TE Vfgh Erkenntnis 2022/11/28 E2588/2022

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Veröffentlicht am 28.11.2022
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Index

10/07 Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit

Norm

B-VG

Leitsatz

Auswertung in Arbeit

Spruch

I. Die Beschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Finanzen) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerde liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

1.1. Mit Straferkenntnis vom 28. Februar 2019, Z VStV/918301367385/2018, verhängte die Landespolizeidirektion Wien über die Beschwerdeführerin zwei Geldstrafen in Höhe von jeweils € 3.000,– wegen Übertretung des §52 Abs1 Z1 vierter Fall iVm § 2 Abs2 und 4 sowie §4 GSpG.

1.2. Mit am 14. Juli 2020 mündlich verkündetem Erkenntnis wies das von der Beschwerdeführerin angerufene Verwaltungsgericht Wien die Beschwerde als unbegründet ab und bestätigte das Straferkenntnis. Die Niederschrift der mündlichen Verhandlung wurde der Beschwerdeführerin am 14. August 2020 zugestellt.

1.3. Mit Schriftsatz vom 14. August 2020 beantragte die Beschwerdeführerin die schriftliche Ausfertigung des am 14. Juli 2020 mündlich verkündeten Erkenntnisses.

1.4. Die schriftliche Ausfertigung des am 14. Juli 2020 mündlich verkündeten Erkenntnisses erfolgte am 8. September 2022. Diese Ausfertigung erfolgte durch einen anderen Richter als jenen, der die mündliche Verkündung der Entscheidung vornahm.

1.5. In der vorliegenden, auf Art144 B-VG gestützten Beschwerde behauptet die Beschwerdeführerin die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz. Begründend führt die Beschwerdeführerin aus, die schriftliche Ausfertigung der am 14. Juli 2020 mündlich verkündeten Entscheidung sei am 8. September 2022 und somit zwei Jahre und zwei Monate nach der mündlichen Verkündung erfolgt. Eine derart lange Zeitspanne zwischen mündlicher Verkündung und schriftlicher Ausfertigung von Entscheidungen, für die im Beschwerdeverfahren keine besonderen Umstände hervorgekommen seien, die diese rechtfertigen könnte, widerspreche der Pflicht einer möglichst zeitnahen schriftlichen Ausfertigung der Entscheidung und somit den rechtsstaatlichen Anforderungen an die Begründung gerichtlicher Entscheidungen (vgl zuletzt etwa VfGH 22.9.2021, E2443/2021). Das schriftliche Erkenntnis sei darüber hinaus durch einen anderen Richter als jenen, der die mündliche Verkündung der Entscheidung vorgenommen habe, ausgefertigt worden.

2. Das Verwaltungsgericht Wien legte die Gerichtsakten vor und sah von der Erstattung einer Gegenschrift ab.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet:

1.1. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (zur Anwendung dieses verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auch auf Unionsbürger vgl VfSlg 19.077/2010, 19.515/2011) kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg 10.413/1985, 14.842/1997, 15.326/1998 und 16.488/2002) nur vorliegen, wenn die angefochtene Entscheidung auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn das Verwaltungsgericht der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat. Angesichts der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der angewendeten Rechtsvorschriften und des Umstandes, dass kein Anhaltspunkt dafür besteht, dass das Verwaltungsgericht diesen Vorschriften fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt hat, könnte die Beschwerdeführerin im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz nur verletzt worden sein, wenn das Verwaltungsgericht Willkür geübt hätte.

1.2. Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungs-verfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 8808/1980 mwN, 14.848/1997, 15.241/1998 mwN, 16.287/2001, 16.640/2002).

2. Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung ist dem Verwaltungsgericht Wien ein willkürliches Vorgehen anzulasten:

2.1. Nach der Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ist bezüglich der Erlassung einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung der Zustellung einer Entscheidung ihre mündliche Verkündung gleichzuhalten (vgl VwGH 15.12.2014, Ro 2014/04/0068; 22.11.2017, Ra 2017/03/0082; s. auch VfSlg 19.965/2015 und VfGH 10.3.2021, E2059/2020 ua). Mit der mündlichen Verkündung wird die Entscheidung unabhängig von der Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung (§29 Abs4 VwGVG) rechtlich existent (VwGH 27.6.2016, Ra 2016/11/0059; 14.9.2016, Fr 2016/18/0015; 4.4.2017, Ra 2017/02/0050), wenn sowohl der Inhalt einer Entscheidung als auch die Tatsache ihrer Verkündung in der Niederschrift festgehalten werden (VwGH 13.10.2015, Fr 2015/03/0007; 22.11.2017, Ra 2017/03/0082). Bereits an die Verkündung einer Entscheidung knüpfen sich daher deren Rechtswirkungen (vgl VfGH 10.3.2021, E2059/2020 ua; VwGH 23.9.2020, Ra 2019/14/0558). Aus diesem Grund kann die Entscheidung bereits nach der mündlichen Verkündung mit Beschwerde gemäß Art144 B-VG angefochten werden, sofern mindestens ein hiezu Berechtigter einen Antrag auf schriftliche Ausfertigung der Entscheidung gemäß §29 Abs4 VwGVG gestellt hat (§82 Abs3b letzter Satz VfGG; siehe VfGH 10.3.2021, E2059/2020 ua; VwGH 15.12.2014, Ro 2014/04/0068; 22.11.2017, Ra 2017/03/0082).

2.2. Unabhängig von der Möglichkeit, die Entscheidung bereits nach der mündlichen Verkündung anzufechten, ist der Rechtsschutzsuchende in der Regel auf die – nähere und ausführliche – Begründung der Entscheidung in der schriftlichen Ausfertigung gemäß §29 Abs4 VwGVG angewiesen, um die Entscheidung auf Grund der maßgebenden Erwägungen gegebenenfalls mit einer Beschwerde gemäß Art144 B-VG bekämpfen zu können. Aus der rechtsstaatlich gebotenen Pflicht zur Begründung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen folgt daher im Zusammenhang mit der Regelungssystematik des §29 VwGVG auch die Pflicht zu einer möglichst zeitnahen schriftlichen Ausfertigung der Entscheidung, weil andernfalls dem Rechtsschutzsuchenden effektiver Rechtsschutz verwehrt sein könnte (zum Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes siehe zB VfSlg 11.196/1986, 15.218/1998, 17.340/2004, 20.107/2016), was rechtsstaatlichen Anforderungen an die Erlassung gerichtlicher Entscheidungen widerspricht (VfGH 10.3.2021, E2059/2020 ua; 23.6.2021, E720/2021; 29.6.2022, E1641/2022).

2.3. Die schriftliche Ausfertigung der am 14. Juli 2020 mündlich verkündeten Entscheidung erfolgte vorliegend am 8. September 2022 und somit 26 Monate nach der mündlichen Verkündung. Eine derart lange Zeitspanne zwischen mündlicher Verkündung und schriftlicher Ausfertigung der Entscheidung, für die im Beschwerdeverfahren auch keine besonderen Umstände hervorgekommen sind, welche diese Verzögerung rechtfertigen könnten, widerspricht jedenfalls der Pflicht zu einer möglichst zeitnahen schriftlichen Ausfertigung der Entscheidungen und somit den rechtsstaatlichen Anforderungen an die Begründung gerichtlicher Entscheidungen (VfGH 10.3.2021, E2059/2020; 23.6.2021, E720/2021; 29.6.2022, E1641/2022).

2.4. Bei diesem Ergebnis erübrigt sich ein Eingehen auf die Frage, ob die Beschwerdeführerin auch durch die Ausfertigung einer mündlich verkündeten Entscheidung durch einen anderen Richter als jenen, der die Entscheidung mündlich verkündete, in ihrem Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter gemäß Art83 Abs2 B-VG verletzt worden ist.

III. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:E2588.2022

Zuletzt aktualisiert am

23.01.2023
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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