TE Vwgh Erkenntnis 2022/4/1 Ro 2022/18/0001

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 01.04.2022
beobachten
merken

Index

40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §18
AVG §37
AVG §46
BFA-G 2014 §5 Abs3
VwGVG 2014 §28

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. Jänner 2022, W101 2227434-1/17E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl; mitbeteiligte Partei: S R), zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtene Entscheidung wird im Anfechtungsumfang Spruchpunkt A.II. wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1        Der Mitbeteiligte, ein unbegleiteter minderjähriger iranischer Staatsangehöriger, beantragte am 21. März 2019 internationalen Schutz in Österreich und machte zusammengefasst geltend, sein konservativ-religiöser Großvater würde ihn wegen seiner atheistischen Überzeugung bei Rückkehr anzeigen, weshalb er um sein Leben fürchte.

2        Mit Bescheid vom 3. Dezember 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Mitbeteiligten zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in den Iran zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis in Bezug auf die Nichtgewährung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt A.I.).

4        Begründend führte es dazu aus, die Angaben des Mitbeteiligten zu seinen Fluchtgründen seien - aus näher dargestellten Gründen - nicht glaubhaft. Ihm drohe daher im Iran keine Verfolgung.

5        Mit Spruchpunkt A.II. des angefochtenen Erkenntnisses hob das BVwG den erwähnten Bescheid des BFA hinsichtlich der Nichtgewährung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, der Erlassung der Rückkehrentscheidung und der weiteren darauf aufbauenden Spruchpunkte auf. Die Revision erklärte das BVwG für zulässig.

6        Es stellte fest, dass der Mitbeteiligte regelmäßigen und ausgeprägten Kontakt zu seiner im Iran lebenden Mutter habe. Zum (geschiedenen) Vater und anderen (im Iran lebenden) Verwandten stehe er hingegen in keinem Kontakt.

7        In Österreich sei der Mitbeteiligte mit Urteil des Landesgerichts Salzburg vom 24. Juni 2020 wegen des Verbrechens der Erpressung nach § 144 Abs. 1 StGB und wegen des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB als Jugendlicher rechtskräftig verurteilt worden. Gemäß § 13 Abs. 1 JGG sei der Ausspruch der wegen dieser Jugendstraftat zu verhängenden Strafe für eine Probezeit von drei Jahren vorbehalten worden.

8        Das BFA habe - so das BVwG weiter in seiner Begründung - in seiner Entscheidung zum subsidiären Schutz ausgeführt, die in Bezug auf die Person des minderjährigen Mitbeteiligten durchgeführte Einzelfallprüfung habe ergeben, dass er aufgrund mehrerer Faktoren (Gesundheitszustand, Schulbildung, Möglichkeit finanzieller Unterstützung durch seine Familie, obsorgeberechtigte Elternteile (Mutter), ausreichend stabile Sicherheitslage im Iran) in seiner Heimat günstige Lebensbedingungen vorfinde. In diesem Ausmaß sei das BFA zwar auf die Situation des minderjährigen Mitbeteiligten im Falle einer Rückkehr in den Iran eingegangen, jedoch fehlten im angefochtenen Bescheid Länderfeststellungen betreffend die spezielle Gefährdungslage im Iran für Minderjährige (hier für minderjährige Straftäter). Deshalb stehe der maßgebliche Sachverhalt im vorliegenden Fall nicht fest und es sei gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG mit Aufhebung des diesbezüglichen Spruchteils (sowie der darauf aufbauenden Spruchpunkte) und Zurückverweisung dieser Angelegenheit zur Erlassung einer neuen Entscheidung durch das BFA vorzugehen. Die zuständige Einzelrichterin sei der Ansicht, dass die Ermittlungen zur Feststellung bzw. Klärung der dargestellten Frage im Zusammenhang mit der speziellen Gefährdungslage im Iran für Minderjährige (hier für minderjährige Straftäter) vom BFA durchzuführen seien, da im gegenteiligen Fall der maßgebliche Teil des Ermittlungsverfahrens vor das BVwG als gerichtliche Beschwerdeinstanz verlagert und somit der zweitinstanzliche Verfahrensgang unterlaufen würde. Der Vollständigkeit halber sei darauf hinzuweisen, dass das BFA im fortzusetzenden Verfahren neben der speziellen Situation von Minderjährigen auch die spezielle Covid-Situation im Iran zu berücksichtigen und dazu entsprechende Länderfeststellungen zu treffen habe.

9        Die Revision sei zuzulassen, weil die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes „bei restriktiver Interpretation“ abweiche, weil die fehlenden Länderfeststellungen zur speziellen Gefährdungslage im Iran für Minderjährige (hier für minderjährige Straftäter) nicht vom BVwG getroffen würden. Die zuständige Richterin weise darauf hin, dass die Erstellung des Länderinformationsblattes (LIB) nicht in die Kompetenz des BVwG, sondern in die des BFA falle.

10       Dagegen wendet sich die vorliegende Amtsrevision, die zusammengefasst geltend macht, dass das BVwG von der höchstgerichtlichen Rechtsprechung zur (grundsätzlich) meritorischen Entscheidungspflicht des Verwaltungsgerichts abgewichen sei. Die vermissten Länderfeststellungen erforderten nur ergänzende Ermittlungen, die das BVwG im Interesse der Raschheit selbst durchführen hätte müssen. Das BVwG verfüge über einen direkten Zugriff auf die aktuellen Länderinformationen der Staatendokumentation und hätte auf diese Weise die fehlenden Informationen selbst einholen können.

11       Der Mitbeteiligte hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

12       Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

13       Die Revision ist zulässig und begründet.

14       Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist in § 28 VwGVG ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte normiert, weswegen die in § 28 Abs. 3 zweiter Satz leg. cit. vorgesehene Möglichkeit der Kassation eines verwaltungsbehördlichen Bescheides streng auf ihren gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken ist (vgl. grundlegend VwGH 26.6.2014, Ro 2014/03/0063).

15       Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterlassen hat, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden.

16       Sind (lediglich) ergänzende Ermittlungen vorzunehmen, liegt die (ergänzende) Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Verwaltungsgericht im Interesse der Raschheit im Sinn des § 28 Abs. 2 Z 2 erster Fall VwGVG (vgl. etwa VwGH 11.1.2019, Ra 2018/18/0363, mwN).

17       Wie das BVwG ausweislich seiner Begründung zur Zulassung der Revision selbst erkannt hat, steht der angefochtene Beschluss mit diesen höchstgerichtlichen rechtlichen Leitlinien nicht im Einklang (siehe dazu gleich). Der Verwaltungsgerichtshof sieht sich aus Anlass des Revisionsfalls auch nicht veranlasst, von seiner Judikatur abzuweichen. Insbesondere wurde darin auf die rechtlichen Argumente des BVwG, es dürfe das Ermittlungsverfahren nicht auf das Verwaltungsgericht verlagert werden, ausführlich eingegangen. Auch der Hinweis des BVwG, nicht das Verwaltungsgericht, sondern das BFA (gemeint: die dort eingerichtete Staatendokumentation) erstelle die einschlägigen Länderinformationsblätter, ändert daran nichts. Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung bereits ausgesprochen, dass auch das BVwG gemäß § 5 Abs. 3 BFA-G berechtigt (und im Sinne seiner meritorischen Entscheidungspflicht auch verpflichtet) ist, sich bei seinen Ermittlungen der Staatendokumentation zu bedienen (vgl. zur Beiziehung der Staatendokumentation im Allgemeinen etwa VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100, 0101; zur Anfrage zwecks Erfüllung der meritorischen Entscheidungspflicht etwa VwGH 12.8.2019, Ra 2019/20/0192).

18       Im vorliegenden Fall hat das BFA sich mit der Rückkehrsituation des minderjährigen Mitbeteiligten sowohl unter Zugrundelegung des aktuellen Länderinformationsblattes zum Iran (bezogen insbesondere auf die Grundversorgung und die Obsorgeregeln für Minderjährige) als auch seiner individuellen Umstände auseinandergesetzt. Es ist im Ergebnis davon ausgegangen, dass der gesunde Mitbeteiligte zu seiner Familie im Iran (seiner Mutter) zurückkehren könne, dort eine geeignete Aufnahmemöglichkeit vorfinde und ungefährdet leben könne (vgl. zu den notwendigen Erwägungen der Asylbehörden bei der Entscheidung über den Antrag auf subsidiären Schutz und Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Bezug auf unbegleitete Minderjährige jüngst VwGH 10.3.2022, Ra 2021/18/0349, mit Hinweis auf EuGH 6.6.2013, Rs. C-648/11, MA u.a.).

19       Ob diese Einschätzung inhaltlich richtig war, ist im gegebenen Zusammenhang nicht zu überprüfen, weil das BVwG sie in der angefochtenen Entscheidung nicht in Zweifel zieht und darin keinen Grund für die Aufhebung des Bescheides erkennt. Dem BVwG erscheint die Ergänzung des Ermittlungsverfahrens vielmehr erforderlich, weil das BFA keine Feststellungen „in Zusammenhang mit der speziellen Gefährdungslage im Iran für Minderjährige (hier für minderjährige Straftäter)“ getroffen habe. Welche spezifische Gefährdungslage das BVwG insbesondere für „minderjährige Straftäter“ dabei im Blick hat, legt es in seiner Entscheidung nicht dar und ist auch nicht ohne Weiteres zu erkennen. Überdies vermisst das BVwG Feststellungen zur „speziellen Covid-Situation im Iran“ ohne näher darzulegen, inwiefern diese fallbezogen zu einem anderen Ergebnis führen könnten.

20       Selbst wenn dem BVwG zugestanden wird, dass der Bescheid des BFA insoweit keine speziellen Feststellungen enthielt, handelt es sich dabei nur um Ergänzungen zum maßgeblichen Sachverhalt, die eine Aufhebung des Bescheides im Sinne der dargestellten höchstgerichtlichen Rechtsprechung nicht rechtfertigten. So hat der Verwaltungsgerichtshof in diesem Zusammenhang bereits festgehalten, dass die bloße Ergänzung von Länderfeststellungen regelmäßig vom BVwG selbst durchzuführen ist (vgl. etwa VwGH 6.12.2019, Ra 2019/18/0327, mwN).

21       Die angefochtene Entscheidung war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 1. April 2022

Schlagworte

Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RO2022180001.J00

Im RIS seit

04.05.2022

Zuletzt aktualisiert am

08.06.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten