TE Vwgh Beschluss 2022/5/5 Ra 2021/21/0274

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Veröffentlicht am 05.05.2022
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
B-VG Art133 Abs4
FrPolG 2005 §41
FrPolG 2005 §41 Abs3
VwGG §34 Abs1
VwRallg

Beachte


Serie (erledigt im gleichen Sinn):
Ra 2022/21/0074 B 19.05.2022

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision der Landespolizeidirektion Steiermark gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Steiermark vom 1. Juli 2021, LVwG 20.3-2725/2020-86, betreffend insbesondere Zurückweisung gemäß § 41 FPG (mitbeteiligte Partei: A (auch: D) N, vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Burggasse 116), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Mit dem angefochtenen Erkenntnis stellte das Landesverwaltungsgericht Steiermark (im Folgenden: LVwG) über Beschwerde des Mitbeteiligten, eines marokkanischen Staatsangehörigen, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung fest, dass die Zurückweisung des Mitbeteiligten am 28. September 2020 um 17:15 Uhr an der Grenzübergangsstelle Sicheldorf durch ein (gemäß § 3 Abs. 1 FPG für die Landespolizeidirektion Steiermark - im Folgenden: LPD - tätiges) Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes rechtswidrig gewesen sei (Spruchpunkt A.). Mit Spruchpunkt B. wurde festgestellt, dass das völlige Entkleiden des Mitbeteiligten im Rahmen von dessen Durchsuchung am 28. September 2020 ebenfalls rechtswidrig gewesen sei. Mit Spruchpunkt C. wurde der Bund zum Aufwandersatz an den Mitbeteiligten verpflichtet.

2        Das LVwG stellte zusammengefasst fest, dass der Mitbeteiligte in den frühen Morgenstunden des 28. September 2020 in einer Gruppe mit weiteren Personen von Slowenien kommend die grüne Grenze überschritten habe. Aufgrund einer Anzeige einer Zivilperson sei von Sicherheitsorganen Nachschau gehalten und die Gruppe einschließlich des Mitbeteiligten in einem ca. 3,5 km von der Staatsgrenze entfernten Maisacker aufgegriffen und in weiterer Folge mit dem Polizeitransporter zur Grenzkontrollstelle Sicheldorf gebracht worden. Während der Fahrt zur Grenzkontrollstelle hätten die aufgegriffenen Personen versucht, durch die Verwendung des Wortes „Asyl“ auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen, was von den beiden vorne im Fahrzeug sitzenden, sich unterhaltenden Polizisten jedoch nicht wahrgenommen worden sei. In der Grenzkontrollstelle angekommen, seien die aufgegriffenen Personen einschließlich des Mitbeteiligten aufgefordert worden, sich vollständig auszuziehen; sie hätten sich in diesem Zustand um die eigene Achse drehen sowie teilweise niederknien müssen, um etwaige versteckte Gegenstände im Afterbereich entdecken zu können. Nach der Untersuchung sei der Mitbeteiligte erkennungsdienstlich behandelt worden, indem Fotos gemacht und Fingerabdrücke genommen worden seien. Da die aufgegriffenen Personen keine Ausweispapiere mitgehabt hätten, seien die anwesenden Sicherheitsorgane übereingekommen, dass eine Zurückweisung durchgeführt werden solle. Der Mitbeteiligte sei aufgefordert worden, auf einem Formular den Namen und das Geburtsdatum aufzuschreiben. Zwischen den einzelnen Handlungen habe er immer wieder das Wort „Asyl“ geäußert, jedoch sei keine Reaktion der Sicherheitsorgane erfolgt. Auch als der Mitbeteiligte mit den anderen Personen in einem verschlossenen Raum mit Sitzgelegenheit gewartet habe, hätten er und andere Personen der Gruppe das Wort „Asyl“ geäußert, ohne dass eine Reaktion der Sicherheitsorgane erfolgt sei. Der Mitbeteiligte sei während der Amtshandlung befragt worden, woher er komme und ob er Reisedokumente bzw. Identitätsdokumente bei sich habe, jedoch nicht, was er in Österreich wolle bzw. warum er die grüne Grenze überschritten habe. Das mehrmals geäußerte, hörbare Verlangen nach Asyl sei negiert worden. Nach Aushändigen des Einreiseverweigerungsformblattes sei der Mitbeteiligte an der Grenzübergangsstelle Sicheldorf um 17:15 Uhr den slowenischen Beamten übergeben worden. In weiterer Folge sei eine Übergabe an die kroatische Polizei erfolgt, die den Mitbeteiligten wiederum nach Bosnien und Herzegowina verbracht habe, wo er sich derzeit vermutlich aufhalte.

3        Beweiswürdigend führte das LVwG aus, dass es aufgrund der vom Rechtsvertreter des Mitbeteiligten zur Verfügung gestellten schriftlichen Gesprächsaufzeichnungen des Mitbeteiligten (vom 4. und 21. Oktober 2020) sowie weiterer Mitglieder der Gruppe (vom 1. Oktober 2020 und vom 20. Februar 2021) und der vom Mitbeteiligten sowie einer weiteren Person aus der Gruppe jeweils mittels Videotelefonie aufgenommenen Aussagen (vom 15. Jänner 2021 bzw. 8. März 2021) davon ausgehe, dass der Mitbeteiligte (und die weiteren Personen der Gruppe) während der Amtshandlung mehrmals hörbar das Wort „Asyl“ verwendet hätten. Zwar habe kein Sicherheitsorgan angegeben, das Wort „Asyl“ gehört zu haben. Es habe aber auch kein Sicherheitsorgan angegeben, den Mitbeteiligten bzw. die anderen Personen befragt zu haben, warum sie nach Österreich gekommen seien. Es sei glaubwürdig, dass der Mitbeteiligte in Anbetracht einer möglichen Zurückweisung nach Slowenien sein Verlangen nach Asyl in hörbarer Weise kundgetan habe und dieses Verlangen offensichtlich von den Sicherheitsorganen negiert worden sei. Die geäußerte Vermutung mehrerer vom LVwG einvernommener Sicherheitsorgane, dass die aufgegriffenen Personen durch das Bundesgebiet durchreisen hätten wollen, entbehre jeglicher Grundlage, zumal nicht die Frage gestellt worden sei, zu welchem Zweck sie in das Bundesgebiet gekommen seien. Der Schluss aus dem Umstand, dass andere aufgegriffene Personen sich damit verantwortet hätten, dass sie nach Deutschland oder Spanien wollten, stelle ein „Vorurteil“ dar.

4        Rechtlich folgerte das LVwG, ausgehend davon, dass der Mitbeteiligte gegenüber den Sicherheitsorganen mehrmals das Wort „Asyl“ verwendet habe, sei ihm gemäß § 12 Abs. 1 AsylG 2005 faktischer Abschiebeschutz zugekommen, sodass er nicht mehr (gemäß § 41 FPG) zurückgewiesen werden hätte dürfen. Im Übrigen reiche es nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (Hinweis auf VwGH 14.11.2017, Ra 2017/21/0018, 0019) für die Rechtmäßigkeit der Zurückweisung nicht aus, wenn das Sicherheitsorgan „von sich aus oder im Falle von Unklarheiten“ davon ausgehe, dass kein Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden sei; vielmehr habe sich das Sicherheitsorgan zu vergewissern, ob ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt werde. Im konkreten Fall sei durch die Verwendung des Wortes „Asyl“ jedoch ohnedies keine Unklarheit geschaffen worden. Die geschilderte Vorgangsweise der einvernommenen Sicherheitsorgane habe beim Gericht den Eindruck entstehen lassen, dass die Methode der „Push-backs“ des Öfteren Anwendung finde. Dies ergebe sich daraus, dass ohne zu fragen davon ausgegangen werde, dass die Personen durchreisen wollten, und die Entscheidung zur Zurückweisung im „Meinungsaustausch“ sämtlicher an der Grenzübergangsstelle anwesenden Sicherheitsorgane getroffen worden sei. Die Zurückweisung des Mitbeteiligten am 28. September 2020 sei „in gröblicher Außerachtlassung des faktischen Abschiebeschutzes“ rechtswidrig gewesen.

5        Hinsichtlich der Durchsuchung kam das LVwG zum Ergebnis, dass der Zwang zum vollständigen Entkleiden und Niederknien unverhältnismäßig gewesen sei, weil sich der Mitbeteiligte weder aggressiv verhalten habe noch ein Indiz für das Mitführen eines gefährlichen Gegenstandes vorgelegen sei. Durch die Art und Weise der Personendurchsuchung sei in unzulässiger Weise in die Intimsphäre des Mitbeteiligten eingegriffen worden. Die räumlichen Rahmenbedingungen - die Durchsuchung sei in einer vom Gang einsehbaren Nische durchgeführt worden - hätten es auch nicht ausgeschlossen, dass andere Sicherheitsorgane bei der Durchsuchung zuschauten.

6        Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das LVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

7        Nach der genannten Verfassungsbestimmung ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

8        An den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a erster Satz VwGG). Zufolge § 28 Abs. 3 VwGG hat allerdings die außerordentliche Revision gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird. Im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe hat der Verwaltungsgerichtshof dann die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).

9        Unter diesem Gesichtspunkt wird in der Amtsrevision der LPD geltend gemacht, dass die Annahme des LVwG, der Mitbeteiligte habe ein Verlangen nach Asyl kundgetan, auf keiner nachvollziehbaren Beweiswürdigung gründe und das LVwG seine diesbezüglichen Erwägungen nicht ausreichend offengelegt habe.

10       In Bezug auf die Beweiswürdigung hat der Verwaltungsgerichtshof aber schon generell klargestellt, dass in diesem Zusammenhang eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG nur dann vorliegt, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat. Nach dieser Judikatur ist der Verwaltungsgerichtshof nämlich zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen, allerdings hat er insbesondere doch zu prüfen, ob der Sachverhalt genügend erhoben ist, ob die bei der Beweiswürdigung vorgenommenen Erwägungen schlüssig sind und ob das Verwaltungsgericht dabei alle in Betracht kommenden (relevanten) Umstände vollständig berücksichtigt hat (vgl. etwa VwGH 16.5.2019, Ra 2019/21/0056, Rn. 12, mwN).

11       Im vorliegenden Fall hat das LVwG seine Beweiswürdigung auf die Ergebnisse der in mehreren Tagsatzungen unter Einvernahme der beteiligten Sicherheitsorgane durchgeführten mündlichen Verhandlung und - mangels Möglichkeit, den sich ohne ladungsfähige Adresse (vermutlich) in Bosnien und Herzegowina aufhaltenden, über keine Einreiseerlaubnis verfügenden Mitbeteiligten selbst einzuvernehmen - die von diesem übermittelten, teils auf Video festgehaltenen Aussagen gestützt. Die schließlich getroffene Annahme, es sei glaubwürdig, dass der Mitbeteiligte in Anbetracht der ihm bekannten möglichen Zurückweisung sein Verlangen nach Asyl in hörbarer Weise kundgetan habe, kann nicht als unschlüssig angesehen werden.

12       Das LVwG durfte in seine Überlegungen vor allem auch mit einbeziehen, dass die beteiligten Sicherheitsorgane sich mit der Vermutung einer beabsichtigten Durchreise des Mitbeteiligten begnügt hatten, ohne ihn nach dem Zweck seiner Einreise zu fragen. Eine grundsätzliche Verpflichtung zur Befragung des Fremden ergibt sich nämlich schon aus dem Wortlaut des § 41 Abs. 3 FPG, wonach über die Zulässigkeit der Einreise „nach Befragung des Fremden“ zu entscheiden ist. Konkretisierend hat der Verwaltungsgerichtshof dazu ausgesprochen, dass sich ein Grenzschutzbeamter vor der Vornahme einer Zurückweisung nach § 41 FPG einerseits vergewissern muss, ob ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, und andererseits die Angaben der Einreisewilligen - wenn auch allenfalls nur stichwortartig - so dokumentieren muss, dass eine nachprüfende Kontrolle durch das Verwaltungsgericht im Beschwerdeverfahren ermöglicht wird (vgl. VwGH 14.11.2017, Ra 2017/21/0018, 0019, Rn. 12). Beides wurde im vorliegenden Fall offenbar verabsäumt (die revisionswerbende LPD legte im Verfahren vor dem LVwG lediglich ein „Meldedatenblatt für Zurückweisungen“ samt Laufzettel, einen „Ergebnisbericht zum nationalen AFIS Abgleich“ und das vom Mitbeteiligten unterzeichnete Formblatt zur Einreiseverweigerung vor; in keiner dieser Unterlagen ist eine Befragung des Mitbeteiligten dokumentiert). Auch im Hinblick darauf war es gerechtfertigt, zugunsten des Mitbeteiligten auf Basis von dessen schriftlich übermittelten Aussagen anzunehmen, dass ein Antrag auf internationalen Schutz - das ist nach § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 „das auf welche Weise auch immer artikulierte Ersuchen, sich dem Schutz Österreichs unterstellen zu dürfen“ - gestellt worden war.

13       Hingegen war die in der Zulässigkeitsbegründung der Revision eigens als „aktenwidrig“ gerügte Annahme des LVwG, dass so genannte „Push-backs“ an der Grenze zu Slowenien „des Öfteren“ bzw. „methodisch“ Anwendung fänden, nicht entscheidungswesentlich, sodass insoweit schon deswegen keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung dargelegt werden konnte.

14       Wenn zur Zulässigkeit der Revision außerdem vorgebracht wird, das LVwG habe entgegen § 29 Abs. 2 VwGVG eine sofortige Verkündung des Erkenntnisses unterlassen und insofern gegen näher zitierte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes verstoßen, genügt es, darauf hinzuweisen, dass im Verhandlungsprotokoll zur Fortsetzungsverhandlung vom 21. Mai 2021 (bei der die revisionswerbende Partei vertreten war) festgehalten ist: „Auf eine öffentliche, mündliche Verkündung der Entscheidung wird verzichtet“. Wurde aber in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich auf die Verkündung des Erkenntnisses verzichtet, so kann die Unterlassung der mündlichen Verkündung keine Rechtsverletzung bewirken (vgl. - zu § 47 Abs. 4 VwGVG - VwGH 12.8.2020, Ra 2019/06/0094, Rn. 12, mwN).

15       Hinsichtlich Spruchpunkt B. des angefochtenen Erkenntnisses (betreffend die Rechtswidrigerklärung des Zwangs zum völligen Entkleiden des Mitbeteiligten) enthält die Revision - abgesehen von der sich auf alle Spruchpunkte beziehenden Rüge der unterlassenen mündlichen Verkündung - kein Vorbringen.

16       In der Revision werden somit insgesamt keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

Wien, am 5. Mai 2022

Schlagworte

Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Bindung an den Wortlaut des Gesetzes VwRallg3/2/1

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021210274.L00

Im RIS seit

03.06.2022

Zuletzt aktualisiert am

27.06.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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