TE Vwgh Beschluss 2022/10/4 Ra 2022/08/0088

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Veröffentlicht am 04.10.2022
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
40/01 Verwaltungsverfahren
62 Arbeitsmarktverwaltung
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz
66/02 Andere Sozialversicherungsgesetze

Norm

AlVG 1977 §1 Abs1 lita
AlVG 1977 §1 Abs4
AlVG 1977 §12
AlVG 1977 §24
AlVG 1977 §24 Abs2
AlVG 1977 §33 Abs2
AlVG 1977 §38
AlVG 1977 §50 Abs1
AlVG 1977 §7 Abs2
ASVG §4 Abs1 Z1
ASVG §4 Abs2
AVG §37
AVG §38
AVG §59 Abs1
AVG §68 Abs1
VwRallg

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie den Hofrat Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Sasshofer, über die Revision des R S in G, vertreten durch Dr. Stefan Krenn, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Glacisstraße 67, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Mai 2022, G312 2238578-1/12E und G312 2238578-2/10E, betreffend Widerruf und Rückforderung von Arbeitslosengeld und Notstandshilfe (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Arbeitsmarktservice Graz West und Umgebung), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Mit Bescheid vom 20. August 2020 widerrief die regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Graz West und Umgebung (AMS) gemäß § 24 Abs. 2 AlVG die Zuerkennung des Arbeitslosengeldes an den Revisionswerber für im Einzelnen genannte Zeiträume zwischen dem 1. November 2018 und dem 30. Mai 2019 und verpflichtete den Revisionswerber gemäß § 25 Abs. 1 AlVG zur Rückzahlung des unberechtigt empfangenen Arbeitslosengeldes von € 2.800,60.

2        Mit weiterem Bescheid vom 20. August 2020 widerrief das AMS gemäß § 24 Abs. 2 iVm. § 38 AlVG die Zuerkennung der Notstandshilfe an den Revisionswerber für 31. Mai 2019 bis 30. November 2019 und verpflichtete den Revisionswerber gemäß § 25 Abs. 1 iVm. § 38 AlVG zur Rückzahlung der unberechtigt empfangenen Notstandshilfe von € 4.450,96.

3        Mit Beschwerdevorentscheidungen vom 27. November 2020 gab das AMS den Beschwerden des Revisionswerbers keine Folge. Der Revisionswerber stellte Vorlageanträge.

4        Mit dem nunmehr in Revision gezogenen - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergangenen - Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerden des Revisionswerbers als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5        Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht aus, der Revisionswerber sei von 25. August 2018 bis 30. November 2019 durchgehend beim selben Unternehmen als Taxifahrer beschäftigt gewesen. Gegenüber dem AMS habe er das Vorliegen eines geringfügigen Dienstverhältnisses gemeldet. Im November und Dezember 2018 sei sein Verdienst (anders als im Zeitraum davor) aber tatsächlich über der Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 ASVG) gelegen. Die Höhe seines (nunmehr höheren) Arbeitsentgeltes sei dem Revisionswerber bekannt gewesen. Dennoch habe er dieses Entgelt bzw. die Überschreitung der Geringfügigkeitsgrenze dem AMS nicht gemeldet.

6        In den Monaten November und Dezember 2018, in denen der Revisionswerber ein Einkommen über der Geringfügigkeitsgrenze nach § 5 Abs. 2 ASVG erzielt habe, sei daher ein die Arbeitslosigkeit ausschließendes vollversichertes Beschäftigungsverhältnis vorgelegen. Gemäß § 12 Abs. 3 lit. h AlVG schließe auch das daran - ohne Unterbrechung - unmittelbar anschließende geringfügige Beschäftigungsverhältnis beim selben Dienstgeber das Vorliegen von Arbeitslosigkeit aus. Der Zuspruch von Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe sei somit nach § 24 Abs. 2 AlVG zu widerrufen. Da der Revisionswerber seine Meldepflicht verletzt habe, sei der Bezug gemäß § 25 Abs. 1 AlVG zurückzufordern gewesen.

7        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

8        Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

9        Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

10       Zur Zulässigkeit der Revision wird zunächst geltend gemacht, das AMS habe über den Widerruf und die Rückforderung von Arbeitslosengeld und Notstandshilfe entschieden, ohne dass zuvor ein Feststellungsbescheid darüber ergangen sei, ob ein der Vollversicherung unterliegendes Dienstverhältnis vorgelegen sei. Die Frage, ob insoweit ein Feststellungsbescheid zu erlassen sei, gehe über den Einzelfall hinaus. Die von der Österreichischen Gesundheitskasse gegenüber dem AMS erfolgte „Meldung“ eines Überschreitens der Geringfügigkeitsgrenze durch den Revisionswerber sei in einem Verfahren ergangen, in dem der Revisionswerber keine Parteistellung gehabt habe.

11       Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs, dass bei Bestehen eines die Vollversicherung nach § 4 Abs. 1 Z 1 iVm. Abs. 2 ASVG begründenden Beschäftigungsverhältnisses, an welches für die Arbeitslosenversicherungspflicht § 1 Abs. 1 lit. a iVm. Abs. 4 AlVG anknüpft, für den Zeitraum dieser Beschäftigung das Vorliegen von Arbeitslosigkeit ausgeschlossen ist. Wer in einem nicht geringfügig entlohnten vollversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis tätig ist, kann somit schon aus diesem Grunde nicht arbeitslos sein. Bei Vorliegen eines rechtskräftigen, die Versicherungspflicht feststellenden Bescheides ist dieser der Beurteilung zugrunde zu legen und das Vorliegen von Arbeitslosigkeit für den gleichen Zeitraum schon deswegen zu verneinen. Der Bescheid über die Versicherungspflicht stellt insoweit eine Entscheidung über eine Vorfrage gemäß § 38 AVG dar. Fehlt dagegen eine solche rechtskräftige Entscheidung über die Pflichtversicherung, sind im Verfahren nach dem AlVG selbst brauchbare Tatsachenfeststellungen über alle relevanten Umstände der in Frage kommenden Erwerbstätigkeit(en) zu treffen, die eine rechtliche Beurteilung betreffend das Bestehen einer die Arbeitslosigkeit ausschließenden Pflichtversicherung ermöglichen. Eine Bindung an die beim Dachverband (vormals: Hauptverband) der Sozialversicherungsträger tatsächlich geführten Versichertendaten besteht nicht (vgl. VwGH 20.2.2020, Ra 2019/08/0156, mit näherer Begründung und weiteren Hinweisen). Eine gegenteilige bzw. „uneinheitliche“ Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs liegt - entgegen dem Vorbringen in der Revision - insoweit nicht vor. Insbesondere enthält auch das vom Revisionswerber zitierte Erkenntnis vom 11. April 2014, 2013/08/0205, in dem sich der Verwaltungsgerichtshof mit dem - vorliegend nicht maßgeblichen - Rückforderungstatbestand nach § 25 Abs. 1 zweiter Satz AlVG auseinandergesetzt hat, keine widersprechenden Aussagen.

12       Unstrittig lag kein Bescheid über das Bestehen der Vollversicherung des Revisionswerbers nach § 4 Abs. 1 Z 1 iVm. Abs. 2 ASVG im Zeitraum seines Bezugs von Arbeitslosengeld und Notstandshilfe vor. Die Frage, ob durch seine Beschäftigung die Vollversicherung nach § 4 Abs. 1 Z 1 iVm. Abs. 2 ASVG begründet wurde oder der Revisionswerber in einem geringfügigen, die Arbeitslosigkeit nach § 12 Abs. 6 AlVG nicht ausschließenden Beschäftigungsverhältnis stand, war daher im Verfahren vom AMS - bzw. im Beschwerdeverfahren vom Bundesverwaltungsgericht - selbst zu beurteilen.

13       Nach dem Akteninhalt nahm das AMS aufgrund einer Mitteilung des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger Erhebungen über das Überschreiten der Grenze der Geringfügigkeit durch den Revisionswerber auf. Da eine Bindung an diese Mitteilung des Hauptverbandes nicht bestand und auch nicht angenommen wurde, ist entgegen der Revision nicht maßgeblich, ob dem Revisionswerber zuvor eine Möglichkeit zur Äußerung eingeräumt worden ist.

14       In der Revision wird weiters geltend gemacht, es liege keine Rechtsprechung dazu vor, ob in einem Fall wie dem vorliegenden vor einer Entscheidung über den Widerruf der Notstandshilfe zunächst das Vorliegen einer „bestandkräftigen Entscheidung“ hinsichtlich des Widerrufs des unmittelbar zuvor bezogenen Arbeitslosengeldes abzuwarten sei. Davon sei aber auszugehen, weil die Gewährung von Notstandshilfe unter anderem nach § 33 Abs. 1 AlVG voraussetze, dass der Anspruch auf Arbeitslosengeld erschöpft sei.

15       Nach § 24 Abs. 2 AlVG ist die Zuerkennung des Arbeitslosengeldes, wenn diese gesetzlich nicht begründet war, zu widerrufen. Jede gesetzlich nicht begründete Zuerkennung führt daher - unabhängig davon, ob die Gründe für die Gesetzwidrigkeit schon ursprünglich bekannt waren - zum Widerruf der Leistung (vgl. VwGH 14.4.2020, Ro 2016/08/0010, mwN). Nach § 38 AlVG ist § 24 AlVG auf die Notstandshilfe sinngemäß anzuwenden.

16       Ergibt sich also insbesondere, dass mangels Arbeitslosigkeit (§ 12 AlVG) die Voraussetzungen der Notstandshilfe im Sinn von § 33 Abs. 2 iVm. § 7 Abs. 2 AlVG nicht vorlagen, führt dies zum Widerruf der Leistung. Wie bereits ausgeführt, stellt hinsichtlich der Arbeitslosigkeit das Bestehen einer Vollversicherung nach § 4 Abs. 1 Z 1 iVm. Abs. 2 ASVG eine Vorfrage dar. Das Bestehen der Versicherungspflicht ist dabei zeitraumbezogen zu beurteilen und insoweit auch (zeitlich) teilbar (vgl. VwGH 14.11.2012, 2010/08/0029, mwN).

17       Die Entscheidung über den Widerruf der Notstandshilfe war somit vorliegend davon abhängig, ob der Revisionswerber von 31. Mai 2019 bis 20. November 2019 als arbeitslos im Sinn von § 12 AlVG anzusehen war. Für die in der Revision vertretene Ansicht, der Widerruf der Leistung hätte das Vorliegen einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerruf des Arbeitslosengeldes im vorhergehenden Zeitraum erfordert, gibt es keine gesetzliche Grundlage (vgl. im Übrigen dazu, dass das Verwaltungsgericht Vorfragen bis zur rechtskräftigen Entscheidung als Hauptfrage in der Regel selbst beurteilen kann, etwa VwGH 9.12.2020, Ra 2019/08/0019).

18       Weiters wird unter dem Gesichtspunkt der Zulässigkeit der Revision geltend gemacht, der Revisionswerber habe nicht erkannt, dass er im November 2018 ein Entgelt bezogen habe, durch das die Grenze der Geringfügigkeit überschritten worden sei. Sein Entgelt sei in diesem Monat auch bloß um € 80 über der Geringfügigkeitsgrenze gelegen. Es stelle sich die Frage, ab welchem Überschreitungsbetrag davon ausgegangen werden könne, dass eine meldepflichtige Person vorsätzlich handle.

19       Es entspricht der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs, dass der Arbeitslose dem Arbeitsmarktservice eine Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse - wozu neben einer Vereinbarung eines höheren Arbeitsentgeltes auch eine Arbeitszeiterhöhung bzw. die Leistung von Mehrarbeit gehört - auch dann zu melden hat, wenn sie seiner Auffassung nach den Anspruch auf eine Leistung der Arbeitslosenversicherung nicht zu beeinflussen vermag (vgl. VwGH 23.12.2014, Ra 2014/08/0061, mwN).

20       Das Bundesverwaltungsgericht hat im vorliegenden Fall ausdrücklich festgestellt, dass dem Revisionswerber die Höhe seines (gegenüber den Vormonaten erhöhten) Arbeitsentgelts im November und Dezember 2018 bekannt war. Soweit die Revision dies - ohne darzutun, dass die dazu vorgenommene Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts unvertretbar gewesen wäre - in Frage stellt, geht sie nicht vom festgestellten Sachverhalt aus. Eine fallbezogene Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung wird daher schon deshalb insoweit nicht aufgezeigt (vgl. VwGH 11.3.2022, Ra 2021/08/0071, mwN).

21       In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.

Wien, am 4. Oktober 2022

Schlagworte

Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtswirkungen von Bescheiden Rechtskraft VwRallg9/3 Rechtskraft Umfang der Rechtskraftwirkung Allgemein Bindung der Behörde Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Rechtliche Beurteilung Trennbarkeit gesonderter Abspruch

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022080088.L00

Im RIS seit

27.10.2022

Zuletzt aktualisiert am

27.10.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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