausreise besteht (Spruchpunkt VI.), sowie ein auf drei Jahre befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.). Zudem wurde der Beschwerde gegen diese Entscheidung die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VIII.).

2. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der Spruchpunkte I. bis VI. und VIII. als unbegründet ab (Spruchpunkt I.). Soweit die Beschwerde gegen Spruchpunkt VII. gerichtet war, hat das Bundesverwaltungsgericht ihr mit der Maßgabe stattgegeben, dass dieser lautet: "Gemäß §53 Abs1 iVmin Verbindung mit Abs2 Z6 Fremdenpolizeigesetz, BGBl Nr 100/2005Bundesgesetzblatt Nr 100 aus 2005,, idgF., wird gegen Sie ein auf die Dauer von 2 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen" (Spruchpunkt II.). Mit Spruchpunkt III. hat das Bundesverwaltungsgericht den Antrag der Beschwerdeführerin auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung zurückgewiesen.

In der Begründung zu Spruchpunkt II. führt das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass die Beschwerdeführerin nicht selbsterhaltungsfähig sei und keine eigenen Mittel zur Bestreitung ihres Unterhaltes habe. Das Mitführen von EUR 200 bei der Asylantragstellung sei nicht geeignet, ihren Aufenthalt im Bundesgebiet sowie ihre Verpflegung zu finanzieren. Die Beschwerdeführerin sei somit mittellos und erfülle, wie von der belangten Behörde zu Recht ausgeführt worden sei, bereits den (die Verhängung eines Einreiseverbotes prinzipiell rechtfertigenden) Tatbestand des §53 Abs2 Z6 FPG. Vor dem Hintergrund der finanziellen Gesamtsituation der Beschwerdeführerin müsse auch die diesbezügliche Zukunftsprognose negativ ausfallen und indiziere die Erfüllung des §53 Abs2 Z6 FPG, dass ein Verbleib der Beschwerdeführerin im Bundesgebiet eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle. Allerdings könne mit einem Einreiseverbot befristet auf zwei Jahre das Auslangen gefunden werden.

3. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

II. Erwägungen

1. Die zulässige Beschwerde ist – soweit sie sich gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Erkenntnisses wendet – begründet:

1.1. Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 6. Dezember 2022, G264/2022, §53 Abs2 Z6 des Bundesgesetzes über die Ausübung der Fremdenpolizei, die Ausstellung von Dokumenten für Fremde und die Erteilung von Einreisetitel (Fremdenpolizeigesetz 2005 – FPG), BGBl I 100/2005Bundesgesetzblatt Teil eins, 100 aus 2005,, idFin der Fassung BGBl I 87/2012Bundesgesetzblatt Teil eins, 87 aus 2012,, als verfassungswidrig aufgehoben und verfügt, dass diese Bestimmung nicht mehr anzuwenden ist.

1.2. Gemäß Art140 Abs7 B-VG ist daher die aufgehobene Gesetzesbestimmung nicht nur im Anlassfall, sondern ausnahmslos in allen Fällen und folglich auch im vorliegenden Fall nicht mehr anzuwenden (VfSlg 15.401/1999, 19.419/2011).

1.3. Das Bundesverwaltungsgericht wendete bei Erlassung von Spruchpunkt II. des angefochtenen Erkenntnisses die als verfassungswidrig aufgehobene Gesetzesbestimmung an. Es ist nach Lage des Falles nicht ausgeschlossen, dass diese Gesetzesanwendung für die Rechtsstellung der Beschwerdeführerin nachteilig war. Die Beschwerdeführerin wurde somit durch Spruchpunkt II. des angefochtenen Erkenntnisses wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt. Das Erkenntnis ist daher insoweit aufzuheben.

2. Im Übrigen, soweit sich die Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich des Status der Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status der subsidiär Schutzberechtigten, die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und die Festsetzung einer 14-tägigen Frist für die freiwillige Ausreise sowie gegen die Zurückweisung des Antrages auf aufschiebende Wirkung richtet, wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Die Beschwerde behauptet die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, auf Leben gemäß Art2 EMRK, auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK, auf ein faires Verfahren gemäß Art6 EMRK sowie im Recht darauf, nicht der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden (Art3 EMRK).

Der Verfassungsgerichtshof geht – in Zusammenhang mit Art3 EMRK – in Übereinstimmung mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (s etwa EGMR 7.7.1989, Fall Soering, EuGRZ 1989, 314 [319]; 30.10.1991, Fall Vilvarajah ua, ÖJZ 1992, 309 [309]; 6.3.2001, Fall Hilal, ÖJZ 2002, 436 [436 f.]) davon aus, dass die Entscheidung eines Vertragsstaates, einen Fremden in welcher Form immer außer Landes zu schaffen, unter dem Blickwinkel des Art3 EMRK erheblich werden und demnach die Verantwortlichkeit des Staates nach der EMRK begründen kann, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden sind, dass der Fremde konkret Gefahr liefe, in dem Land, in das er gebracht werden soll, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (vglvergleiche VfSlg 13.837/1994, 14.119/1995, 14.998/1997). Nichts anderes ist im Hinblick auf die behauptete Verletzung von Art2 EMRK anzunehmen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat weder eine grundrechtswidrige Gesetzesauslegung vorgenommen noch sind ihm grobe Verfahrensfehler unterlaufen, die eine vom Verfassungsgerichtshof aufzugreifende Verletzung der genannten Grundrechte darstellen (vglvergleiche VfSlg 13.897/1994, 15.026/1997, 15.372/1998, 16.384/2001, 17.586/2005). Ob ihm sonstige Fehler bei der Rechtsanwendung unterlaufen sind, hat der Verfassungsgerichtshof nicht zu beurteilen.

Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg 17.340/2004 ausge-führt hat, darf eine aufenthaltsbeendende Maßnahme nicht verfügt werden, wenn dadurch das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Betroffenen verletzt würde. Bei der Beurteilung nach Art8 EMRK ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (vglvergleiche die in VfSlg 18.223/2007 und 18.224/2007 wiedergegebene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte).

Das Bundesverwaltungsgericht hat sich mit der Frage der Gefährdung der Beschwerdeführerin in ihren Rechten auseinandergesetzt. Ihm kann unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht entgegengetreten werden, wenn es auf Grund der Umstände des vorliegenden Falles davon ausgeht, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts von Fremden ohne Aufenthaltstitel das Interesse am Verbleib im Bundesgebiet aus Gründen des Art8 EMRK überwiegt (vglvergleiche VfSlg 19.086/2010).

Das Asylverfahren ist nicht von Art6 EMRK erfasst (vglvergleiche VfSlg 13.831/1994).

Die im Übrigen gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der Frage, ob das Bundesverwaltungsgericht in allen Belangen hinreichend ermittelt hat, nicht anzustellen.

III. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführerin ist durch Spruchpunkt II. des angefochtenen Erkenntnisses wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben.

2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese in-soweit dem Verwaltungsgerichtshof gemäß Art144 Abs3 B-VG zur Entscheidung abgetreten (zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsge-richtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungs-gerichtsbarkeits-Novelle 2012 vglvergleiche VfSlg 19.867/2014).

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG bzw §19 Abs3 Z1 iVmin Verbindung mit §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:E1858.2021

Zuletzt aktualisiert am

26.01.2023
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten