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E2D Assoziierung TürkeiNorm
ARB1/80 Art13Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, den Hofrat Dr. Mayr und die Hofrätin Dr. Holzinger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des H L, vertreten durch Dr. Thomas Neugschwendtner, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 22. September 2020, VGW-151/047/3708/2020-13, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein türkischer Staatsangehöriger, stellte am 5. September 2019 einen Antrag auf Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“. Dieser Antrag wurde von der belangten Behörde mit Bescheid vom 19. Februar 2020 abgewiesen. Begründend wurde darauf hingewiesen, dass der Revisionswerber am 20. August 2017 aus dem EWR-Raum ausgereist und erst am 5. September 2019 wieder in den EWR-Raum eingereist sei. Damit habe er sich länger als zwei aufeinanderfolgende Jahre außerhalb des EWR-Gebietes aufgehalten, weshalb sein Aufenthaltstitel nach § 20 Abs. 4 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) erloschen sei.
2 Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde an das Verwaltungsgericht Wien. Darin wies der Revisionswerber zusammengefasst darauf hin, dass für ihn als türkischen Staatsangehörigen die „Stillhalteklausel“ des Art. 13 des Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) gelte, ein Erlöschen oder Gegenstandsloswerden eines unbefristeten Aufenthaltsrechts im maßgeblichen Zeitpunkt des 1. Jänner 1995 gesetzlich nicht vorgesehen gewesen sei und § 20 Abs. 4 NAG als im Vergleich zu dieser Rechtslage ungünstigere Bestimmung auf ihn nicht angewendet werden dürfe.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht Wien die Beschwerde des Revisionswerbers mit der Maßgabe als unbegründet ab, dass die Abweisung des Antrags des Revisionswerbers vom 5. September 2019 gemäß § 10 Abs. 3 Z 5 NAG zu erfolgen habe. Die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG wurde für zulässig erklärt.
4 Begründend legte das Verwaltungsgericht dar, dass § 20 Abs. 4 NAG als eine neue Beschränkung für den Zugang zum Arbeitsmarkt für türkische Staatsangehörige auf den Revisionswerber nicht anzuwenden sei. Allerdings bestehe aufgrund des Art. 59 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen insofern eine Grenze des Verschlechterungsverbots der Stillhalteklausel, als türkischen Staatsangehörigen keine günstigere Behandlung gewährt werden dürfe als Unionsbürgern. Da nach Art. 16 Abs. 4 RL 2004/38/EG (Freizügigkeitsrichtlinie) eine mehr als zwei Jahre überschreitende Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat auch bei Unionsbürgern zum Verlust des Rechts auf Daueraufenthalt führt, sei der diese Richtlinienbestimmung umsetzende § 10 Abs. 3 Z 5 NAG analog auf den Revisionswerber anwendbar und sei ihm gemäß dieser Bestimmung kein weiterer Aufenthaltstitel für den Zweck „Daueraufenthalt - EU“ zu gewähren. Die Revision sei zulässig, da es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu der beurteilten Rechtsfrage fehle.
5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision.
6 Zur Begründung der Zulässigkeit seiner Revision führt der Revisionswerber aus, dass Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu der Frage fehle, ob die Bestimmung des § 10 Abs. 3 Z 5 NAG analog auf türkische Drittstaatsangehörige, die dem Assoziationsabkommen EU-Türkei unterliegen, anwendbar sei. Eine solche analoge Anwendbarkeit des § 10 Abs. 3 Z 5 NAG verbiete sich nach Ansicht des Revisionswerbers deshalb, da sie zu einer Schlechterstellung türkischer Staatsangehöriger im Anwendungsbereich des ARB 1/80 sowohl gegenüber Unionsbürgern als auch gegenüber sonstigen Drittstaatsangehörigen, auf die § 20 Abs. 4 NAG Anwendung findet, führen würde. Die Schlechterstellung gegenüber Unionsbürgern ergäbe sich daraus, dass Unionsbürger auch nach dem Verlust ihres Rechts auf Daueraufenthalt nach § 10 Abs. 3 Z 5 NAG weiterhin unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt hätten und jederzeit mit Aufnahme einer Erwerbstätigkeit wieder über ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet verfügten. Gegenüber sonstigen Drittstaatsangehörigen, auf die § 20 Abs. 4 NAG Anwendung finde, resultiere die Schlechterstellung daraus, dass die vereinfachte Möglichkeit der Erlangung einer „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ gemäß § 41a Abs. 6 NAG an das Erlöschen des Aufenthaltstitels nach § 20 Abs. 4 NAG anknüpfe und daher bei analoger Anwendung des § 10 Abs. 3 Z 5 NAG nicht zur Anwendung komme.
7 Die Revision erweist sich als zulässig und berechtigt.
8 Die maßgeblichen Bestimmungen des NAG, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 56/2018, lauten auszugsweise:
„Ungültigkeit und Gegenstandslosigkeit von Aufenthaltstiteln und Dokumentationen des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts
§ 10. [...]
(3) Aufenthaltstitel und Dokumentationen des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts werden gegenstandslos, wenn
[...]
die Abwesenheitsdauer des Fremden, dem eine Bescheinigung des Daueraufenthalts oder eine Daueraufenthaltskarte ausgestellt wurde, vom Bundesgebiet mehr als zwei aufeinander folgende Jahre beträgt;
[...]
Gültigkeitsdauer von Aufenthaltstiteln
§ 20. [...]
(3) Inhaber eines Aufenthaltstitels ‚Daueraufenthalt - EU‘ (§ 45) sind in Österreich - unbeschadet der befristeten Gültigkeitsdauer des diesen Aufenthaltstiteln entsprechenden Dokuments - unbefristet niedergelassen. Dieses Dokument ist für einen Zeitraum von fünf Jahren auszustellen und, soweit keine Maßnahmen nach dem Fremdenpolizeigesetz 2005 durchsetzbar sind, abweichend von § 24 auch nach Ablauf auf Antrag zu verlängern.
(4) Ein Aufenthaltstitel nach Abs. 3 erlischt, wenn sich der Fremde länger als zwölf aufeinander folgende Monate außerhalb des EWR-Gebietes aufhält. Aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen, wie einer schwerwiegenden Erkrankung, der Erfüllung einer sozialen Verpflichtung oder der Leistung eines der allgemeinen Wehrpflicht oder dem Zivildienst vergleichbaren Dienstes, kann sich der Fremde bis zu 24 Monate außerhalb des EWR-Gebietes aufhalten, wenn er dies der Behörde vorher mitgeteilt hat. Liegt ein berechtigtes Interesse des Fremden vor, hat die Behörde auf Antrag festzustellen, dass der Aufenthaltstitel nicht erloschen ist. Der Nachweis des Aufenthalts im EWR-Gebiet obliegt dem Fremden.
[...]“
9 Der Verwaltungsgerichtshof geht in seiner rezenten Rechtsprechung davon aus, dass die Regelung des § 20 Abs. 4 NAG zwar eine „neue Beschränkung“ im Sinn des Art. 13 ARB 1/80 darstellt, die aber im Hinblick auf das damit verfolgte Ziel der Gewährleistung einer erfolgreichen Integration gerechtfertigt ist (vgl. VwGH 18.11.2021, Ro 2020/22/0015).
10 Die Regelung des § 20 Abs. 4 NAG ist daher auch auf türkische Staatsbürger im Anwendungsbereich des ARB 1/80 anwendbar. Folglich bleibt für eine analoge Anwendbarkeit des § 10 Abs. 3 Z 5 NAG kein Raum.
11 Dessen ungeachtet hat das Verwaltungsgericht Wien die Anwendbarkeit des § 20 Abs. 4 NAG auf den Revisionswerber (und damit im Ergebnis auch die ihm sonst offen stehende Möglichkeit nach § 41a Abs. 6 NAG) verneint und eine analoge Anwendbarkeit des § 10 Abs. 3 Z 5 NAG angenommen. Damit hat das Verwaltungsgericht Wien das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet.
12 Dieses war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
13 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 30. November 2022
Schlagworte
Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Analogie Schließung von Gesetzeslücken VwRallg3/2/3 Besondere RechtsgebieteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RO2020220019.J00Im RIS seit
23.01.2023Zuletzt aktualisiert am
23.01.2023