TE Lvwg Erkenntnis 2020/11/19 VGW-151/079/778/2020

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Veröffentlicht am 19.11.2020
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Entscheidungsdatum

19.11.2020

Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht
19/05 Menschenrechte

Norm

NAG 2005 §11 Abs2 Z3
NAG 2005 §11 Abs3
NAG 2005 §46 Abs1 Z2
NAG-DV 2005 §7 Abs1 Z6
EMRK Art. 8

Text

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Verwaltungsgericht Wien erkennt durch seine Richterin MMag. Dr. Ollram über die Beschwerde des A. B., geb. … 1999, Staatsang. Türkei, gegen den Bescheid des Landeshauptmanns von Wien, Magistratsabteilung 35, vom 29.11.2019, MA35-9/…-01, betreffend die Abweisung des Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot-Karte plus“ (Familienangehöriger; § 46 Abs. 1 Z 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz – NAG) gemäß § 11 Abs. 2 Z 2 NAG (fehlender Nachweis des Anspruchs auf eine ortsübliche Unterkunft), § 11 Abs. 2 Z 3 NAG (fehlender Nachweis des Krankenversicherungsschutzes) und § 11 Abs. 2 Z 4 und Abs. 5 NAG (mögliche finanzielle Belastung einer Gebietskörperschaft) nach öffentlicher mündlicher Verhandlung gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG zu Recht:

I. Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen und der angefochtene
Bescheid mit der Maßgabe bestätigt, dass Entscheidungsgrundlage § 11 Abs. 2 Z 3 NAG iVm § 7 Abs. 1 Z 6 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz– Durchführungsverordnung - NAG-DV ist.

II. Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 erster Satz B-VG nicht zulässig.

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e

Die belangte Behörde begründete die abweisende Entscheidung unter Wiedergabe des Verfahrensverlaufs, der herangezogenen Rechtsvorschriften sowie höchstgerichtlicher Judikatur und unter Bezugnahme auf eine im Rahmen des Parteiengehörs erstattete Stellungnahme im Wesentlichen damit, dass sich der Beschwerdeführer (BF) bei der gegenständlichen Erstantragstellung auf die Ehe mit der (damals) minderjährigen türkischen Staatsangehörigen C. H. und die beabsichtigte Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in Österreich, sohin die Anwendbarkeit der Stillhalteklausel nach Art. 13 ARB 1/80 berufe. Die Ehegattin gehe derzeit keiner Beschäftigung nach und sei bei ihrem Vater in der Krankenversicherung mitversichert. Ausreichende Nachweise für die erforderlichen Unterhaltsmittel lägen nicht vor. Ein vorgelegter Arbeitsvorvertrag mit einem Fassadenunternehmen, bei welchem der BF als Maler über 2.000 Euro brutto verdienen solle, sei als Grundlage sehr unsicher einzuschätzen, da ohne dieses Einkommen nicht nur ein geringfügiger Betrag sondern der (nach den anwendbaren Richtsätzen) erforderliche Gesamtbetrag fehlen würde und der Arbeitsmarkt für Ausländer ohne besondere Qualifikationen angespannt sei. Ein Bewerbungsprozess sei nicht glaubhaft dargelegt worden und sei auch nichts über die Auftragslage des genannten Unternehmens und die Qualifikationen des BF bekannt. Es sei daher nicht nachvollziehbar, weshalb dem BF mit nur rudimentären Deutschkenntnissen gegenüber einer in Österreich verfügbaren Arbeitskraft der Vorzug gegeben werden sollte. Somit sei die Erteilungsvoraussetzung des § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG nicht erfüllt. An der Adresse der ins Treffen geführten ca. 54,39 m² großen Mietwohnung seien bereits zwei Erwachsene, zwei Kinder und die Ehegattin des BF gemeldet. Bei Zuzug des BF als weiterem Erwachsenen sei die Wohnung als überfüllt anzusehen und liege daher auch die Erteilungsvoraussetzung des § 11 Abs. 2 Z 3 NAG nicht vor. Letztlich sei kein Nachweis für einen vorschriftsgemäßen Krankenversicherungsschutz erbracht worden und auch kein Fall einer aktuellen oder künftigen gesetzlichen Pflichtversicherung erkennbar.  Eine Interessensabwägung nach § 11 Abs. 3 NAG falle zu Ungunsten des BF aus, da dieser zwar familiär an die Ehegattin gebunden sei, jedoch mit dieser noch nie im gemeinsamen Haushalt gelebt habe. Zudem sei er noch in seinem Heimatland, zu welchem maßgebliche Bindungen bestünden, gesellschaftlich integriert.

Dagegen richtet sich die fristgerecht und mängelfrei im Weg der damals ausgewiesenen rechtsfreundlichen Vertreterin erhobene Beschwerde mit den Begehren, eine mündliche Verhandlung durchzuführen und die negative Sachentscheidung im Sinn des verfahrenseinleitenden Antrags abzuändern, in eventu, die Angelegenheit zur neuerlichen Entscheidung an die Behörde zurückzuverweisen. Begründend wurde – abgesehen von der Wiedergabe bereits im Bescheid ausgeführter bzw. unstrittiger Umstände – auf das Wesentliche zusammengefasst Folgendes vorgebracht:

?    Der BF habe ab seinem gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich gemäß § 123 ASVG Anspruch auf Mitversicherung bei seiner im Bundesgebiet lebenden Ehegattin, was nach der Judikatur des VwGH den Erfordernissen des § 11 Abs. 2 Z 3 NAG entspreche.

?    Der BF unterliege aufgrund einer beabsichtigten Erwerbstätigkeit der begünstigenden Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80. Die Unterhaltsmittel wären nicht nach § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG sondern nach § 10 Abs. 2 Z 2 FrG 1997 zu prüfen; selbst nach den Bestimmungen des NAG sei das Einkommen mangels hinzukommender Kreditverbindlichkeiten und externer Unterhaltsverpflichtungen aber ausreichend. Der BF habe einen (für beide Parteien rechtsverbindlichen) Arbeitsvorvertrag vom 21.6.2019 mit dem Unternehmen „D. e.U.“ vorgelegt, aus dem sich ein für den Lebensunterhalt der Kernfamilie ausreichendes Monatseinkommen von 2.072,97 brutto zuzüglich Sonderzahlungen ergebe. Die von der Behörde vorgenommene Würdigung des Vorvertrags erscheine willkürlich, da die dagegen gehaltenen Umstände nicht relevant bzw. überhaupt nicht nachvollziehbar festgestellt worden seien.

?    Die für die Unterkunft des BF vorgesehene Wohnung sei ausreichend, zumal sie aktuell lediglich von der Ehegattin, dem gemeinsamen neugeborenen Kind und dem Schwiegervater bewohnt werde. Dem BF, seiner Ehegattin und dem Kind stünde ein eigenes Schlafzimmer zur Verfügung, während der Schwiegervater „das andere Schlafzimmer“ nutze.

?    Selbst bei Fehlen eines Erteilungskriteriums hätte die Interessensabwägung nach § 11 Abs. 3 NAG zugunsten des BF ausfallen müssen, da die Ehegattin und das neugeborene Kind auf Dauer rechtmäßig in Österreich lebten und eine Versagung des Aufenthaltstitels dem Kindeswohl massiv schaden würde.

?    In verfahrensrechtlicher Hinsicht seien der Behörde diverse (im Einzelnen dargelegte) Verstöße gegen die amtswegige Ermittlungspflicht vorzuwerfen.

Zum Beweis wurde die Parteivernehmung beantragt und auf die bereits vorgelegten Unterlagen sowie eine beigelegte Bestätigung der (damaligen) WGKK vom 28.10.2019 betreffend die Selbstversicherung der Ehegattin in der Krankenversicherung nach § 16 ASVG verwiesen.

Mit Stellungnahme vom 14.10.2019 waren im Rahmen des Parteiengehörs bei der belangten Behörde (bezogen auf den damaligen Verfahrensstand) im Wesentlichen gleiche Vorbringen erstattet worden.

In der Beschwerdeverhandlung wurden teilweise die in der Ladung aufgetragenen Unterlagen vorgelegt, jedoch keine inhaltlich neuen Vorbringen erstattet. Nach Auftrag weiterer maßgeblicher Unterlagen (u.a. zur Bescheinigung des Krankenversicherungsschutzes) erfolgte zunächst mit Schriftsatz vom 10.9.2020 ein Fristerstreckungsantrag. Mit Schriftsatz vom 24.9.2020 (rechtswirksam eingelangt per 25.9.2020) gab die rechtsfreundliche Vertreterin dem VGW schließlich die Beendigung des Vollmachtverhältnisses mit dem BF bekannt, wobei sie gleichzeitig mitteilte, dass ihr die zuletzt angeforderten Unterlagen nicht zur Verfügung gestellt worden seien. Auf Rückfrage nach der weiteren Zustelladresse stellte sie in Aussicht, mit dem BF bzw. seinen Verwandten Rücksprache zu halten und dem VGW im Fall des Bekanntwerdens einer Anschrift Bericht zu erstatten. An die Ehegattin des BF bzw. deren Wiener Adresse sei ihrer Meinung nach nicht zuzustellen. Bislang ist diesbezüglich keine weitere Mitteilung eingelangt.

Aufgrund des Ermittlungsverfahrens ist von folgendem maßgeblichen Sachverhalt auszugehen:

Der am … 1999 in E., Türkei, geborene und nunmehr 21 Jahre alte BF stellte am 7.8.2019 als damals 20-jähriger Staatsangehöriger der Republik Türkei bei der Österreichischen Botschaft Ankara einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ zwecks Nachzug zu seiner in Österreich aufenthaltsberechtigten Ehegattin. Sein aktueller Reisepass ist bis 12.6.2029 gültig.

Am 8.5.2019 schloss der BF in der Türkei mit der damals minderjährigen C. A. (nunmehr H.), geb. … 2002, die Ehe. Mit Beschluss des türkischen Bezirksgerichts E. vom 28.2.2019 war die Eheschließung mit der Minderjährigen nach dortigem Recht genehmigt worden. Am … 2019 wurde in Österreich ein gemeinsamer Sohn, F. H., geboren. Die Ehegattin verfügt als Familienangehörige ihres langjährig in Österreich erwerbstätigen Vaters G. A., über einen aktuell bis 27.4.2021 gültigen Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“.

Die Ehegattin des BF ist seit 25.11.2013 in der ca. 54,39 m² großen Mietwohnung ihres Vaters in Wien, H.-gasse, mit Hauptwohnsitz gemeldet. Nach Absolvierung der Hauptschule samt polytechnischem Lehrgang in Österreich lernte sie bei einem Urlaub in der Türkei den BF kennen, der ihr Freund wurde. Nach einem anschließenden zwei bis dreiwöchigen Aufenthalt in Österreich ging sie schließlich für zwei Jahre in die Türkei zurück, wo sie auch ihre weitere Ausbildung anstrebte. Nach Eintritt der Schwangerschaft wurde in der Türkei die Eheschließung mit dem BF in die Wege geleitet. Kurze Zeit vor der Geburt des gemeinsamen Kindes (Juli 2019) kam die Ehegattin Anfang Mai 2019 wieder nach Österreich, um im Krankenhaus K. zu entbinden. Mit schriftlicher Vereinbarung vom 25.5.2019 wurde ihr von ihrem Vater G. A., dem Hauptmieter der Wohnung in der H.-gasse, ausdrücklich ein unentgeltliches Wohnrecht bis 25.5.2025 eingeräumt. Der Vater selbst bewohnte die Wohnung aufgrund seines unbefristeten Hauptmietvertrags vom 6.5.2013 durchgehend seit 17.5.2013 und begründete während des laufenden Beschwerdeverfahrens per 4.9.2020 einen neuen Hauptwohnsitz an einer anderen Wohnadresse im 10. Wiener Gemeindebezirk. Zum gleichen Zeitpunkt wurde auch die L. A., eine zu Schulbesuchszwecken in Österreich aufhältige minderjährige Schwester der Ehegattin des BF, auf die neue Adresse des Vaters umgemeldet. Die ursprünglich ebenfalls in der H.-gasse gemeldete Mutter der Ehegattin, M. A., wurde per 14.10.2019 ohne neue Wohnsitzmeldung von dieser Adresse abgemeldet, da sie bereits seit längerer Zeit dauerhaft in der Türkei lebt. Aktuell sind in der Wohnung Wien, H.-gasse, die Ehegattin des BF und seit 18.7.2019 der gemeinsame Sohn mit Hauptwohnsitz gemeldet. Ein Übergang der Mietrechte des G. A. auf die Ehegattin des BF (oder auf den BF selbst) kann nicht festgestellt werden.

Im Antragsformular des BF vom 7.8.2019 ist auf eine „Europäische Krankenversicherung“ samt Sozialversicherungsnummer der Ehegattin C. H. verwiesen. Die Ehegattin war zuletzt von 12.10.2019 bis 31.5.2020 gemäß § 16 Abs. 1 ASVG bei der ÖGK in der Krankenversicherung selbstversichert. Aktuell scheint zu ihrer Person kein Krankenversicherungsverhältnis (weder Selbst- noch Mitversicherung) auf. Auch eine auf die Person des BF lautende private Krankenversicherung mit Leistungspflicht in Österreich liegt nicht vor.

Der BF hat in der Türkei eine nicht näher präzisierte berufsbildende Schule absolviert, war bislang noch nie in Österreich aufhältig und verfügt über keine Deutschkenntnisse. Gerichtliche Vorstrafen oder bisherige Verstöße gegen fremdenrechtliche Vorschriften bzw. zu seinen Ungunsten verfügte fremdenrechtliche Maßnahmen sind derzeit nicht indiziert. Der BF bewohnt in seinem Heimatland zusammen mit seiner Mutter ein zweistöckiges Haus; sein Vater ist verstorben. In Wien leben der Vater und eine Tante der Ehegattin; letztere lebt zusammen mit ihrer Mutter, der Großmutter der Ehegattin, in einem eigenen Haushalt. Die beiden Herkunftsfamilien sind miteinander nicht näher bekannt.

Weitere Feststellungen im Hinblick auf sonstige relevante Erteilungskriterien erübrigen sich im Licht der rechtlichen Beurteilung.

Beweisverfahren und Beweiswürdigung:

In der mündlichen Verhandlung vom 20.8.2020 wurden folgende Beweise aufgenommen und erörtert: Bisherige Gesamtinhalte von Behörden- und Gerichtsakt; in der Verhandlung ergänzte Unterlagen; Zeugenvernehmung des Vertreters eines potenziellen Arbeitgebers; Vernehmung der in der Verhandlung stellig gemachten Zeugin P. E. (Tante der Ehegattin des BF). Eine persönliche Vernehmung des BF als Partei war aufgrund seines derzeitigen Aufenthalts in der Türkei binnen angemessener Zeit und mit vertretbarem Aufwand nicht möglich, jedoch im vorliegenden Fall für die Feststellung der maßgeblichen Entscheidungsgrundlagen letztlich auch nicht erforderlich. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung unentschuldigt fern und beteiligte sich insofern nicht weiter am Beweisverfahren.

Die Personen- und Reisepassdaten des BF sowie der Weg der Antragstellung sind durch unbedenkliche öffentliche Urkunden ausgewiesen und unstrittig. Die Feststellungen zur Meldesituation der regelmäßig bzw. zeitweise in Österreich aufhältigen Personen ergeben sich aus dem Zentralen Melderegister. Vorgelegt wurden auch die auf den G. A. als Hauptmieter lautende Mietvertragsurkunde vom 6.5.2013 und seine Wohnrechtsvereinbarung vom 25.5.2019 mit der Ehegattin des BF.

Die amtswegig abgefragten (und bis zur Entscheidung unveränderten) unbedenklichen amtlichen Sozialversicherungsdaten der Ehegattin des BF wiesen bereits zum Zeitpunkt der Beschwerdeverhandlung die Beendigung ihrer Krankenversicherung mit 31.5.2020 aus. Weitere in Betracht kommende Versicherungsverhältnisse scheinen in den Sozialversicherungsdaten nicht auf. Dem in der Verhandlung erteilten Auftrag, die im Vorfeld wiederholt behauptete Mitversicherungsmöglichkeit des BF in Österreich zu bescheinigen, wurde nicht entsprochen. Auch private Versicherungsunterlagen (wie etwa eine Polizze über eine über einen zwölfmonatigen Zeitraum gültige Krankenversicherung mit unbeschränkter Risikoabdeckung und Leistungspflicht in Österreich) wurden nicht vorgelegt bzw. nicht einmal ins Treffen geführt.

Die familiären Verhältnisse des BF ergeben sich aus unbedenklichen einschlägigen Urkunden (türkische Heiratsurkunde; Beschluss/Urteilsausfertigung des Bezirksgerichts E.; Personendaten des gemeinsamen Kindes) in Verbindung mit den glaubwürdig und gewissenhaft wirkenden Zeugenaussagen der dauerhaft in Wien lebenden und mit der Familiensituation im Wesentlichen vertrauten Tante seiner Ehegattin. Seine Ausbildung und das Fehlen von Deutschkenntnissen hat der BF im Antrag selbst angegeben. Der negative Status im Hinblick auf Strafdelikte und fremdenrechtliche Übertretungen ergibt sich für die Zwecke dieses Verfahrens aus amtswegigen Abfragen des Zentralen Fremdenregisters (Informationsverbundsystem) in Verbindung mit der aktenkundigen türkischen Strafregisterauskunft.

Rechtliche Beurteilung:

Zu I:

Gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 NAG und § 2 Abs. 1 Z 2 NAG-DV werden Aufenthaltstitel unter anderem als „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ erteilt, die zur befristeten Niederlassung und zur Ausübung einer selbständigen und (gemäß § 17 AuslBG) unselbständigen Erwerbstätigkeit berechtigt.

Gemäß § 46 Abs. 1 NAG ist Familienangehörigen von Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot–Karte plus“ unter anderem dann zu erteilen, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen und der Zusammenführende einen Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ gemäß § 41a Abs. 1, 4 oder 7a innehat (Z 1) oder ein Quotenplatz vorhanden ist und der Zusammenführende einen Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“, ausgenommen einen solchen gemäß § 41a Abs. 1, 4 oder 7a innehat (Z 2 lit. b).

Gemäß § 2 Abs. 1 Z 9 erster Halbsatz NAG ist Familienangehöriger, wer Ehegatte oder minderjähriges lediges Kind, einschließlich Adoptiv- oder Stiefkind, ist (Kernfamilie). Gemäß dem dritten Halbsatz müssen Ehegatten zum Zeitpunkt der Antragstellung das 21. Lebensjahr vollendet haben.

Gemäß § 2 Abs. 1 Z 10 NAG ist Zusammenführender ein Drittstaatsangehöriger, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält oder von dem ein Recht iSd NAG abgeleitet wird.

Gemäß § 21 Abs. 1 NAG sind Erstanträge vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einzubringen. Die Entscheidung ist im Ausland abzuwarten.

Die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ ist ein konstitutiver Verwaltungsakt. Mangels besonderer Regelungen in den gegenständlichen Verwaltungsvorschriften hat das Verwaltungsgericht seiner Sachentscheidung im Bescheidbeschwerdeverfahren die zu diesem Zeitpunkt geltende Sach- und Rechtslage zu Grunde zu legen (vgl. auch VwGH 5.7.2012, 2010/21/0360).

§ 29 Abs. 1 NAG betont (unbeschadet des auch im Antragsverfahren geltenden allgemeinen Grundsatzes der amtswegigen Ermittlungspflicht iSd § 39 Abs. 2 erster Satz AVG) ausdrücklich die Verpflichtung des Fremden zur Mitwirkung im Verfahren, dies offenbar insbesondere vor dem Hintergrund, dass amtswegigen behördlichen Erhebungen gerade im Hinblick auf die hier einschlägigen Tatbestandsmerkmale häufig faktische Grenzen gesetzt sind (vgl. allg. etwa VwGH 4.9.2013, 2011/08/0201).

Der BF ist als Ehegatte der C. H. deren Familienangehöriger. Die Ehegattin als türkische Staatsangehörige ist aufgrund einer gültigen „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt, und somit Zusammenführende. Für den BF kommt daher grundsätzlich ein Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ gemäß § 46 Abs. 1 NAG in Betracht.

Der BF hat den verfahrenseinleitenden Erstantrag gemäß § 21 Abs. 1 NAG bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde (Ankara) eingebracht und im Behördenverfahren die fallbezogen relevanten Unterlagen gemäß § 7 NAG-DV - unbeschadet der Beurteilung ihres Inhalts - zumindest der Art nach vorgelegt.

Da sich der BF im Verfahren auf die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in Österreich berufen hat und die Absicht einer Integration in den österreichischen Arbeitsmarkt (vgl. VwGH 18.4.2018, Ra 2018/22/0004; 24.3.2015, Ro 2014/09/0057) trotz nicht konkret bescheinigter Ausbildung und fehlender Deutschkenntnisse nach den Umständen des Einzelfalls (insbesondere aufgrund einer Einstellungszusage des Arbeitgebers des Schwiegervaters) nicht von vornherein unglaubwürdig oder abwegig erscheint, ist davon auszugehen, dass der Nachzug des BF den Vergünstigungen nach Art. 13 ARB 1/80 (Stillhalteklausel, Verschlechterungsverbot) unterliegt. Somit finden die Voraussetzungen der Vollendung des 21. Lebensjahres zum Zeitpunkt der Antragstellung nach § 2 Abs. 1 Z 9 dritter Halbsatz NAG und der Grundsatz „Deutsch vor Zuzug“ nach § 21a Abs. 1 NAG auf den BF keine Anwendung, da diese Bestimmungen gegenüber den früheren seit 1.1.1995 geltenden Rechtslagen eine Verschlechterung darstellen (vgl. VwGH 18.4.2018, Ra 2018/22/0004; 23.5.2012, 2011/22/0216). Von der Begünstigung der Stillhalteklausel nicht erfasst sind hingegen etwa die Erteilungsvoraussetzung einer ortsüblichen Unterkunft iSd § 11 Abs. 2 Z 2 NAG oder die Verpflichtung zum Nachweis eines Krankversicherungsschutzes iSd § 11 Abs. 2 Z 3 NAG.

Zu § 11 Abs. 2 Z 3 NAG (Krankenversicherung):

Gemäß der im 1. Teil des NAG geregelten allgemeinen Erteilungsvoraussetzung dürfen Aufenthaltstitel einem Fremden nur dann erteilt werden, wenn dieser über einen alle Risken abdeckenden Krankenversicherungsschutz verfügt und diese Versicherung in Österreich auch leistungspflichtig ist.

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 6 NAG-DV ist der Nachweis insbesondere durch eine entsprechende Versicherungspolizze zu erbringen, sofern kein Fall der gesetzlichen Pflichtversicherung bestehen wird oder besteht.

Nach ständiger Rechtsprechung des VwGH muss der solcherart zu bescheinigende Krankenversicherungsschutz für die gesamte in Betracht kommende Dauer des beantragten Aufenthaltstitels gelten. Nach dem Wortlaut des § 7 Abs. 1 Z 6 NAG-DV ausgenommen sind lediglich Fälle, in welchen nach Beginn des Aufenthalts in Österreich eine gesetzliche Pflichtversicherung bestehen wird oder eine solche vorher bereits besteht, so etwa Fälle der Ehegattenmitversicherung (vgl. VwGH 20.7.2016, Ro 2015/22/0030). Soll eine nicht in Betracht kommende gesetzliche Pflichtversicherung durch eine Privatkrankenversicherung substituiert werden, hat diese der österreichischen gesetzlichen Pflichtversicherung gleichwertig zu sein. Dies setzt insbesondere auch voraus, dass der Leistungsumfang der Privatversicherung im Wesentlichen jenem der österreichischen gesetzlichen Pflichtversicherung entspricht, was aus dem vorzulegenden Nachweis nachvollziehbar hervorzugehen hat (vgl. VwGH 27.12.2019, Ra 2017/22/0171; 28.2.2019, Ra 2018/22/0213 mwV).

Ausgehend von den getroffenen Feststellungen kann ein Anspruch des BF auf Ehegattenmitversicherung schon deshalb nicht als erwiesen angesehen werden, weil das (einzige aufscheinende) Versicherungsverhältnis der Ehegattin C. H. bei der ÖGK mit 31.5.2020 geendet hat und ein weiteres Versicherungsverhältnis bis dato nicht nachweislich begründet wurde und aktuell aufrecht ist. Die amtswegigen Ermittlungsmöglichkeiten erschöpfen sich hier in der Einholung einer Auskunft aus den Sozialversicherungsdaten. Da dem in der Verhandlung erteilten Bescheinigungsauftrag nicht entsprochen und auch keine alternative Versicherungsvariante dargetan wurde, ist der BF seinen Mitwirkungspflichten nach § 29 Abs. 1 NAG nicht nachgekommen, was in diesem Fall zu seinen Lasten geht. Somit ist zum Entscheidungszeitpunkt die Erteilungsvoraussetzung des § 11 Abs. 2 Z 3 NAG nicht erfüllt.

Zu § 11 Abs. 3 NAG (Interessensabwägung):

Gemäß § 11 Abs. 3 NAG kann ein Aufenthaltstitel trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses gemäß Abs. 1 Z 3, 5 oder 6 sowie trotz Ermangelung einer Voraussetzung gemäß Abs. 2 Z 1 bis 7 erteilt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK geboten ist. Bei der Beurteilung dieses Privat- und Familienlebens sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen rechtswidrig war;

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;

4. der Grad der Integration;

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Drittstaatsangehörigen;

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit;

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Drittstaatsangehörigen in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren;

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthalts des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung des Rechts auf Privat- und Familienleben nur statthaft, insoweit dieser gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Der BF ist und war bislang dauerhaft in seinem Heimatland Türkei aufhältig, wo er gemeinsam mit seiner Mutter ein zweistöckiges Haus bewohnt. Ferner war er bislang nie in Österreich zu Besuch und verfügt er über keinerlei Deutschkenntnisse. Er verfügt auch – unbeschadet einer allfälligen Beschäftigungsmöglichkeit beim ins Treffen geführten Arbeitgeber – über keine bescheinigte Ausbildung oder berufliche Vorerfahrungen, die ihn für den österreichischen Arbeitsmarkt besonders qualifizieren würden. Der BF ist sohin nach wie vor in seinem Herkunftsland integriert. Mitglieder seiner Herkunftsfamilie sind nicht in Österreich aufhältig oder aufenthaltsberechtigt. Was die nach der Aktenlage zweifellos vorhandenen echten familiären Bindungen zur - inzwischen volljährigen - Ehegattin betrifft, ist zu bemerken, dass letztere zwar nachweislich zum Aufenthalt in Österreich berechtigt ist, jedoch faktisch selbst nur einen geringen Integrationsgrad und ebenfalls eine deutliche Verbundenheit mit ihrem Herkunftsland erkennen lässt: Zum einen spricht sie laut Zeugenaussage ihrer Tante trotz Aufenthaltszeiten seit dem Jahr 2013 einschließlich Hauptschulbildung in Österreich nur mangelhaft Deutsch. Zum anderen hat sie das Bundesgebiet bereits vor dem Kennenlernen des BF, ihres jetzigen Ehegatten, freiwillig auf längere Zeit (ca. zwei Jahre) verlassen, um wieder in der Türkei zu leben und dort allenfalls auch eine weitere Ausbildung zu verfolgen; die nächste Einreise nach Österreich erfolgte erst kurz vor der Geburt des Kindes Mitte des Jahres 2019. Danach fanden nach der Aktenlage wieder längere Aufenthalte mit der gesamten Familie in der Türkei statt. Insofern hat auch ihre seit Ende 2013 aufrechte Wohnsitzmeldung in Wien keine besondere Aussagekraft. Auch die Mutter der Ehegattin lebt aussagegemäß (trotz erst kürzlich beendeter Wohnsitzmeldung in Wien) schon seit längerer Zeit wieder dauerhaft in der Türkei. Die Aufenthalte der im Bundesgebiet gemeldeten Schwester fokussieren sich ebenfalls auf deren Schulbesuch. Ferner war die Ehegattin bislang nie im Bundesgebiet erwerbstätig. Auch über das dauerhaft in ihrer Obhut stehende und mit ihr mitreisende einjährige Kind besteht derzeit kein qualifizierter Bezug des BF zu Österreich. Die Schutzwürdigkeit eines gemeinsamen Privatlebens im Bundesgebiet oder eine (geschweige denn eine laut Beschwerdeausführungen „massive“) Gefährdung des Kindeswohls ist daher bei Gesamtbetrachtung nicht ersichtlich. Die straf- und fremdenrechtliche Unbescholtenheit des BF tritt dem gegenüber in den Hintergrund. Auch sonstige gewichtige Anhaltspunkte für eine Titelerteilung nach § 11 Abs. 3 NAG sind nicht ersichtlich.

Da für die Zuerkennung eines Aufenthaltstitels sämtliche fallbezogenen Erteilungskriterien vorliegen oder aber (sofern rechtlich möglich) gemäß § 11 Abs. 3 NAG im Licht des Art. 8 EMRK „kompensiert“ werden müssen, war auf weitere Erteilungsvoraussetzungen und -hindernisse nicht mehr einzugehen und der angefochtene Bescheid durch Abweisung der Beschwerde zu bestätigen.

Zu II (§ 25a Abs. 1 VwGG):

Die Unzulässigkeit der Revision war auszusprechen, da sich im Verfahren keine entscheidungsrelevanten Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 erster Satz B-VG stellten: Der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt konnte anhand eindeutiger Rechtsvorschriften - teilweise in Verbindung mit den im jeweiligen Zusammenhang zitierten gefestigten Leitlinien des VwGH - abschließend beurteilt werden. Im Übrigen erfolgte auf der Grundlage des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und der diesbezüglichen Beweiswürdigung eine rechtliche Einzelfallbeurteilung; diese Aspekte unterliegen in der Regel nicht der Nachprüfung im Revisionsweg (vgl. etwa VwGH 8.11.2016, Ra 2016/09/0097; 24.2.2016, Ra 2016/04/0013, mwV).

Schlagworte

Fremden- und Aufenthaltsrecht; Rot-Weiß-Rot - Karte plus; Familienzusammenführung; Erteilungsvoraussetzung; Krankenversicherung; Interessensabwägung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:LVWGWI:2020:VGW.151.079.778.2020

Zuletzt aktualisiert am

11.01.2023
Quelle: Landesverwaltungsgericht Wien LVwg Wien, http://www.verwaltungsgericht.wien.gv.at
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