TE Vwgh Erkenntnis 2022/5/5 Ra 2021/21/0221

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Veröffentlicht am 05.05.2022
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §55 Abs1 Z1
AsylG 2005 §58 Abs11
BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs2
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des B S, vertreten durch die Lansky, Ganzger & Partner Rechtsanwälte GmbH in 1010 Wien, Biberstraße 5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Jänner 2021, W169 2119196-2/13E, betreffend insbesondere Zurückweisung eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das genannte Erkenntnis wird im Umfang seiner Anfechtung - nämlich insoweit, als damit die Beschwerde gegen die Zurückweisung des Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 abgewiesen wurde - wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein indischer Staatsangehöriger, stellte am 4. Jänner 2007 nach seiner illegalen Einreise nach Österreich seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz. Diesen Antrag wies das Bundesasylamt mit Bescheid vom 23. November 2007 - in Verbindung mit einer Ausweisung nach Indien - vollumfänglich ab. Der unabhängige Bundesasylsenat wies eine gegen diesen Bescheid erhobene Berufung mit Bescheid vom 11. Jänner 2008 ab. Eine Behandlung der gegen diese Entscheidung vom Revisionswerber erhobenen Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof wurde mit Beschluss vom 7. Mai 2008 abgelehnt.

2        Am 22. Juni 2011 stellte der Revisionswerber - nach zwischenzeitlichem Aufenthalt in Indien - einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz, den das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 2. Dezember 2015 ebenfalls zur Gänze abwies. Außerdem sprach das BFA aus, dass ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt werde, und erließ eine Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 8. März 2016 als unbegründet ab.

3        Am 19. April 2016 stellte der Revisionswerber einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005.

4        Das BFA wies den Antrag mit Bescheid vom 27. Jänner 2017 gemäß § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG 2005 wegen Nichterfüllung seiner Mitwirkungspflichten als unzulässig zurück (Spruchpunkt I.). Der Revisionswerber habe nämlich seine Identität nicht nachgewiesen und lediglich die Kopie einer indischen Geburtsurkunde vorgelegt. Von der Erlassung einer Rückkehrentscheidung nahm das BFA unter Hinweis auf die „seit dem 9. März 2016 rechtskräftige“ Rückkehrentscheidung Abstand. Dessen ungeachtet wurde mit Spruchpunkt II. des Bescheides gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage „ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung“ betrage.

5        Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 28. Jänner 2021 wies das Bundesverwaltungsgericht - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - die Beschwerde des Revisionswerbers hinsichtlich Spruchpunkt I. des Bescheides vom 27. Jänner 2017 als unbegründet ab. Zugleich fasste es den „Beschluss“, dass in Erledigung der Beschwerde der Spruchpunkt II. des genannten Bescheides gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG behoben werde. Außerdem sprach es gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6        Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht zusammengefasst aus, dass das BFA den gegenständlichen Antrag nach § 55 AsylG 2005 zu Recht gemäß § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG 2005 zurückgewiesen habe, weil der Revisionswerber dem BFA - trotz Aufforderung - keinen gültigen Reisepass vorgelegt und auch keinen Antrag auf Heilung des Mangels eingebracht habe; die diesbezügliche Beschwerde sei daher abzuweisen gewesen. Hinsichtlich der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wies das Bundesverwaltungsgericht darauf hin, dass die Antragszurückweisung gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 52 Abs. 3 FPG mit einer Rückkehrentscheidung zu verbinden gewesen wäre und das BFA aus näher dargelegten Gründen nicht auf die mit 9. März 2016 rechtskräftige Rückkehrentscheidung verweisen hätte dürfen. Die damalige Rückkehrentscheidung könne keinesfalls mehr als Rechtsgrundlage für die „jetzige“ Außerlandesbringung des Revisionswerbers herangezogen werden, weshalb Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides zu beheben gewesen sei.

7        Gegen die Bestätigung der Zurückweisung des Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 richtet sich die vorliegende - nach Ablehnung der Behandlung und Abtretung der an den Verfassungsgerichtshof erhobenen Beschwerde (Beschluss VfGH 29.4.2021, E 869/2021-5) fristgerecht ausgeführte - außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

8        Die Revision ist - wie die weiteren Ausführungen zeigen - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des Bundesverwaltungsgerichts unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig; sie ist auch berechtigt.

9        In der Revision wird zwar nicht bestritten, dass der Revisionswerber keinen Heilungsantrag nach § 4 Abs. 1 AsylG-DV 2005 gestellt hatte. Es wird aber zu Recht geltend gemacht, dass das Bundesverwaltungsgericht (dessen ungeachtet) inhaltlich zu prüfen gehabt hätte, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens des Revisionswerbers im Sinn des Art. 8 EMRK geboten war.

10       Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist es nämlich unzulässig, den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 trotz Vorliegens der Voraussetzung nach Abs. 1 Z 1 dieser Bestimmung - dass nämlich die Erteilung des Aufenthaltstitels gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist - wegen Nichtvorlage von Identitätsdokumenten zurückzuweisen (vgl. etwa VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0177, Rn. 11, mwN). Demnach hat bei Anträgen nach § 55 AsylG 2005 auch einer Zurückweisung nach § 58 Abs. 11 AsylG 2005 eine Interessenabwägung voranzugehen (vgl. VwGH 4.3.2020, Ra 2019/21/0214, Rn. 18, mwN). Eine solche ist im vorliegenden Fall allerdings unterblieben. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte die Zurückweisung des Antrags nach § 55 AsylG 2005 wegen Nichtvorlage eines gültigen Reisedokumentes, ohne sich näher mit dem vorhandenen Privat- und Familienleben des Revisionswerbers auseinanderzusetzen, obwohl es Anhaltspunkte dafür gab, dass der Tatbestand des § 55 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 im Hinblick auf die lange durchgehende Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers von - zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts - über neun Jahren und sieben Monaten in Verbindung mit der von ihm schon gegenüber dem BFA ins Treffen geführten ausgeprägten beruflichen Integration als Kleintransportunternehmer mit bis zu vier Mitarbeitern erfüllt war (vgl. dazu, dass die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalten, bei denen regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen des Fremden an seinem Verbleib in Österreich auszugehen ist, bei stärkerem Integrationserfolg auch auf Fälle zu übertragen ist, in denen die Aufenthaltsdauer knapp unter zehn Jahren liegt, etwa VwGH 7.10.2021, Ra 2021/21/0139, Rn. 11, mwN).

11       Da das Bundesverwaltungsgericht demnach die Rechtslage verkannt hat, war das angefochtene Erkenntnis im Umfang der in Revision gezogenen Abweisung der Beschwerde gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

12       Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 5 VwGG abgesehen werden.

13       Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die § 47ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 5. Mai 2022

Schlagworte

Besondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021210221.L00

Im RIS seit

03.06.2022

Zuletzt aktualisiert am

08.06.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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