TE Vwgh Beschluss 2022/8/25 Ra 2021/19/0442

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Veröffentlicht am 25.08.2022
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Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das am 14. September 2021 mündlich verkündete und mit 14. Oktober 2021 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, W170 2206943-1/30E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: F M, vertreten durch die Marschall & Heinz Rechtsanwalts-Kommanditpartnerschaft in 1010 Wien, Goldschmiedgasse 8), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Der Bund hat der Mitbeteiligten Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

1        Die 1961 geborene Mitbeteiligte, eine syrische Staatsangehörige der kurdischen Volksgruppe, stellte am 27. Juni 2018 einen Antrag auf internationalen Schutz, den sie mit dem Krieg in Syrien und der Entführung ihres seither verschwundenen Ehemannes sowie ferner damit begründete, Angst zu haben, getötet zu werden.

2        Mit Bescheid vom 31. August 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte der Mitbeteiligten jedoch den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihr eine bis zum 31. August 2019 befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.).

3        Mit dem am 14. September 2021 mündlich verkündeten und mit 14. Oktober 2021 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) der gegen Spruchpunkt I. des Bescheides erhobenen Beschwerde der Mitbeteiligten nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung statt, erkannte der Mitbeteiligten den Status der Asylberechtigten zu und stellte fest, dass ihr damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme (Spruchpunkt A.). Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das BVwG für nicht zulässig (Spruchpunkt B.).

4        Begründend ging das BVwG davon aus, dass die Mitbeteiligte in der Nähe der Stadt Afrin im Gouvernement Aleppo gelebt habe, und verwies auf Länderberichte, denen zufolge in den von der Türkei und ihren verbündeten Milizen kontrollierten Gebieten versucht werde, Angehörige der kurdischen Volksgruppe unter Einsatz von Gewalt zu „marginalisieren“, um Wohn- und Lebensraum für arabische Sympathisanten zu gewinnen. Seit März 2018 werde der Distrikt Afrin von türkischen Kräften und ihren Verbündeten kontrolliert. Es sei daher glaubhaft, dass sich die Mitbeteiligte als Angehörige der kurdischen Volksgruppe davor fürchte, in ein solches Gebiet zurückzukehren, und dass sie in Afrin auf Grund ihrer ethnischen Herkunft verfolgt werden würde.

5        Die gegen dieses Erkenntnis gerichtete Revision des BFA erweist sich als unzulässig.

6        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

7        Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen. Ein solcher Beschluss ist gemäß § 34 Abs. 3 VwGG in jeder Lage des Verfahrens zu fassen.

8        Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

9        Zu ihrer Zulässigkeit bringt die Revision vor, das BVwG habe seine Entscheidung mit der Verfolgung der Mitbeteiligten als Angehörige der kurdischen Volksgruppe begründet, obwohl die Mitbeteiligte im gesamten Verfahren nicht vorgebracht habe, nur aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit von den von der Türkei unterstützten Gruppierungen verfolgt zu werden. Die Beurteilung eines Fluchtvorbringens, das ein Antragsteller im Asylverfahren nicht erstattet habe, begründe die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Erkenntnisses wegen Aktenwidrigkeit.

10       Dieser Vorwurf trifft jedoch nicht zu: In der mündlichen Verhandlung gab die Mitbeteiligte auf die Frage nach Kontakten zu in Afrin lebenden Verwandten an, dass alle Verwandten „zuerst wegen dem Krieg und dann wegen der Türken und mit diesen verbündeten Milizen“ geflüchtet seien, um gemäß dem Verhandlungsprotokoll auf Nachfrage Folgendes auszuführen (Fehler im Original):

„...Es ist wegen des Krieges und weil die Türken und ihre Verbündeten die Kurden verfolgt haben bzw. vertrieben haben, zu meiner Flucht und zur Flucht meiner Verwandten gekommen.“

11       Die Mitbeteiligte verwies somit ausdrücklich auf Verfolgungshandlungen gegen Angehörige der kurdischen Volksgruppe und begründete damit auch ihre eigene Flucht aus dem Herkunftsstaat. Dass die Mitbeteiligte eine gegen Kurden gerichtete ethnische Verfolgung im gesamten Verfahren nicht vorgebracht hätte, kann daher nicht gesagt werden.

12       Ferner bringt die Revision unter Berufung auf die Entscheidung VwGH 30.4.2021, Ra 2021/19/0024, zur Zulässigkeit vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es angenommen habe, dass Afrin die Heimatregion der Mitbeteiligten sei, obwohl diese implizit angegeben habe, den Großteil ihres Lebens in Aleppo verbracht zu haben und von dort vertrieben worden zu sein, ohne in Afrin Fuß gefasst zu haben. Letzteres gehe aus den Angaben der Mitbeteiligten in der Verhandlung über ihre ständige Angst vor Entführungen und Vergewaltigungen hervor. Die Feststellung, dass die Mitbeteiligte in von der Türkei kontrollierten Gebieten einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt sei, könne die Zuerkennung von Asyl im Hinblick auf das unter Kontrolle des syrischen Regimes stehende Aleppo jedoch nicht begründen. Das BVwG hätte sich mit der Frage auseinandersetzen müssen, wo sich die Heimatregion der Mitbeteiligten befinde und über welche Bindungen sie zu Afrin und zu Aleppo Stadt verfüge.

13       Dazu ist zunächst auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach in Fällen, in denen Asylwerber nicht auf Grund eines eigenen Entschlusses, sondern unter Zwang auf Grund einer Vertreibung ihren dauernden Aufenthaltsort innerhalb des Herkunftsstaates gewechselt hatten und an dem neuen Aufenthaltsort nicht Fuß fassen konnten (Zustand innerer Vertreibung), der ursprüngliche Aufenthaltsort als Heimatregion anzusehen sei (vgl. etwa VwGH 25.5.2020, Ra 2019/19/0192, mwN). Die Bestimmung der Heimatregion des Asylwerbers ist Grundlage für die Prüfung, ob dem Asylwerber dort mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgung droht und ob ihm - sollte dies der Fall sein - im Herkunftsstaat außerhalb der Heimatregion eine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht.

14       Zur Bestimmung der Heimatregion kommt in diesem Sinn der Frage maßgebliche Bedeutung zu, wie stark die Bindungen des Asylwerbers an ein bestimmtes Gebiet sind. Hat er vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsland nicht mehr in dem Gebiet gelebt, in dem er geboren wurde und aufgewachsen ist, ist der neue Aufenthaltsort als Heimatregion anzusehen, soweit der Asylwerber zu diesem Gebiet enge Bindungen entwickelt hat (vgl. erneut VwGH Ra 2019/19/0192, mwN).

15       Wie in der Revision zutreffend ausgeführt wird, lebte die Mitbeteiligte eigenen Angaben zufolge seit ihrer Eheschließung 1982 in Aleppo Stadt, bevor sie zu Kriegsbeginn mit ihrem Ehemann nach Afrin zog. Der Zeitraum ihres Aufenthaltes in Aleppo Stadt wird allerdings dadurch relativiert, dass die Mitbeteiligte (ebenfalls nach ihren eigenen Angaben) seit der Geburt bis zur Eheschließung in Afrin gelebt hatte. Dies unterscheidet auch den vorliegenden Fall von jenem, der dem in der Revision zitierten Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 30. April 2021, Ra 2021/19/0024, zugrunde lag. Der langjährige Aufenthalt von klein auf in einem Dorf nahe Afrin schlägt sich auch darin nieder, dass die Mitbeteiligte in der Verhandlung ihre Übersiedelung von Aleppo nach Afrin wegen des Krieges als Rückkehr in ihr Heimatdorf darstellte (S. 5 und 7 der Verhandlungsniederschrift) und in der Beschwerde Afrin als Heimatstadt bezeichnete. Die Annahme der Revision, die Mitbeteiligte habe in Afrin nicht Fuß fassen können, lässt sich auch nicht auf die in der Revision ins Treffen geführten Angaben der Mitbeteiligten in der Verhandlung stützen. Diese beziehen sich auf den Zeitraum seit der Eroberung Afrins durch die türkischen Truppen im März 2018, als die Mitbeteiligte bereits wieder mehrere Jahre dort gelebt hatte.

16       Unter Berücksichtigung all dieser Umstände ist es fallbezogen nicht zu beanstanden, dass das BVwG von engen Bindungen der Mitbeteiligten zu Afrin ausgegangen ist und damit Afrin als deren Heimatregion angenommen hat.

17       In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher - nach Durchführung des Vorverfahrens, in der die Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattet hat - gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG mit Beschluss zurückzuweisen.

18       Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Das auf den Ersatz eines ERV-Erhöhungsbeitrages in Höhe von € 2,10 und einer Eingabegebühr gerichtete Mehrbegehren der Mitbeteiligten war abzuweisen, weil in der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014 ein Zuschlag für eine im Weg des elektronischen Rechtsverkehrs erfolgte Einbringung von Schriftsätzen nicht vorgesehen ist und eine Eingabegebühr für die Mitbeteiligte nicht angefallen ist (vgl. VwGH 2.8.2018, Ra 2018/19/0136).

Wien, am 25. August 2022

Schlagworte

Auswertung in Arbeit!

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021190442.L00

Im RIS seit

26.09.2022

Zuletzt aktualisiert am

26.09.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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