TE Vwgh Erkenntnis 2022/9/27 Ra 2021/01/0305

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Veröffentlicht am 27.09.2022
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Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer und die Hofräte Dr. Fasching sowie Mag. Brandl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Röder, über die Revision des E N in B, vertreten durch Mag. Taner Önal, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Sackstraße 21/II, als bestellter Verfahrenshelfer, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Juli 2021, Zl. W253 2153891-1/27E, in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. August 2021, Zl. W253 2153891-1/29E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird im Umfang seines angefochtenen Spruchpunktes A) I. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgericht) den Antrag des Revisionswerbers, eines afghanischen Staatsangehörigen, auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt A I.), erkannte im Übrigen dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu, erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt A II.) und sprach u.a. aus, dass die Revision nicht zulässig sei (Spruchpunkt B).

2        Mit Beschluss vom 19. August 2021 berichtigte das Verwaltungsgericht Spruchpunkt A) II. des angefochtenen Erkenntnisses durch Richtigstellung des darin angeführten Namens des Revisionswerbers.

3        Begründend führte das Verwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis in Bezug auf den im vorliegenden Revisionsverfahren allein wesentlichen Ausspruch über den Antrag auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zusammengefasst aus, es könne nicht festgestellt werden, ob der Revisionswerber sich zu einem religiösen Glauben bekenne, und wenn ja, zu welchem. Der Revisionswerber leide an einer massiven psychischen Beeinträchtigung (polymorphe psychotische Störung mit Symptomen einer Schizophrenie) ohne Möglichkeit, einfachste Dinge des alltäglichen Lebens alleine bestreiten zu können.

Eine Verfolgung in Afghanistan habe der Revisionswerber „im Laufe des Verfahrens - nicht zuletzt aufgrund seiner psychischen Beeinträchtigung - nicht glaubhaft machen“ können. Der Revisionswerber verfüge in Afghanistan über keine familiären oder sonstigen Anknüpfungspunkte, die ihm eine Unterstützung bei seiner Rückkehr zukommen lassen könnten.

Körperlich und geistig Behinderte müssten in Afghanistan eine starke familiäre und gesellschaftliche Unterstützung „sicherstellen“. Die Behandlung psychischer Erkrankungen finde, abgesehen von einzelnen Projekten von NGO, nach wie vor nicht im ausreichendem Maße statt. Patienten würden in Afghanistan in psychiatrischen Krankenhäusern nur in Begleitung eines Verwandten in stationäre Behandlung aufgenommen, weshalb Personen ohne Angehörige selbst in Notfällen in psychiatrischen Krankenhäusern nicht stationär aufgenommen würden. Neben Problemen beim Zugang zu Behandlungen bei psychischen Erkrankungen bzw. dem Mangel an spezialisierter Gesundheitsversorgung seien falsche Vorstellungen der Bevölkerung über psychische Erkrankungen ein wesentliches Problem. Psychische Erkrankungen seien in Afghanistan hoch stigmatisiert.

Da es dem Revisionswerber - „nicht zuletzt wegen seiner massiven psychischen Erkrankung und den damit verbundenen Symptomen, wie auch einer fehlenden Einvernahmefähigkeit“ - nicht gelungen sei, „eine aktuelle, persönlich gegen ihn gerichtete asylrelevante Verfolgung oder Bedrohung in seinem Heimatstaat Afghanistan glaubhaft zu machen“, sei der Antrag auf Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten abzuweisen gewesen.

Den Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision begründete das Verwaltungsgericht damit, dass es sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf die ständige Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage habe stützen können, weshalb die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung abhänge.

4        Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Die belangte Behörde erstattete in dem vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

5        Die Revision ist in Bezug auf ihr Zulässigkeitsvorbringen, wonach sich das Verwaltungsgericht nicht mit dem im Beschwerdeverfahren ergänzend erstatteten Vorbringen betreffend eine aufgrund der psychischen Erkrankung des Revisionswerbers in Kombination mit seinem objektiv erkennbaren, auffälligen Verhalten mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bestehende asylrelevante Verfolgungsgefahr des Revisionswerbers auseinandergesetzt habe und dadurch fallbezogen von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen sei, zulässig und auch begründet.

6        Der Revisionswerber brachte im Beschwerdeverfahren ergänzend vor, ihm drohe aufgrund seiner schweren psychischen Krankheit, deren Behandlung in Afghanistan nicht in ausreichendem Maße gewährleistet sei und aufgrund derer er im Alltag sehr verwirrt sei und ständiger Betreuung bedürfe, in Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung, zumal sich aus Länderberichten ergebe, dass insbesonders alleinstehende, psychisch Erkrankte in Afghanistan höchst stigmatisiert und Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt seien. Hinsichtlich Menschen mit einer psychischen Erkrankung sei in Afghanistan der „Konventionsgrund der sozialen Gruppe“ anwendbar.

7        Mit dem vom Revisionswerber somit geltend gemachten Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, konkret zu der sozialen Gruppe psychisch Erkrankter in Afghanistan, hat sich das Verwaltungsgericht nicht auseinandergesetzt, insbesondere dazu keine Feststellungen getroffen.

8        Unter „Verfolgung“ iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als „Verfolgung“ iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche Maßnahmen, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. Art. 9 Abs. 1 der Statusrichtlinie).

9        Die Asylgewährung setzt einen kausalen Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen voraus.

10       Bei der „sozialen Gruppe“ handelt es sich um einen Auffangtatbestand. Ausgehend von Art. 10 Abs. 1 lit. d der Statusrichtlinie und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (vgl. EuGH 7.11.2013, X u.a., C-199/12 bis C-121/12, Rn. 45; 4.10.2018, Ahmedbekova, C-652/16, Rn. 89) gilt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine Gruppe als eine „bestimmte soziale Gruppe“, wenn zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind: Zum einen müssen die Mitglieder der Gruppe „angeborene Merkmale“ oder einen „Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, „die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“. Zum anderen muss diese Gruppe in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Um das Vorliegen einer Verfolgung aus dem Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe beurteilen zu können, bedarf es daher Feststellungen sowohl zu den Merkmalen und zur abgegrenzten Identität dieser Gruppe als auch zum kausalen Zusammenhang mit der Verfolgung. Unter Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe wird eine Repression verstanden, die nur Personen trifft, die sich durch ein gemeinsames soziales Merkmal auszeichnen, die also nicht verfolgt würden, wenn sie dieses Merkmal nicht hätten. Nach herrschender Auffassung kann eine soziale Gruppe aber nicht ausschließlich dadurch definiert werden, dass sie Zielscheibe von Verfolgung ist (vgl. zu alldem VwGH 26.4.2021, Ra 2020/01/0025, Rn. 14 bis 16, mwN).

11       Da sich das Verwaltungsgericht nicht mit dem ergänzenden Vorbringen des Revisionswerbers zum Konventionsgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe psychisch Erkrankter auseinandergesetzt hat, fehlen gemäß der dargelegten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs entsprechende Feststellungen.

12       Angesichts dieses Begründungsmangels belastete das Verwaltungsgericht das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.

13       Soweit die Revision in Bezug auf das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers der Verfolgung aus religiösen Gründen zusammengefasst vorbringt, das Verwaltungsgericht habe es verabsäumt, das diesbezügliche Vorbringen des Revisionswerbers vor der belangten Behörde sowie in der Beschwerde zu beurteilen, und es habe sich lediglich damit begnügt, auf die mangelnde Einvernahmefähigkeit des Revisionswerbers zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zu verweisen, wendet sie sich gegen die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts.

14       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes soll sich das Revisionsmodell nach dem Willen des Verfassungsgesetzgebers an der Revision nach den §§ 500 ff ZPO orientieren (vgl. ErläutRV 1618 BlgNR 24. GP 16). Ausgehend davon ist der Verwaltungsgerichtshof als Rechtsinstanz tätig, zur Überprüfung der Beweiswürdigung ist er im Allgemeinen nicht berufen. Auch kann einer Rechtsfrage nur dann grundsätzliche Bedeutung zukommen, wenn sie über den konkreten Einzelfall hinaus Bedeutung besitzt. Eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. für viele VwGH 30.3.2022, Ra 2021/01/0281, mwN). Eine derart krasse Fehlbeurteilung zeigt die Revision in Bezug auf die Feststellungen zur mangelnden Verfolgungsgefahr aus religiösen Gründen nicht auf.

15       Angesichts des Begründungsmangels zum geltend gemachten Fluchtgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der psychisch Erkrankten in Afghanistan war das angefochtene Erkenntnis in dem im Spruch genannten Umfang wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und lit. c VwGG aufzuheben.

16       Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.

17       Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 27. September 2022

Schlagworte

Auswertung in Arbeit!

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021010305.L00

Im RIS seit

24.10.2022

Zuletzt aktualisiert am

24.10.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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