TE Vfgh Erkenntnis 2022/11/29 E91/2022

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Veröffentlicht am 29.11.2022
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Index

10/07 Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit

Norm

B-VG

Leitsatz

Auswertung in Arbeit

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist irakischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Kurden an und bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben. Er stammt aus der Provinz Kirkuk.

2. Am 9. September 2014 stellte der Beschwerdeführer im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Antrag wurde hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten im zweiten Rechtsgang abgewiesen.

Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22. Juli 2015 wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß §8 Abs1 und 4 AsylG 2005 erteilt, die bis 21. Juli 2018 antragsgemäß verlängert wurde. Am 15. März 2017 wurde ein Verfahren zur Aberkennung der subsidiären Schutzberechtigung eingeleitet, das am 27. April 2017 eingestellt wurde. Am 12. Juli 2018 wurde erneut ein Aberkennungsverfahren eingeleitet.

Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20. August 2018 wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt und die Aufenthaltsberechtigung gemäß §9 Abs1 und 4 AsylG 2005 entzogen. Unter einem wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen sowie festgestellt, dass die Abschiebung in den Irak zulässig sei, und eine vierzehntägige Frist für die freiwillige Ausreise gewährt.

3. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis ab. Die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten begründete es damit, dass sich die Sicherheitslage im Irak seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten derart maßgeblich und nachhaltig verändert habe, dass der Beschwerdeführer nicht mehr Gefahr liefe, im Falle der Rückkehr in den Irak einer realen Gefahr im Sinne des Art2 oder 3 EMRK ausgesetzt zu sein. Dabei stützte es sich auf die im Erkenntnis wiedergegebenen Länderberichte zur Lage im Irak mit Stand 17. März 2020 und auf eine ebenfalls im Erkenntnis wiedergegebene Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zur Sicherheits- und Menschenrechtslage in Kirkuk vom 2. April 2020.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten geltend gemacht wird, und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.

5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift hat es abgesehen.

II. Erwägungen

Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1. In den in der angefochtenen Entscheidung wiedergegebenen Länderberichten wird zur Sicherheitslage im Irak ua ausgeführt:

"Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert […]. Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk […] aufgebaut hat".

Zur Sicherheitslage in der Herkunftsregion des Beschwerdeführers Kirkuk wird in den Länderberichten ua ausgeführt:

"Im Gouvernement Kirkuk gehen die Zahlen der sicherheitsrelevanten Vorfälle, bis auf wenige Spitzen, kontinuierlich zurück […]. Da der Süden Kirkuks nicht vollständig von IS-Kämpfern befreit wurde, kommt es insbesondere in dieser Region regelmäßig zu Angriffen […]. Wie im benachbarten Diyala handelt es sich bei Vorfällen in Kirkuk meist um Schießereien, Angriffe auf Kontrollpunkte, Überfälle auf Städte und Vertreibungen aus ländlichen Gebiete, wobei sich der IS auf den Süden des Gouvernement Kirkuk konzentrierte."

2.2. Aus den Länderfeststellungen schließt das Bundesverwaltungsgericht, dass es in der Provinz Kirkuk nach wie vor vereinzelt sicherheitsrelevante Vorfälle gebe, diese jedoch kontinuierlich zurückgingen und insbesondere im Süden von Kirkuk stattfänden. Der IS [Islamische Staat] operiere überwiegend im dünn besiedelten, ländlichen und gebirgigen Raum, wo keine oder wenige staatliche Kräfte existierten. Im Umkehrschluss ergebe sich hieraus aber für städtische Regionen, dass die vom IS ausgehende Gefahr für die Beeinträchtigung der Sicherheit nicht erheblich sei, auch wenn immer wieder vereinzelt mit Anschlägen gerechnet werden müsse. Insgesamt ergebe sich daher aus einer Zusammenschau der Quellen eine Sicherheitslage, die es in der Provinz Kirkuk Personen erlaube, relativ unbehelligt in dortigen Städten zu leben, ohne damit zwingend rechnen zu müssen, Opfer von Verfolgung, Willkür oder kriegerischer Auseinandersetzung zu werden. Es sei daher davon auszugehen, dass eine in den Irak zurückkehrende Person nicht auf Grund der Lage im Herkunftsstaat einer unmenschlichen Behandlung oder Strafe, der Todesstrafe oder einem bewaffneten innerstaatlichen oder zwischenstaatlichen Konflikt ausgesetzt sei.

Die Ausführungen, dass es in der Provinz Kirkuk bloß vereinzelt sicherheitsrelevante Vorfälle gebe und in städtischen Regionen die Sicherheit nicht erheblich beeinträchtigt sei, lassen jedoch völlig unberücksichtigt, dass in der ebenfalls im Erkenntnis wiedergegebenen Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zur Sicherheits- und Menschenrechtslage in Kirkuk vom 2. April 2020 ua ausgeführt wird, dass es "in Kirkuk (Stadt und Provinz) nach wie vor zu zahlreichen sicherheitsrelevanten Vorkommnissen kommt. Dies deckt sich mit der subjektiven Wahrnehmung der Bevölkerung von Kirkuk, welche in der mangelnden Sicherheitslage, insbesondere Übergriffe von bewaffneten Gruppen, das größte Problem sieht. Hiezu zählen insbesondere bewaffnete Übergriffe und Anschläge mittels Sprengmittel (IEDs, Bomben) aber auch Schusswaffen, die dem sog IS zugeordnet werden, der nach Einschätzung der Sicherheitskräfte im Untergrund aktiv bleibt".

Vor dem Hintergrund dieser Feststellungen kann dem Bundesverwaltungsgericht nicht gefolgt werden, dass die Herkunftsprovinz Kirkuk für eine Rückkehr des Beschwerdeführers hinreichend sicher sei (vgl VfGH 18.3.2022 E4409/2022; 14.6.2022, E3641/2021; 30.11.2021, E3746/2021; 22.9.2021, E1070/2021).

2.3. Das Bundesverwaltungsgericht hat somit die Gefährdungslage für den Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr in den Irak aktenwidrig beurteilt. Die angefochtene Entscheidung ist somit durch die Beurteilung, die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten lägen nicht mehr vor, weil sich die Sicherheitslage im Irak nachhaltig verbessert habe, mit Willkür belastet und – da an die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten die Entziehung der befristeten Aufenthaltsberechtigung, die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung in den Irak und die Gewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise anknüpfen – zur Gänze aufzuheben.

Anzumerken ist, dass das Bundesverwaltungsgericht bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen haben wird, dass der Beschwerdeführer mittlerweile, wie sich aus der dem Verfassungsgerichtshof in Kopie vorgelegten Geburtsurkunde ergibt, Vater eines am 13. Oktober 2021 in Österreich geborenen Kindes ist, dem – den Ausführungen des Beschwerdeführers zufolge – ebenso wie der Mutter des Kindes der Status des subsidiär Schutzberechtigten im Hinblick auf den Herkunftsstaat Irak zukommt.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:E91.2022

Zuletzt aktualisiert am

24.01.2023
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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