TE Vwgh Erkenntnis 2022/10/25 Ra 2020/08/0120

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Veröffentlicht am 25.10.2022
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

AVG §37
AVG §39 Abs2
AVG §45 Abs3
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §24 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie den Hofrat Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Schramel, über die Revision der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Melk in 3390 Melk, Babenbergerstraße 6-8, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Juni 2020, W209 2224802-1/5E, betreffend Verlust des Anspruchs auf Notstandshilfe (mitbeteiligte Partei: C N in R), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1        Mit Bescheid vom 5. Juli 2019 sprach die revisionswerbende regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Melk (AMS) aus, dass der Mitbeteiligte gemäß § 10 in Verbindung mit § 38 AlVG den Anspruch auf Notstandshilfe für den Zeitraum von 24. Juni 2019 bis 18. August 2019 verloren habe. Nachsicht werde nicht erteilt. Der Mitbeteiligte habe aufgrund seines „Bewerbungsverhaltens“ die Aufnahme einer vom AMS am 7. Juni 2019 vermittelten, zumutbaren Beschäftigung als Reinigungskraft mit möglichem Arbeitsantritt am 24. Juni 2019 vereitelt.

2        Der Mitbeteiligte erhob dagegen Beschwerde, in der er insbesondere vorbrachte, die Stelle wäre ihm nicht zumutbar gewesen, da er „bückende Arbeiten“ nicht ausführen könne.

3        Das AMS wies diese Beschwerde mit Beschwerdevorentscheidung vom 9. Oktober 2019 als unbegründet ab. Es hielt fest, im vermittelten Stellenangebot, das sich auf Tätigkeiten der Hausreinigung einschließlich Rasenmähen bezogen habe, sei ausdrücklich verlangt worden, zur Bewerbung einen Lebenslauf und ein Bewerbungsschreiben einzureichen. Der Mitbeteiligte habe am 12. Juni 2019 jedoch bloß einen Lebenslauf übermittelt und trotz am selben Tag an ihn ergangener Aufforderung zunächst kein Bewerbungsschreiben nachgereicht. Erst unmittelbar nach der niederschriftlichen Einvernahme vor dem AMS am 4. Juli 2019, während derer er eingeräumt habe, bisher bloß einen Lebenslauf eingereicht zu haben, habe er ein Bewerbungsschreiben übermittelt. Am 2. September 2019 habe der Mitbeteiligte dem AMS Auszüge aus einem ärztlichen Gutachten vorgelegt, aus dem eine Lärmüberempfindlichkeit aufgrund einer Tinnituserkrankung hervorgehe, und abermals darauf verwiesen, er könne sich nicht bücken. Das AMS habe daraufhin eine Untersuchung des Mitbeteiligten im Kompetenzzentrum der Pensionsversicherungsanstalt veranlasst. Nach dem ärztlichen Gesamtgutachten vom 25. September 2019 sei dem Mitbeteiligten die angebotene Beschäftigung in gesundheitlicher Hinsicht jedenfalls zumutbar gewesen. Das Vorbringen des Mitbeteiligten, er könne sich nicht bücken, sei nicht bestätigt worden; mit Gehörschutz sei ihm auch das Rasenmähen möglich. Insgesamt stelle das Verhalten des Mitbeteiligten - nämlich dass er zunächst bloß einen Lebenslauf und nicht unverzüglich auch das im Stellenangebot ebenfalls verlangte Bewerbungsschreiben übermittelt habe - eine Vereitelung der Annahme einer vom AMS zugewiesenen zumutbaren Beschäftigung im Sinne des § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG dar.

4        Dagegen stellte der Mitbeteiligte einen Vorlageantrag, in dem er bat, ihm die Möglichkeit zu geben, das ärztliche Gesamtgutachten zu beeinspruchen, da seine gesundheitlichen Einschränkungen nach wie vor bestünden und laut Fachärzten auch keine Besserung zu erwarten sei.

5        Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - der Beschwerde des Mitbeteiligten Folge und behob die Beschwerdevorentscheidung des AMS ersatzlos. Die Revision sei gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

6        Aus der Aktenlage ergebe sich, dass das Verhalten des Mitbeteiligten - nämlich dass er nicht unverzüglich vollständige Bewerbungsunterlagen übermittelt habe - nicht ursächlich für das Nichtzustandekommen der Beschäftigung gewesen sei. Am 4. Juli 2019 seien die nachgereichten vollständigen Bewerbungsunterlagen dem potentiellen Dienstgeber vorgelegen. Eine negative Reaktion des potentiellen Dienstgebers wegen der Verspätung sei nicht „evident“. Vielmehr sei den Verwaltungsakten zu entnehmen, dass das AMS den Vermittlungsvorschlag von sich aus mit der Begründung „zu schwer“ abgebucht habe. Da die geforderte Kausalität nicht gegeben sei, liege keine Vereitelung im Sinne des § 10 Abs. 1 AlVG vor. Die Nichtdurchführung einer mündlichen Verhandlung begründete das Bundesverwaltungsgericht mit dem Hinweis darauf, dass von den Verfahrensparteien kein Verhandlungsantrag gestellt worden sei und es eine Verhandlung auch nicht für erforderlich gehalten habe, da der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde hinreichend geklärt erschienen und durch eine mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht zu erwarten gewesen sei.

7        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Revision des AMS.

8        Das AMS bringt zur Zulässigkeit der Revision insbesondere vor, das Bundesverwaltungsgericht habe zu Unrecht festgestellt, dass der in Rede stehende Vermittlungsvorschlag für die Stelle als Reinigungskraft vom AMS mit dem Vermerk „zu schwer“ abgebucht worden sei. Der Aktenvermerk, aus dem das Bundesverwaltungsgericht diese Feststellung abgeleitet habe, habe sich auf ein anderes dem Mitbeteiligten übermitteltes Stellenangebot bei einem anderen potentiellen Dienstgeber bezogen. Dieses andere Stellenangebot habe eine Tätigkeit betroffen, die das ständige Heben von mindestens 15 kg schweren Lasten erfordert hätte, was dem Mitbeteiligten nicht zumutbar gewesen wäre und zur „Abbuchung“ dieses anderen Stellenangebotes geführt habe. Was das hier in Rede stehende - dem Mitbeteiligten nach dem eingeholten ärztlichen Gutachten zumutbare - Stellenangebot als Reinigungskraft betreffe, habe sich der Mitbeteiligte nicht unverzüglich nach dessen Übermittlung am 7. Juni 2019, sondern (in vollständiger Weise) erst am 4. Juli 2019 beworben. Dieses Verhalten habe - zumal die zu vergebenden Stellen am 1. Juli 2019 und 4. Juli 2019 besetzt worden seien - die Chancen des Mitbeteiligten zur Erlangung dieser Stelle zunichtegemacht. Hinsichtlich der Frage, ob das Verhalten des Mitbeteiligten kausal für das Nichtzustandekommen dieses Beschäftigungsverhältnisses war, sei der Sachverhalt somit strittig. Er wäre nach der - näher genannten - Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vom Bundesverwaltungsgericht in einer mündlichen Verhandlung - insbesondere durch Einvernahme des potentiellen Dienstgebers - zu klären gewesen.

9        Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10       Die Revision ist zulässig und berechtigt.

11       Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen, eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.

12       Ein Verwaltungsgericht hat demnach (selbst bei anwaltlich vertretenen Personen) auch ohne Antrag von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen, wenn es dies für erforderlich hält, wobei die Durchführung einer mündlichen Verhandlung ohne Parteiantrag nicht im Belieben, sondern im pflichtgemäßen Ermessen des Verwaltungsgerichtes selbst steht. Dies ist etwa dann anzunehmen, wenn die Beweiswürdigung der Verwaltungsbehörde substantiiert bekämpft und / oder ein konkretes sachverhaltsbezogenes Vorbringen erstattet wird. Bei einer widersprüchlichen Beweislage hat das Verwaltungsgericht derart grundsätzlich eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen, zumal bei dieser die widersprüchlichen Beweisergebnisse unmittelbar geklärt werden können. Das Verwaltungsgericht hat auch rechtliches Gehör grundsätzlich im Rahmen einer Verhandlung einzuräumen. Bei konkretem sachverhaltsbezogenen Vorbringen ist jedenfalls eine mündliche Verhandlung durchzuführen (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 6.7.2002, Ra 2020/11/0003, mwN).

13       Im vorliegenden Fall hat das Bundesverwaltungsgericht im Beschwerdeverfahren - bloß aufgrund eines Vermerkes im Akt des AMS - festgestellt, das AMS habe im Zuge des behördlichen Verfahrens selbst angenommen, die zugewiesene Beschäftigung als Reinigungskraft umfasse Tätigkeiten, die für den Mitbeteiligten „zu schwer“ seien, und das Stellenangebot „abgebucht“; das Bewerbungsverhalten des Mitbeteiligten sei nicht ursächlich für das Nichtzustandekommen der Beschäftigung gewesen, zumal auch keine ablehnende Reaktion des potentiellen Dienstgebers nach Übermittlung der Bewerbungsunterlagen aktenkundig sei. Zu diesen Annahmen - die das AMS in der Revision bestreitet (der Aktenvermerk habe sich auf ein anderes Stellenangebot bezogen) - wäre dem AMS im Rahmen einer zur Klärung des insgesamt strittigen Sachverhalts durchzuführenden mündlichen Verhandlung rechtliches Gehör zu gewähren gewesen.

14       Dass die strittigen Sachverhaltsfragen, insbesondere die Frage, auf welches Stellenangebot sich die nach dem Aktenvermerk vom AMS vorgenommene „Abbuchung“ - offenbar verbunden mit der telefonischen Mitteilung an den Mitbeteiligten, die mit der Stelle verbundenen Tätigkeiten seien für ihn „zu schwer“ - bezog, relevant für die rechtliche Beurteilung des Vorliegens einer Vereitelung einer zumutbaren zugewiesenen Beschäftigung durch das Verhalten des Mitbeteiligten im Sinne des § 10 Abs. 1 AlVG sind, liegt auf der Hand.

15       Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Wien, am 25. Oktober 2022

Schlagworte

Parteiengehör Unmittelbarkeit Teilnahme an Beweisaufnahmen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020080120.L00

Im RIS seit

22.11.2022

Zuletzt aktualisiert am

22.11.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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