TE Vwgh Erkenntnis 2022/9/1 Ra 2021/21/0113

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 01.09.2022
beobachten
merken

Index

Auswertung in Arbeit!

Norm

Auswertung in Arbeit!

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision des Z K, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Singerstraße 6/5, gegen das am 11. Jänner 2021 mündlich verkündete und am 16. Februar 2021 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, W117 2238386-1/15E, betreffend Festnahme und Schubhaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

I. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird zurückgewiesen, soweit sie sich gegen die Abweisung der Beschwerde im Hinblick auf die Festnahme gemäß § 34 Abs. 3 Z 1 iVm § 40 Abs. 1 Z 1 BFA-VG richtet.

II. zu Recht erkannt:

Spruch

Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Über den Revisionswerber, der nach seinen Angaben staatenlos ist und aus dem Libanon stammt und gegen den im Rahmen eines erfolglosen Asylverfahrens eine rechtskräftige Rückkehrentscheidung erlassen worden war, wurde nach seiner Festnahme gemäß § 34 Abs. 3 Z 1 iVm § 40 Abs. 1 Z 1 BFA-VG mit sogleich in Vollzug gesetztem Mandatsbescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 30. Dezember 2020 gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung der Abschiebung angeordnet.

2        Mit dem angefochtenen, in der mündlichen Verhandlung am 11. Jänner 2021 verkündeten und mit 16. Februar 2021 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die gegen die Festnahme und die Anhaltung in Schubhaft seit 30. Dezember 2020 erhobene Beschwerde als unbegründet ab, stellte fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen, und traf diesem Verfahrensergebnis entsprechende Kostenaussprüche. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

3        Begründend stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, dass der Revisionswerber, der bereits strafgerichtlich in Erscheinung getreten sei (Verurteilung im Jahr 2016 zu einer bedingten Freiheitsstrafe von fünf Monaten wegen Nötigung und Freiheitsentziehung), seiner Verpflichtung, ein Telefoninterview mit der libanesischen Botschaft zum Zweck der Identifizierung und zur Beschaffung eines Heimreisezertifikates zu führen, im Juni 2020 zwei Mal nicht nachgekommen sei: Bei einem Termin am 4. Juni 2020 habe er sich am selben Tag krank gemeldet, zum Termin am 30. Juni 2020 sei er ohne vorherige Absage nicht erschienen. Ein weiterer Termin sei für den 16. Juli 2020 anberaumt worden. Der zu diesem Zweck ergangene Festnahmeauftrag habe jedoch „wegen unsteten Aufenthalts“ des Revisionswerbers nicht vollzogen werden können und der Termin sei abermals storniert worden. Es sei daher ein weiterer Festnahmeauftrag „ausgeschrieben“ worden, der dann am 30. Dezember 2020 vollzogen worden sei. Nachdem der Revisionswerber an diesem Tag von seiner Lebensgefährtin vom Vorstelligwerden der Sicherheitsorgane informiert worden sei, habe er sich erst am späten Nachmittag freiwillig zur Polizei begeben. Bei der Schubhafteinvernahme am selben Tag habe der Revisionswerber Selbstgefährdungsgedanken geäußert, um der Schubhaft sowie der drohenden Abschiebung zu entgehen.

4        In seiner rechtlichen Beurteilung ging das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass angesichts des bisherigen Verhaltens des Revisionswerbers, insbesondere aufgrund der Nichtwahrnehmung behördlicher Termine zum Zweck der Identifizierung, der Nichtbefolgung einer Ladung, der Nichtbefolgung der Ausreiseverpflichtung und der „strafrelevanten und Selbstgefährdungshandlungen“ (wobei auch auf einen Versuch des „Suicide by Cop“ im Juli 2019 Bezug genommen wurde), die Fluchtgefahrtatbestände der Z 1, 1a, 3 und 9 des § 76 Abs. 3 FPG erfüllt seien. Aufgrund der „bestehenden, erheblichen Fluchtgefahr“ habe „die Verwaltungsbehörde zu Recht kein gelinderes Mittel in Erwägung gezogen“. Auch die Verhältnismäßigkeit der Schubhaft sei zu bejahen.

5        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:

6        Gegen die Abweisung der Beschwerde im Hinblick auf die Festnahme gemäß § 34 Abs. 3 Z 1 iVm § 40 Abs. 1 Z 1 BFA-VG enthält die Revision keinerlei Vorbringen. Insoweit war sie daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG mangels Darlegung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zurückzuweisen.

7        Im Übrigen ist die Revision aber zulässig und berechtigt, weil sich das Bundesverwaltungsgericht - wie in der Zulässigkeitsbegründung der Revision unter anderem geltend gemacht wird - nicht ausreichend mit der Möglichkeit der Verhängung eines gelinderen Mittels auseinandergesetzt hat.

8        Dem BFA und dem Bundesverwaltungsgericht kann zwar nicht entgegen getreten werden, wenn insbesondere auf Grund der mehrfachen Versäumung von Terminen zur Durchsetzung der Ausreiseverpflichtung des Revisionswerbers nach dem bereits im Jahr 2018 erfolgten rechtskräftigen negativen Abschluss seines Asylverfahrens Fluchtgefahr im Sinn des § 76 Abs. 3 FPG angenommen wurde. Der Revisionswerber hatte aber schon in seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA vorgebracht, dass er über eine langjährige, näher bezeichnete Meldeadresse verfüge, die er entgegen dem Vorhalt des BFA auch nicht aufgegeben habe (und an der am Tag der Festnahme seine Lebensgefährtin angetroffen wurde, die ihn darüber informierte, dass er bei der Polizei erscheinen müsse). In der Beschwerde legte der Revisionswerber näher dar, dass er an dieser Adresse mit seiner österreichischen Lebensgefährtin wohne, und er betonte, dass er sich nach deren Mitteilung, wonach die Polizei ihn suche, freiwillig bei der Polizeiinspektion gemeldet habe.

9        Vor diesem Hintergrund lag auf der Hand, dass die Verhängung eines gelinderen Mittels anstelle der Schubhaft zu prüfen gewesen wäre. Schubhaft darf nämlich stets nur „ultima ratio“ sein, sodass ihre Verhängung zu unterbleiben hat, wenn das zu sichernde Ziel auch durch die Anwendung gelinderer Mittel erreicht werden kann (vgl. etwa VwGH 15.12.2020, Ra 2020/21/0090, Rn. 15, mwN).

10       Im Schubhaftbescheid des BFA finden sich dazu allerdings nur Stehsätze ohne nachvollziehbare Bezugnahme auf die konkrete Situation des Revisionswerbers. Das Bundesverwaltungsgericht beschränkte sich diesbezüglich auf die Bemerkung, dass das BFA „auf Grund der bestehenden, erheblichen Fluchtgefahr“ zu Recht kein gelinderes Mittel in Erwägung gezogen habe. Das gelte auch für die Fortsetzung der Anhaltung.

11       Es bedarf zwar umso weniger einer Begründung für die Nichtanwendung gelinderer Mittel, je mehr das Erfordernis, die Effektivität der Abschiebung zu sichern, auf der Hand liegt. Umgekehrt ist das Begründungserfordernis aber größer, wenn die Anordnung gelinderer Mittel naheliegt. Das ist insbesondere beim Vorliegen von gegen ein Untertauchen sprechenden Umständen, wie familiäre Bindungen oder Krankheit, der Fall und wird weiters auch regelmäßig bei Bestehen eines festen Wohnsitzes oder ausreichender beruflicher Bindungen zu unterstellen sein (vgl. VwGH 2.8.2013, 2013/21/0008, Punkt 5.3.4. der Entscheidungsgründe, und darauf Bezug nehmend aus der letzten Zeit etwa VwGH 19.11.2020, Ra 2020/21/0264, Rn 18).

12       Im vorliegenden Fall wurden keine Umstände festgestellt, die ein erhöhtes Bedürfnis an der Sicherung der Abschiebung begründet hätten. Das Bundesverwaltungsgericht hat zwar einen Versuch des „Suicide by Cop“ im Juli 2019 (mit anschließender stationärer Aufnahme in einer psychiatrischen Abteilung) sowie die Äußerung von Selbstmordabsichten bei der Einvernahme vor der gegenständlichen Schubhaftverhängung als gegen den Revisionswerber sprechend ins Treffen geführt. Inwieweit daraus ein verstärkter Sicherungsbedarf abzuleiten wäre, ist allerdings nicht ersichtlich. Die potentielle Suizidalität (auf die bereits im Festnahmeauftrag vom 16. Juli 2020 hingewiesen worden war) hätte vielmehr - nach Abklärung, ob sie aktuell tatsächlich gegeben war - tendenziell gegen die Verhältnismäßigkeit der Schubhaft und für die Verhängung eines gelinderen Mittels sprechen können, die schon im Hinblick auf den festen Wohnsitz des Revisionswerbers nahelag.

13       Da das Bundeverwaltungsgericht in Verkennung der Rechtslage weder den dem Schubhaftbescheid anhaftenden Begründungsmangel aufgegriffen hat noch selbst nachvollziehbar das Nichtausreichen eines gelinderen Mittels begründet hat, ist das angefochtene Erkenntnis insoweit mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, was auch auf die Kostenentscheidung durchschlägt (vgl. im Übrigen dazu, dass es sich bei der Festnahme und der darauf folgenden Anhaltung in Schubhaft um zwei getrennte Verwaltungsakte handelt, weshalb ein Anspruch auf Kostenersatz im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht bereits dann besteht, wenn die Beschwerde mit der Bekämpfung nur eines dieser Akte erfolgreich ist, VwGH 31.8.2017, Ro 2016/21/0014, Rn. 23 ff). Das angefochtene Erkenntnis war daher - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - in dem im Spruch ersichtlichen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

14       Von der in der Revision beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 1 und 4 VwGG abgesehen werden.

15       Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 1. September 2022

Schlagworte

Auswertung in Arbeit!

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021210113.L00

Im RIS seit

29.09.2022

Zuletzt aktualisiert am

29.09.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten