TE Vwgh Erkenntnis 2022/7/21 Ra 2021/20/0476

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Veröffentlicht am 21.07.2022
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Index

10/07 Verfassungsgerichtshof
10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
VerfGG 1953 §87 Abs2
VwGG §42 Abs2 Z1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Mag. Dr. Zehetner sowie die Hofräte Mag. Eder und Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Herrmann-Preschnofsky, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. November 2021, G305 2205625-1/28E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: M A in T), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1        Der Mitbeteiligte, ein im Jahr 2000 geborener irakischer Staatsangehöriger arabischer Volksgruppenzugehörigkeit und sunnitischen Glaubens aus der Provinz Diyala, stellte am 12. Februar 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005. Als Fluchtgrund brachte er vor, er habe den Irak im Jahr 2015 verlassen, weil Milizen ihn und seine Familie - unter der Androhung des Todes für den Fall der Weigerung - aufgefordert hätten, mit ihnen in den Kampf zu ziehen.

2        Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag sowohl hinsichtlich des Begehrens auf Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch des Status eines subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) mit Bescheid vom 9. August 2018 ab, erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VI.).

3        Die dagegen am 5. September 2018 erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer Verhandlung mit Erkenntnis vom 12. Mai 2021 als unbegründet ab. Unter einem sprach das BVwG aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. Begründend führte es aus, die Aufforderung zur Teilnahme an den Kampfhandlungen im Jahr 2015 sei den zum damaligen Zeitpunkt zwischen dem IS, Milizen und auch irakischen Einheiten stattfindenden Kämpfen geschuldet gewesen, eine zielgerichtete Bedrohung gegen den Mitbeteiligten oder seiner Familie sei zu keiner Zeit erfolgt oder geplant gewesen; auch habe der Mitbeteiligte nicht glaubhaft vorbringen können, dass er von einer schiitischen Miliz wegen seines Glaubens oder anderen Konventionsgründen bedroht worden sei.

4        Gegen dieses Erkenntnis erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof (VfGH). Mit Erkenntnis vom 7. Oktober 2021, E 2372/2021-17, gab der VfGH dieser Beschwerde statt, erkannte, dass der Mitbeteiligte in seinem Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden sei und hob das Erkenntnis des BVwG auf.

5        Der VfGH führte aus, dass nach den UNHCR-Erwägungen vom Mai 2019 zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen (im Folgenden: UNHCR-Erwägungen) „für ‚Personen, die fälschlicherweise verdächtigt werden, ISIS zu unterstützen‘, ein besonderes Risikoprofil“ bestehe. „Dazu zählen ‚Personen mit überwiegend sunnitisch-arabischer Identität und zwar vornehmlich [...] Männer und Jungen im kampffähigen Alter aus Gebieten, die zuvor von ISIS besetzt waren, sowie Familien und insbesondere Frauen und Kinder, die mit tatsächlichen oder vermeintlichen ISIS-Mitgliedern verbunden sind‘ (UNHCR-Erwägungen, S. 69ff.).“ Solche Personen würden nach Auffassung von UNHCR „wahrscheinlich“ internationalen Flüchtlingsschutz benötigen, „was auf Grund der besonderen Umstände des jeweiligen Falles individuell geprüft werden muss (siehe zur ähnlichen Berichtslage auch die EASO Country Guidance: Iraq vom Jänner 2021, S 64ff.).“

6        Der Mitbeteiligte habe als Fluchtgrund vorgebracht, dass er auf Grund dieses Risikoprofils individuell bei Rückkehr der Verfolgung ausgesetzt sei und nicht bloß auf die Zugehörigkeit zur Personengruppe mit diesem Risikoprofil verwiesen. Das BVwG hätte sich daher mit der individuellen Bedrohung im Lichte dieses besonderen Risikoprofils auseinanderzusetzen gehabt. Das BVwG habe jedoch in diesem Punkt die Ermittlungstätigkeit unterlassen und sein Erkenntnis daher mit Willkür belastet.

7        Im fortgesetzten Verfahren gab das BVwG mit Erkenntnis vom 11. November 2021 der Beschwerde vom 5. September 2018 statt, erkannte dem Mitbeteiligten den Status des Asylberechtigten zu [Spruchpunkt A) I.], stellte fest, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes zukomme [Spruchpunkt A) II.] und behob die Spruchpunkte II. bis VI. des Bescheides vom 9. August 2018 ersatzlos [Spruchpunkt A) III.]. Unter einem sprach das BVwG aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei [Spruchpunkt B)].

8        Das BVwG zitierte in seinen beweiswürdigenden Erwägungen und seiner rechtlichen Beurteilung den wesentlichen Inhalt des vorgenannten Erkenntnisses des VfGH und führte aus, dass auf Grund der bisherigen Spruchpraxis des VfGH die vollständige Aufhebung des Erkenntnisses des BVwG dahingehend zu deuten sei, dass die Rechtsansicht des VfGH herzustellen sei und dem gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gerichteten Teil der Beschwerde stattzugeben sowie dem Mitbeteiligten der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen sei. Auf Grund dessen seien die Spruchpunkte II. bis IV. des angefochtenen Bescheids zu beheben.

9        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision des BFA.

10       Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat über die Revision nach Vorlage derselben und der Verfahrensakten durch das BVwG und nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - erwogen:

11       Zur Begründung ihrer Zulässigkeit wird von der Revision ein Verstoß gegen die Bindungswirkung des Erkenntnisses des VfGH und das gänzliche Fehlen einer nachvollziehbaren Begründung - und damit ein Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - vorgebracht. Das BVwG habe keine eigenen Tatsachenfeststellungen getroffen, keine nachvollziehbare Beweiswürdigung vorgenommen und keine rechtliche Beurteilung dargelegt. Es zitiere vielmehr in seinen beweiswürdigenden Erwägungen und in seiner rechtlichen Beurteilung den wesentlichen Inhalt des Erkenntnisses des VfGH und ziehe daraus den Schluss, dass dem Mitbeteiligten der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen sei. Dabei verkenne es, dass die Aufhebung durch den VfGH erfolgt sei, weil es das BVwG unterlassen habe, in wesentlichen Punkten - nämlich hinsichtlich der individuellen Bedrohung des Mitbeteiligten, die dieser als Fluchtgrund vorgebracht habe - Ermittlungen zu führen, fallbezogene Feststellungen auf Basis einer nachvollziehbaren, den höchstgerichtlichen Leitlinien entsprechenden Beweiswürdigung zu treffen und diese sodann einer entsprechenden rechtlichen Beurteilung zu unterziehen. Der bloße Verweis auf das aufhebende Erkenntnis des VfGH erfülle diese Voraussetzungen nicht. Diese Begründungsmängel seien relevant, weil daraus nicht ersichtlich sei, warum dem Mitbeteiligten der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden sei. Das Erkenntnis des BVwG entziehe sich außerdem einer inhaltlich nachprüfbaren Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof.

12       Die Revision ist aus den vorgebrachten Gründen zulässig. Sie ist auch begründet.

13       Gemäß § 87 Abs. 2 VfGG sind, wenn der VfGH einer Beschwerde stattgegeben hat, die Verwaltungsgerichte und die Verwaltungsbehörden verpflichtet, in der betreffenden Rechtssache mit den ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des VfGH entsprechenden Rechtszustand herzustellen.

14       Auf Grundlage der im § 87 Abs. 2 VfGG statuierten Bindungswirkung war das BVwG somit verhalten, im fortgesetzten Verfahren entsprechend der Rechtsanschauung des VfGH vorzugehen. Da § 87 Abs. 2 VfGG kein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht einräumt, hat der Verwaltungsgerichtshof zu prüfen, ob die vom Verwaltungsgericht im fortgesetzten Verfahren erlassene Entscheidung dem gemäß § 87 Abs. 2 VfGG erteilten Auftrag entspricht. Die normative Grundlage für die Überprüfung der angefochtenen Ersatzentscheidung ist somit neben den anzuwendenden Rechtsvorschriften bezogen auf den konkreten Sachverhalt die Rechtsanschauung des aufhebenden Erkenntnisses des VfGH vor dem Hintergrund des Gebotes der Effektivität des verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes. Bei Prüfung der vom Verwaltungsgericht erlassenen Ersatzentscheidung ist auch der Verwaltungsgerichtshof an die Rechtsauffassung des VfGH gebunden (vgl. etwa VwGH 10.6.2021, Ra 2021/01/0177, mwN).

15       Zur Begründung der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten [Spruchpunkt A) I.] verwies das BVwG ausschließlich auf das Erkenntnis des VfGH. Dieser Verweis in den beweiswürdigenden Erwägungen sowie in der rechtlichen Beurteilung vermag schon deshalb keine Grundlage für den genannten Ausspruch darzustellen, weil der VfGH die - vor dem Hintergrund des konkreten Risikoprofils des Mitbeteiligten durchzuführende - unterlassene Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt beanstandete und aus diesem Grund das bei ihm angefochtene Erkenntnis aufgehoben hat. Das BVwG ist dem nicht nachgekommen, weil es den Inhalt und sohin auch den Umfang der dem Erkenntnis des VfGH innewohnenden Bindungswirkung verkannt hat.

16       Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes zur Gänze aufzuheben, weil mit der Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses im besagten Ausspruch [Spruchpunkt A) I.)] auch die rechtlich davon abhängenden Aussprüche ihre Grundlage verlieren.

Wien, am 21. Juli 2022

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021200476.L00

Im RIS seit

31.10.2022

Zuletzt aktualisiert am

31.10.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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