TE Vwgh Erkenntnis 2022/12/21 Ra 2021/18/0411

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Veröffentlicht am 21.12.2022
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs3
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
  1. VwGG § 42 heute
  2. VwGG § 42 gültig ab 01.01.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  3. VwGG § 42 gültig von 01.07.2012 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 51/2012
  4. VwGG § 42 gültig von 01.07.2008 bis 30.06.2012 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  5. VwGG § 42 gültig von 01.01.1991 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 330/1990
  6. VwGG § 42 gültig von 05.01.1985 bis 31.12.1990
  1. VwGG § 42 heute
  2. VwGG § 42 gültig ab 01.01.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  3. VwGG § 42 gültig von 01.07.2012 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 51/2012
  4. VwGG § 42 gültig von 01.07.2008 bis 30.06.2012 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  5. VwGG § 42 gültig von 01.01.1991 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 330/1990
  6. VwGG § 42 gültig von 05.01.1985 bis 31.12.1990

Beachte


Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2022/18/0104 B 19.05.2022

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revisionen von 1. K C und 2. M D, beide vertreten durch DDr. Rainer Lukits, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19/5, als bestellter Verfahrenshelfer, dieser vertreten durch Mag.a Carolin Seifriedsberger, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Spiegelgasse 19/23, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. November 2021, 1. W196 2205633-1/15E und 2. W196 2205634-1/11E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. den Beschluss gefasst:

Die Revisionen werden zurückgewiesen, soweit sie sich gegen die Nichtgewährung internationalen Schutzes wenden.

II. zu Recht erkannt:

Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den Revisionswerberinnen jeweils Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Die Revisionswerberinnen sind Staatsangehörige der Russischen Föderation und gehören der tschetschenischen Volksgruppe an, wobei die Erstrevisionswerberin die Mutter der minderjährigen Zweitrevisionswerberin ist. Im Jahr 2016 stellte die Erstrevisionswerberin einen Antrag auf internationalen Schutz. Zu ihren Fluchtgründen brachte sie vor, dass sie in Tschetschenien gegen ihren Willen verheiratet werden sollte.

2        Nach ihrer Einreise ins Bundesgebiet lernte die Erstrevisionswerberin ihren nunmehrigen Ehemann kennen, den sie am 19. November 2016 nach traditionellem Ritus in einer Moschee in Wien und schließlich am 3. März 2017 standesamtlich heiratete. Am 22. April 2018 kam die gemeinsame Tochter, die Zweitrevisionswerberin, zur Welt. Der Ehemann bzw. Vater der Erst- bzw. Zweitrevisionswerberin ist ebenfalls russischer Staatsangehöriger und Tschetschene. Er befindet sich seit 2006 in Österreich, verfügt über eine Rot-Weiß-Rot-Plus Karte und lebt mit den Revisionswerberinnen im selben Haushalt.

3        Mit Bescheid vom 13. Dezember 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag der Erstrevisionswerberin auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück, stellte für die Prüfung dieses Antrages die Zuständigkeit Italiens fest, ordnete die Außerlandesbringung an und stellte fest, dass eine Abschiebung nach Italien zulässig sei.

4        Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 13. Jänner 2017 als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5        Von 8. Mai 2017 bis 27. März 2018 hielt sich die Erstrevisionswerberin sodann in Deutschland auf, wo sie ebenfalls einen Asylantrag stellte.

6        Am 29. März 2018 stellte die Erstrevisionswerberin schließlich den gegenständlichen Folgeantrag auf internationalen Schutz in Österreich. Begründend führte sie aus, dass sie im tschetschenischen Wirtschaftsministerium gearbeitet habe. Der damalige stellvertretende Wirtschaftsminister habe sie zur Heirat zwingen wollen und ihr im Falle einer Weigerung mit Sanktionen gedroht.

7        Nach Geburt der Zweitrevisionswerberin stellte die Erstrevisionswerberin für diese am 25. April 2018 einen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 34 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005.

8        Mit Bescheid des BFA vom 5. September 2018 wurden die Anträge der Revisionswerberinnen auf internationalen Schutz zur Gänze abgewiesen, ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 zuerkannt, gegen sie jeweils eine Rückkehrentscheidung erlassen, festgestellt, dass ihre Abschiebungen in die Russische Föderation zulässig seien, und jeweils eine zweiwöchige Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.

9        Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 4. November 2021 wies das BVwG die dagegen erhobene Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei.

10       Begründend führte das BVwG - soweit für den gegenständlichen Fall von Relevanz - aus, die Revisionswerberinnen hätten in Tschetschenien aktuell keine asylrelevante Verfolgung zu befürchten. Zwar sei das Fluchtvorbringen der Erstrevisionswerberin grundsätzlich glaubhaft; aufgrund des zeitlichen Abstandes sei jedoch von keiner aktuell bestehenden Bedrohung auszugehen. Zudem stehe den Revisionswerberinnen eine innerstaatliche Fluchtalternative in anderen Teilen der Russischen Föderation, insbesondere in Moskau, offen. Sonstige Bedrohungslagen seien nicht feststellbar. Aufgrund des Ausbildungsstandes und der Arbeitserfahrung der Erstrevisionswerberin sowie der Möglichkeit, staatliche Hilfen in Anspruch nehmen zu können, drohe den Revisionswerberinnen keine Gefahr, in eine ausweglose Situation zu geraten.

11       Zur Rückkehrentscheidung hielt das BVwG fest, die Revisionswerberinnen würden gemeinsam in die Russische Föderation zurückkehren. Es würde dadurch allerdings zu einer Trennung vom Ehemann der Erstrevisionswerberin bzw. dem Vater der Zweitrevisionswerberin kommen, worin ein Eingriff in ihr Recht auf Privat- und Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK liege. Dieser sei jedoch gerechtfertigt, weil sich die Erstrevisionswerberin weniger als fünf Jahre im Bundesgebiet aufgehalten habe. Zudem habe sie sich einer Überstellung nach Italien durch ihre zwischenzeitliche Ausreise nach Deutschland entzogen und sei ihr daher ein grober Verstoß im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 7 BFA-VG anzulasten. Das Familienleben sei zudem in einem Zeitpunkt begründet worden, in dem sich die Erstrevisionswerberin der Unsicherheit ihres Aufenthaltes bewusst sein habe müssen. Es stehe dem Ehemann der Erstrevisionswerberin bzw. dem Vater der Zweitrevisionswerberin offen, die Revisionswerberinnen in die Russische Föderation zu begleiten oder dort zumindest regelmäßig zu besuchen, weshalb eine Fortführung des Familienlebens auch im Herkunftsstaat möglich sei. Ein schützenswertes Privatleben der Erstrevisionswerberin bestehe aufgrund der kurzen Aufenthaltsdauer und mangels sozialer oder beruflicher Integration nicht. Bei der Zweitrevisionswerberin könne aufgrund ihres jungen Alters noch von keiner nennenswerten Sozialisation ausgegangen werden. Zudem werde sie weiterhin mit ihrer Mutter zusammenleben und könne den Kontakt zum Vater aufrechterhalten.

12       Gegen dieses Erkenntnis erhob die Erstrevisionswerberin zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, während für die Zweitrevisionswerberin eine Revision beim Verwaltungsgerichtshof eingebracht wurde.

13       Mit Beschluss vom 17. März 2022, E 4448/2021-7, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der Beschwerde ab und trat sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab. In weiterer Folge wurde auch für die Erstrevisionswerberin eine Revision eingebracht.

14       Die Revisionen bringen zur Zulässigkeit übereinstimmend vor, das BVwG habe wesentliche Feststellungen zum Fluchtvorbringen der Erstrevisionswerberin unterlassen und sich mit einer massiv verkürzten Darstellung des Vorbringens begnügt. Der Umstand, dass sich die fluchtkausalen Vorfälle vor fünf Jahren ereignet hätten, genüge nicht, um die Aktualität der Verfolgung zu verneinen. Zudem habe das BVwG maßgebliche Länderinformationen zur Lage von Frauen übergangen. Hinsichtlich der Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative habe das BVwG unzureichende und spekulative Feststellungen getroffen. Auch sei im Rahmen der Rückkehrentscheidung das Kindeswohl der minderjährigen Zweitrevisionswerberin nicht angemessen gewürdigt worden. Aufgrund der Trennung vom Ehemann bzw. Kindesvater, wäre eine Auseinandersetzung mit der Zumutbarkeit der Niederlassung der gesamten Familie erforderlich gewesen.

15       Das BFA hat zu den Revisionen keine Revisionsbeantwortung erstattet.

16       Der Verwaltungsgerichtshof hat beschlossen, die Revisionen wegen ihres persönlichen, sachlichen und rechtlichen Zusammenhanges zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung zu verbinden, und hat hierüber in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

17       Die Revisionen sind teilweise zulässig und insoweit auch begründet.

Zu I.:

18       Soweit sich die Revisionen gegen die Nichtgewährung internationalen Schutzes wenden, sind sie nicht zulässig.

19       Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

20       Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

21       Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

22       Soweit die Revisionswerberinnen zur Zulässigkeit ihrer Revisionen zunächst vorbringen, das BVwG habe eine unvertretbare Beweiswürdigung hinsichtlich des Fluchtvorbringens der Erstrevisionswerberin vorgenommen, sind sie auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach dieser als Rechtsinstanz zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen ist. Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat. Der Verwaltungsgerichtshof ist nicht berechtigt, die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichtes mit der Begründung zu verwerfen, dass auch ein anderer Sachverhalt schlüssig begründbar wäre (vgl. VwGH 12.9.2022, Ra 2022/18/0202, mwN).

23       Für die Asylgewährung kommt es nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Asylstatus zum einen nicht zwingend erforderlich, dass bereits in der Vergangenheit Verfolgung stattgefunden hat, zum anderen ist eine solche „Vorverfolgung“ für sich genommen auch nicht hinreichend. Entscheidend ist, ob die betroffene Person im Zeitpunkt der Entscheidung (hier: des BVwG) bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (VwGH 30.8.2022, Ra 2022/18/0129, mwN).

24       Im Revisionsfall stellte das BVwG nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung fest, dass das Vorbringen der Erstrevisionswerberin, wonach ihr in Tschetschenien eine Zwangsehe gedroht habe, glaubhaft sei. Aufgrund des mehr als fünf Jahre zurückliegenden Vorfalls, der zwischenzeitlich geschlossenen Ehe mit einem anderen Mann, der Geburt der Zweitrevisionswerberin sowie der Umstände, dass es keine Versuche gegeben habe, die Erstrevisionswerberin im Ausland ausfindig zu machen, und ihre Schwester und Mutter weiterhin unbeschwert in Tschetschenien leben könnten, sei jedoch von keiner aktuellen Verfolgungsgefahr mehr auszugehen.

25       Dass die hierbei vom BVwG angestellte Beweiswürdigung unvertretbar wäre, vermag die vorliegende Revision nicht aufzuzeigen.

26       Auch die Abweisung von subsidiärem Schutz durch das BVwG im angefochtenen Erkenntnis stößt auf keine vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifenden Bedenken. Das BVwG legte seiner diesbezüglichen Entscheidung aktuelle Länderberichte zu Grunde und setzte sich sowohl mit der allgemeinen Sicherheits- und Versorgungslage als auch der Situation von Frauen in der Russischen Föderation im Allgemeinen sowie in Tschetschenien im Speziellen auseinander. Entgegen dem diesbezüglichen Revisionsvorbringen verkannte das BVwG nicht, dass sich die Situation für (alleinerziehende) Frauen als äußerst problematisch darstelle. Aufgrund des Ausbildungsstands und der Arbeitserfahrung der Erstrevisionswerberin sowie der Möglichkeit, Sozial- und Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen zu können, legte das BVwG jedoch schlüssig dar, dass den Revisionswerberinnen eine innerstaatliche Fluchtalternative in anderen Teilen der Russischen Föderation, insbesondere in Moskau, offenstehe und ihnen im Hinblick darauf keine Gefahr drohe, in eine existenzgefährdende Situation zu geraten.

27       Dass die diesbezügliche Beweiswürdigung auf unvertretbare Weise erfolgt wäre, vermögen die Revisionen durch die auszugsweise Wiedergabe ebendieser Länderberichte nicht darzulegen.

Zu II.:

28       Zulässig und begründet sind die Revisionen hingegen insoweit, als sie sich gegen die Rückkehrentscheidung sowie die hierauf aufbauenden Spruchpunkte wenden.

29       Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte einer fremden Person darstellt, hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen der betroffenen Person, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 15.7.2022, Ra 2022/18/0149, mwN).

30       Bei der Zweitrevisionswerberin handelt es sich um ein minderjähriges Mädchen im Kleinkindalter, weshalb nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Auswirkungen von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen auf das Kindeswohl zu bedenken sind und bei der Interessensausübung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK bzw. § 9 BFA-VG hinreichend berücksichtigt werden müssen (vgl. VwGH 31.8.2022, Ra 2022/18/0123, mwN). Dabei sind insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen die Kinder im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei insbesondere den Fragen zu, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichem Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben und ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen (vgl. VwGH 11.7.2022, Ra 2022/18/0143, mwN).

31       Das BVwG führte im angefochtenen Erkenntnis dazu im Rahmen der Interessenabwägung lediglich aus, dass die Zweitrevisionswerberin zwar in Österreich geboren sei, aufgrund ihres sehr jungen Alters jedoch keine nennenswerte Sozialisation in Österreich vorliege und eine Ansiedelung in der Russischen Föderation daher unproblematisch sei. Ihre Existenz sei zudem durch die Erstrevisionswerberin gesichert und der Kontakt zum Vater könne aufrechterhalten werden, zumal dieser ebenfalls in die Russische Föderation zurückkehren könne.

32       Demgegenüber weisen die Revisionen zutreffend darauf hin, dass diese Auseinandersetzung des BVwG mit den Auswirkungen der Rückkehrentscheidung auf das Kindeswohl der minderjährigen Zweitrevisionswerberin zu oberflächlich geblieben ist und es zu deren Beurteilung auch näherer Feststellungen zu möglichen Kontakten zum Vater der Zweitrevisionswerberin bedurft hätte.

33       Dazu bringen die Revisionen vor, der (im gemeinsamen Haushalt mit den beiden Revisionswerberinnen lebende) Vater der Zweitrevisionswerberin halte sich nicht nur bereits seit Anfang Mai 2006 durchgehend in Österreich auf, sondern sei darüber hinaus seit 2013 in verschiedenen Beschäftigungsverhältnissen in Österreich berufstätig gewesen, spreche hervorragendes Deutsch auf Niveaustufe B2, verfüge seit 2014 über einen Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot-Karte plus“, sei sohin seit deutlich mehr als fünf Jahren in Österreich niedergelassen und habe das Modul 2 der Integrationsvereinbarung erfüllt. Damit mangle es ihm aktuell nur an einem stabilen, unterhaltssichernden Einkommen, bis er das Recht auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt-EU“ gemäß § 45 Abs. 1 NAG erlange. In Gefolge der Corona-Maßnahmen sei ihm nämlich gekündigt worden und beziehe er seitdem Arbeitslosengeld. Zwecks Umstiegs auf einen Gesundheitsberuf im Pflegebereich habe er inzwischen allerdings bereits ein Praktikum in einem Seniorenwohnhaus und einen spezifischen Deutschkurs für Gesundheitsberufe, Niveaustufe B2/2, zur Erlernung der Fachsprache absolviert. Eine Übersiedlung des Vaters der Zweitrevisionswerberin mit ihr in die Russische Föderation hätte für diesen den endgültigen und unwiederbringlichen Verlust seiner jahrelangen Integrationsbemühungen und seines Aufenthaltsrechts als Drittstaatsangehöriger in Österreich zur Folge und damit nicht nur für ihn, sondern - im Hinblick auf ihre weitere Lebensperspektiven - für die ganze Familie nachteilige Konsequenzen. Angesichts dessen komme seine Mitübersiedlung im konkreten Revisionsfall nicht in Betracht. Gelegentliche Besuche entsprächen jedoch nicht dem Kindeswohl, würden zu einer Trennung der Familie führen und verletzten die minderjährige Zweitrevisionswerberin in ihren Rechten gemäß Art. 8 EMRK.

34       Da sich das BVwG demgegenüber nicht mit den zu erwartenden Auswirkungen seiner Rückkehrentscheidung auf die konkreten Lebensumstände der minderjährigen Zweitrevisionswerberin und auf deren Aussichten auf einen andauernden stabilen Kontakt zu ihrem Vater (vgl. dazu auch VwGH 25.1.2022, Ra 2021/19/0146, sowie VwGH 14.4.2021, Ra 2020/18/0288, mwN) in ausreichend konkreter Weise fallbezogen auseinandergesetzt hat, kann nicht beurteilt werden, inwiefern das Kindeswohl im Revisionsfall bei Rückführung in den Herkunftsstaat gefährdet wäre.

35       Das angefochtene Erkenntnis war daher in Bezug auf die Rückkehrentscheidungen und die damit zusammenhängenden weiteren Aussprüche wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

36       Der Ausspruch über den Kostenersatz gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 21. Dezember 2022

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021180411.L00

Im RIS seit

23.01.2023

Zuletzt aktualisiert am

23.01.2023
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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