TE Vwgh Erkenntnis 2022/12/5 Ra 2021/18/0020

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Veröffentlicht am 05.12.2022
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
  1. AsylG 2005 § 8 heute
  2. AsylG 2005 § 8 gültig von 01.11.2017 bis 31.10.2017 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 84/2017
  3. AsylG 2005 § 8 gültig ab 01.11.2017 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 145/2017
  4. AsylG 2005 § 8 gültig von 01.01.2014 bis 31.10.2017 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 68/2013
  5. AsylG 2005 § 8 gültig von 01.01.2014 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 87/2012
  6. AsylG 2005 § 8 gültig von 01.01.2010 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 122/2009
  7. AsylG 2005 § 8 gültig von 01.01.2006 bis 31.12.2009
  1. VwGG § 42 heute
  2. VwGG § 42 gültig ab 01.01.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  3. VwGG § 42 gültig von 01.07.2012 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 51/2012
  4. VwGG § 42 gültig von 01.07.2008 bis 30.06.2012 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  5. VwGG § 42 gültig von 01.01.1991 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 330/1990
  6. VwGG § 42 gültig von 05.01.1985 bis 31.12.1990
  1. VwGG § 42 heute
  2. VwGG § 42 gültig ab 01.01.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  3. VwGG § 42 gültig von 01.07.2012 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 51/2012
  4. VwGG § 42 gültig von 01.07.2008 bis 30.06.2012 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  5. VwGG § 42 gültig von 01.01.1991 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 330/1990
  6. VwGG § 42 gültig von 05.01.1985 bis 31.12.1990

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des A H, vertreten durch Dr. Max Kapferer, Dr. Thomas Lechner und Dr. Martin Dellasega, Rechtsanwälte in 6020 Innsbruck, Schmerlingstraße 2/2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. Dezember 2020, W242 2185179-1/19E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird im Anfechtungsumfang (Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und die darauf aufbauenden Spruchpunkte) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger aus der Provinz Kunduz, stellte am 8. Februar 2016 (damals 14-jährig) einen Antrag auf internationalen Schutz. Während der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) brachte der Revisionswerber vor, in der Nähe des Wohnhauses seiner Familie habe sich plötzlich eine Explosion ereignet. Sein Auge sei durch einen Splitter getroffen worden. Der Bruder des Revisionswerbers habe daraufhin die unbegleitete Flucht für sich und den Revisionswerber organisiert. Zu seinen Eltern habe der Revisionswerber keinen Kontakt mehr; er glaube, sie seien im Iran.

2        Mit Bescheid vom 18. Jänner 2018 wies das BFA den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Die dagegen vom Revisionswerber erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

4        Das BVwG stellte zur Nichtzuerkennung des Status eines Asylberechtigten fest, der Revisionswerber sei bei einer Rückkehr nach Afghanistan keiner asylrelevanten Bedrohung ausgesetzt.

5        Zur Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten hielt das BVwG fest, dem Revisionswerber würde bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Kunduz ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Bei einer Ansiedlung in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat könnte er hingegen grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Zu Herat gehe aus den Länderfeststellungen hervor, dass vor allem Tagelöhner von den ergriffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie, insbesondere den damit verbundenen Ausgangssperren, betroffen seien. Dabei handle es sich allerdings um temporäre Maßnahmen, sodass aus derzeitiger Sicht davon auszugehen sei, dass sie nach Abklingen der Krise wieder gelockert würden. Es sei anzunehmen, dass sich der Revisionswerber am Arbeitsmarkt in Herat oder Mazar-e Sharif zurechtfinden und, wenn auch nur mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten, ein ausreichendes Einkommen sichern werde können. Der Revisionswerber sei jung, leide an keinen schwerwiegenden und lebensbedrohlichen Erkrankungen und verfüge zumindest über geringfügige Schulbildung. Die beim Revisionswerber diagnostizierten Erkrankungen (insbesondere seine Augenerkrankung) würden nicht zu einer dauerhaften Arbeitsunfähigkeit führen, sodass die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden könne. Soweit aus den Länderberichten hervorgehe, dass es in Afghanistan zuletzt zu einer Schließung von Teehäusern, Hotels und ähnlichen Orten gekommen sei, und der Revisionswerber vorgebracht habe, dass er keinen Zugang zu einer Unterkunft habe, weil er weder ein familiäres oder soziales Netzwerk noch Eigentum in Afghanistan habe, sei festzuhalten, dass sich Beschränkungen, welche den Zugang zu jeglicher Unterkunft dauerhaft beeinträchtigen würden, aus den Länderberichten nicht ergäben. Vielmehr gehe aus diesen hervor, dass die afghanische Regierung am 6. Juni 2020 verkündet habe, dass die im Zusammenhang mit COVID-19 gesetzten Maßnahmen für weitere drei Monate verlängert würden; dieser Zeitraum sei zwischenzeitlich abgelaufen. Es sei daher anzunehmen, dass der Zugang zu Unterkünften ausreichend gesichert sei. Insgesamt stehe dem Revisionswerber in den Städten Mazar-e Sharif und Herat eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung.

6        Die Revision, die sich nicht gegen die Nichtzuerkennung des Status eines Asylberechtigten, sondern nur gegen die Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten und die darauf aufbauenden Spruchpunkte richtet, macht insbesondere geltend, das BVwG habe sich zur Ermittlung der Gegebenheiten in Afghanistan entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes in wesentlichen Punkten nicht auf aktuelle Länderberichte gestützt, sondern bloße Vermutungen über die Lage im Entscheidungszeitpunkt angestellt, was einen wesentlichen Begründungsmangel darstelle. So habe es etwa - im Zusammenhang mit der Prüfung der Möglichkeit, nach einer Rückkehr in den Städten Herat und Mazar-e Sharif Unterkunft zu finden - zwar den Länderberichten entnommen, dass Teehäuser, Hotels und ähnliche Einrichtungen aufgrund von Maßnahmen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie geschlossen seien, den Revisionswerber jedoch trotzdem auf eine Unterkunftnahme in solchen Einrichtungen verwiesen, weil diese Maßnahmen bloß vorübergehend seien. Das BVwG hätte aktuelle Informationen dazu einholen müssen, ob es tatsächlich zur Aufhebung dieser Maßnahmen gekommen ist und sich die Situation für Taglöhner sowie für Personen, die auf eine Unterbringung in Teehäusern und dergleichen angewiesen sind, entspannt hat oder nicht.

7        Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

8        Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9        Die Revision ist zulässig und begründet.

10       Vorauszuschicken ist, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des BVwG gemäß § 41 VwGG auf der Grundlage der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses zu prüfen ist. Dementsprechend entziehen sich Änderungen der Sach- und Rechtslage, die sich nach Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses ereignet haben, einer Prüfung im gegenständlichen Revisionsverfahren (vgl. etwa VwGH 20.5.2022, Ra 2020/18/0382, mwN). Für den gegenständlichen Fall bedeutet dies, dass die Entwicklung der Pandemie in den letzten beiden Jahren einerseits und die Umbrüche in den Machtverhältnissen in Afghanistan samt den damit in Zusammenhang stehenden Folgen seit August 2021 andererseits im Revisionsfall keine Beachtung finden können.

11       Das BVwG verwies den Revisionswerber hinsichtlich seines Begehrens auf subsidiären Schutz bezogen auf den Zeitpunkt seiner Entscheidung auf eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Mazar-e Sharif und Herat. Die für eine solche Annahme u.a. erforderliche Möglichkeit, Unterkunft zu finden, wird vom BVwG bejaht. Aus den Länderberichten gehe zwar hervor, dass es in Afghanistan zuletzt aufgrund der COVID-19-Pandemie zu einer Schließung von Teehäusern, Hotels und ähnlichen Orten gekommen sei. Allerdings habe nach den Länderberichten die afghanische Regierung am 6. Juni 2020 verkündet, dass die im Zusammenhang mit COVID-19 gesetzten Maßnahmen für weitere drei Monate verlängert würden. Dieser Zeitraum sei inzwischen abgelaufen, weshalb anzunehmen sei, dass der Zugang zu Unterkünften ausreichend gesichert sei.

12       Die Annahme, dem Revisionswerber sei es möglich, Unterkunft in einem geöffneten Teehaus zu nehmen, hat das BVwG somit nicht aus einer entsprechenden Aussage eines im Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG (Dezember 2020) aktuellen Länderberichtes abgeleitet, sondern bloß aus einer in einem Länderbericht aus dem Juni 2020 festgehaltenen Ankündigung der afghanischen Regierung, weitere drei Monate an einschränkenden Maßnahmen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie festzuhalten. Darüber, ob es tatsächlich zu einer Aufhebung der Sperre der Teehäuser und ähnlicher Einrichtungen kam, hat das BVwG keinerlei Ermittlungen angestellt. Die genannte Annahme des BVwG stellt somit der Sache nach eine bloße Spekulation über die weitere Entwicklung der Situation in Afghanistan dar. Für die Entscheidung des BVwG kommt es jedoch auf die konkret festzustellende Sachlage im Zeitpunkt seiner Entscheidung an.

13       Das angefochtene Erkenntnis leidet daher, wie die Revision zutreffend geltend macht, an einem Begründungsmangel, der die nachprüfende Kontrolle der angefochtenen Entscheidung nicht zulässt (vgl. VwGH 15.7.2022, Ra 2020/18/0451, mwN).

14       Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das BVwG bei Vermeidung des aufgezeigten Verfahrensmangels zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, war das angefochtene Erkenntnis in Bezug auf die Nichtzuerkennung subsidiären Schutzes und die darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

15       Der Kostenausspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 5. Dezember 2022

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021180020.L00

Im RIS seit

09.01.2023

Zuletzt aktualisiert am

09.01.2023
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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