TE Vwgh Beschluss 2022/11/3 Ra 2021/19/0416

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Veröffentlicht am 03.11.2022
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E3L E19103010
10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AVG §38
EURallg
VwGG §62 Abs1
32011L0095 Status-RL Art9 Abs1 lita
32011L0095 Status-RL Art9 Abs1 litb
  1. VwGG § 62 heute
  2. VwGG § 62 gültig ab 01.01.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  3. VwGG § 62 gültig von 01.07.2012 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 51/2012
  4. VwGG § 62 gültig von 01.07.2008 bis 30.06.2012 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  5. VwGG § 62 gültig von 05.01.1985 bis 30.06.2008

Beachte


Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2021/19/0417
Ra 2021/19/0418
Ra 2021/19/0419
Ra 2021/19/0420

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofrätin Dr. Funk-Leisch und den Hofrat Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision 1. des Z S, 2. der D S, 3. des O S, 4. der A S, und 5. des Z S, alle vertreten durch Mag. Stefan Harg, Rechtsanwalt in 6900 Bregenz, Wolfeggstraße 1, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. September 2021, 1. W155 2211857-1/23E, 2. W155 2211853-1/20E, 3. W155 2211855-1/18E, 4. W155 2211851-1/18E und 5. W155 2228660-1/17E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Das Revisionsverfahren wird bis zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union in den Rechtssachen C-608/22 und C-609/22 über die mit Beschlüssen des Verwaltungsgerichtshofes vom 14. September 2022, EU 2022/0016 (Ra 2021/20/0425) und EU 2022/0017 (Ra 2022/20/0028), vorgelegten Fragen ausgesetzt.

Begründung

1        Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind miteinander verheiratet und die Eltern der minderjährigen Dritt- bis Fünftrevisionswerber. Die Revisionswerber sind afghanische Staatsangehörige. Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin stellten für sich am 17. Dezember 2015, für den Drittrevisionswerber am 13. Oktober 2016, für die Viertrevisionswerberin am 5. April 2018 und für den Fünftrevisionswerber am 28. August 2019 Anträge auf internationalen Schutz.

2        Mit Bescheiden jeweils vom 15. November 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der Erst- bis Viertrevisionswerber zur Gänze ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Mit Bescheid vom 21. Jänner 2020 wies das BFA den Antrag des Fünftrevisionswerbers zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

4        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobenen Beschwerden der Revisionswerber nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten als unbegründet ab, gab den Beschwerden im Übrigen statt, erkannte den Revisionswerbern den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu, erteilte ihnen befristete Aufenthaltsberechtigungen und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5        Begründend führte das BVwG - soweit hier relevant - hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten an die Zweitrevisionswerberin aus, eine westliche Orientierung in dem für die Asylgewährung erforderlichen Ausmaß der Zweirevisionswerberin sei nicht gegeben. Die Rechtsprechung anerkenne keine Gruppenverfolgung von Frauen in Afghanistan allein aufgrund ihres Geschlechts. Dass in einer stark patriarchalisch strukturierten Gesellschaft mit einem Mangel an Arbeitsplätzen diese faktisch den Männern vorbehalten bleiben würden und Frauen auf die Rolle als versorgte Mütter beschränkt würden, stelle zwar nach europäischen Maßstäben eine Diskriminierung dar, diese erreiche allerdings keine asylrelevante Intensität. Die Lebensführung der Zweitrevisionswerberin drücke die Inanspruchnahme einzelner Grundrechte aus (Kleiderwahl, Einkaufen, Freizeitgestaltung), doch diese Lebensführung habe noch kein solches Ausmaß erreicht, dass sie Teil der Persönlichkeit der Zweitrevisionswerberin geworden sei. Es liege kein Verfolgungsrisiko aus Gründen ihrer politischen Gesinnung als überwiegend am „westlichen“ Frauen- und Gesellschaftsbild orientierten Frauen, die selbstbestimmt leben möchten, und aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich der Gruppe der am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierten afghanischen Frauen, vor. Eine Asylgewährung im Familienverfahren an die Dritt- bis Fünftrevisionswerber im Familienverfahren scheide aus.

6        Die Revision rügt hinsichtlich der Zweitrevisionswerberin einerseits ein Abweichen von näher genannter Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage der Voraussetzungen für die Asylgewährung an Frauen aus Afghanistan und macht andererseits Begründungsmängel gelten.

7        Mit den im Spruch genannten Beschlüssen vom 14. September 2022 hat der Verwaltungsgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

„1. Ist die Kumulierung von Maßnahmen, die in einem Staat von einem faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur gesetzt, gefördert oder geduldet werden und insbesondere darin bestehen, dass Frauen

-    die Teilhabe an politischen Ämtern und politischen Entscheidungsprozessen verwehrt wird,

-    keine rechtlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden, um Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt erhalten zu können,

-    allgemein der Gefahr von Zwangsverheiratungen ausgesetzt sind, obgleich solche vom faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur zwar verboten wurden, aber den Frauen gegen Zwangsverheiratungen kein effektiver Schutz gewährt wird und solche Eheschließungen zuweilen auch unter Beteiligung von faktisch mit Staatsgewalt ausgestatten Personen im Wissen, dass es sich um eine Zwangsverheiratung handelt, vorgenommen werden,

-    einer Erwerbstätigkeit nicht oder in eingeschränktem Ausmaß überwiegend nur zu Hause nachgehen dürfen,

-    der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen erschwert wird,

-    der Zugang zu Bildung - gänzlich oder in großem Ausmaß (etwa indem Mädchen lediglich eine Grundschulausbildung zugestanden wird) - verwehrt wird,

-    sich ohne Begleitung eines (in einem bestimmten Angehörigenverhältnis stehenden) Mannes nicht in der Öffentlichkeit, allenfalls im Fall der Überschreitung einer bestimmten Entfernung zum Wohnort, aufhalten oder bewegen dürfen,

-    ihren Körper in der Öffentlichkeit vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen haben,

-    keinen Sport ausüben dürfen,

im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) als so gravierend anzusehen, dass eine Frau davon in ähnlicher wie der unter lit. a des Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist?

2. Ist es für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten hinreichend, dass eine Frau von diesen Maßnahmen im Herkunftsstaat allein aufgrund ihres Geschlechts betroffen ist, oder ist für die Beurteilung, ob eine Frau von diesen - in ihrer Kumulierung zu betrachtenden - Maßnahmen im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2011/95/EU betroffen ist, die Prüfung ihrer individuellen Situation erforderlich?“

8        Der Beantwortung dieser Fragen durch den Gerichtshof der Europäischen Union kommt für die Behandlung der Revision ebenfalls Bedeutung zu. Es liegen daher die Voraussetzungen des gemäß § 62 Abs. 1 VwGG auch vom Verwaltungsgerichtshof anzuwendenden § 38 AVG vor, weshalb das Revisionsverfahren auszusetzen war (vgl. VwGH 18.10.2022, Ra 2022/14/0107, mwN).

Wien, am 3. November 2022

Schlagworte

Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021190416.L00

Im RIS seit

05.12.2022

Zuletzt aktualisiert am

05.12.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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