TE Vwgh Beschluss 2022/4/4 Ra 2021/19/0227

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Veröffentlicht am 04.04.2022
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
B-VG Art133 Abs4
MRK Art8
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1
VwGG §41

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie den Hofrat Dr. Faber und die Hofrätin Dr. Funk-Leisch als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision des Y A, vertreten durch die CHG Czernich Haidlen Gast & Partner Rechtsanwälte GmbH in 6020 Innsbruck, Bozner Platz 4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Mai 2021, W157 2216977-1/15E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 28. Juni 2017 einen Antrag auf internationalen Schutz. Als Fluchtgrund brachte er vor, die Taliban hätten ihn bedroht, geschlagen und zwangsrekrutieren wollen.

2        Mit Bescheid vom 4. März 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4        Mit Beschluss vom 5. Oktober 2021, E 2422/2021-8, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der gegen dieses Erkenntnis gerichteten Beschwerde ab und trat die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

5        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6        Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

7        Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

8        Die Revision wendet sich in ihrer Zulässigkeitsbegründung zunächst gegen die Beweiswürdigung und die Feststellungen des BVwG und bringt dazu vor, die Ausführungen des BVwG seien in sich widersprüchlich und unvollständig. Das BVwG habe sich nicht mit der Tatsache auseinandergesetzt, dass der Revisionswerber als Cricket-Spieler aufgrund seiner besonderen physischen Voraussetzungen für die Taliban von großem Interesse gewesen und er deswegen nach wie vor der Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban ausgesetzt sei. Darüber hinaus würden die Taliban in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden zwangsrekrutieren, die arbeitslos seien, eine Ausbildung in Koranschulen hätten und der ethnischen Minderheit der Paschtunen angehören würden. Dem BVwG seien in diesem Zusammenhang auch mangelhafte Ermittlungsmaßnahmen betreffend die aktuelle Sicherheitslage und die politische Situation in Afghanistan vorzuwerfen. Das BVwG habe das minderjährige Alter und den Entwicklungsstand des Revisionswerbers zum Zeitpunkt der vorgebrachten Ereignisse nicht gewürdigt.

9        Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist dieser als Rechtsinstanz zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen. Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. etwa VwGH 27.5.2021, Ra 2021/19/0155, mwN).

10       Wird ein Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes wegen eines dem angefochtenen Erkenntnis anhaftenden Verfahrensmangels geltend gemacht, ist der Verfahrensmangel zu präzisieren und dessen Relevanz für den Verfahrensausgang darzutun (vgl. VwGH 23.1.2019, Ra 2018/19/0580, mwN).

11       Das BVwG setzte sich - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - ausführlich mit dem Vorbringen des Revisionswerbers zur Gefahr der Zwangsrekrutierung durch die Taliban auseinander und begründete, wie es zu dem Ergebnis kam, die Angaben des Revisionswerbers zu einer versuchten Zwangsrekrutierung seien nicht glaubhaft und der Revisionswerber werde von den Taliban nicht zwangsrekrutiert werden. Das BVwG stützte sich dabei zum einen auf Widersprüche und Unplausibilitäten in den Angaben des Revisionswerbers und führte u.a. aus, dass die Taliban, hätten diese tatsächlich ein ernsthaftes Interesse an der Person des Revisionswerbers gehabt, nicht mehrfach versucht hätten, ihn zu einer freiwilligen Zusammenarbeit zu bewegen, sondern ihn sofort mitgenommen hätten. Wäre eine Rekrutierung durch die Taliban realistisch zu erwarten gewesen, wäre der Revisionswerber außerdem zunächst nicht weiter in die Schule oder zum Cricket gegangen. Es sei auch unplausibel, dass seine Familie weiterhin unbehelligt im Dorf habe leben können, obwohl sich zumindest ein Bruder des Revisionswerbers während dieser Zeitspanne bereits im wehr- und kampffähigen Alter befunden habe. Zum anderen berücksichtigte das BVwG, dass aus den Länderinformationen und den daraus gezogenen Schlussfolgerungen „von UNHCR und EASO“ aus dem Gesamtprofil des Revisionswerbers nicht auf eine erhöhte Gefahr einer zwangsweisen Rekrutierung zu schließen sei. Der Revisionswerber weise zwar das von den Taliban gewünschte Alter auf und stamme aus einer Provinz mit Taliban-Aktivität, es sei aber im Verfahren nicht hervorgekommen, dass der Clan des Revisionswerbers den Taliban nahestehen oder der Revisionswerber über Know-How verfügen würde, welches die Aufständischen im Gefechtsfeld benötigen würden.

12       Die Revision legt mit ihrem unsubstantiierten Vorbringen nicht dar, dass die Beweiswürdigung des BVwG fallbezogen unvertretbar wäre. Entgegen dem Vorbringen der Revision berücksichtigte das BVwG bei seiner Würdigung auch die Minderjährigkeit des Revisionswerbers im Zeitpunkt der vorgebrachten Erlebnisse. Die Revision gelingt es auch nicht, die Relevanz der behaupteten Ermittlungsmängel darzulegen.

13       Die Revision bringt in diesem Zusammenhang des Weiteren vor, das BVwG sei zum Schluss gekommen, dass widersprüchliche Aussagen bestehen würden, ohne diese in gebotener Weise zu erörtern. Wäre das BVwG seiner umfassenden Manuduktionspflicht nachgekommen, hätte der Revisionswerber jeden einzelnen dieser vom BVwG angenommenen Widersprüche aufklären können.

14       Mit diesem Vorbringen wird schon deshalb keine grundsätzliche Rechtsfrage aufgezeigt, weil eine derartige Verpflichtung weder für die Behörde noch für das Verwaltungsgericht besteht. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes muss die Behörde (und auch das Verwaltungsgericht) dem Asylwerber im Wege eines Vorhalts nicht zur Kenntnis bringen, dass Widersprüche vorhanden seien, die im Rahmen der gemäß § 45 Abs. 2 AVG vorzunehmenden Beweiswürdigung zu seinem Nachteil von Bedeutung sein könnten, und ihm aus diesem Grund eine Stellungnahme hiezu zu ermöglichen (vgl. VwGH 28.6.2018, Ra 2017/19/0447, mwN).

15       Die Revision wendet sich in ihrer Zulässigkeitsbegründung des Weiteren gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten an den Revisionswerber und bringt dazu vor, der Ansicht des BVwG, dem Revisionswerber stehe eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Herat und Mazar-e Sharif zur Verfügung, sei zu entgegnen, dass der bewaffnete Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und bewaffneten radikal-islamistischen Aufständischen nach wie vor anhalte und sich in letzter Zeit sogar verstärkt habe. Aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 (UNHCR-Richtlinien) ergebe sich, dass angesichts des geografisch großen Wirkungsradius einiger regierungsfeindlicher Kräfte, einschließlich der Taliban, für Personen, die durch solche Gruppen verfolgt werden, keine interne Schutzalternative existiere. Überdies sei es dem Revisionswerber ohne jegliche Unterstützung unmöglich, sich in Herat oder Mazar-e Sharif eine Existenz aufzubauen.

16       Vorauszuschicken ist, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des BVwG gemäß § 41 VwGG auf der Grundlage der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses zu prüfen ist. Dementsprechend entziehen sich Änderungen der Sach- und Rechtslage, die sich nach Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses ereignet haben, einer Prüfung im gegenständlichen Revisionsverfahren (vgl. etwa VwGH 1.9.2021, Ra 2021/19/0245, mwN).

17       Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung bereits dargelegt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können. Demzufolge reicht es nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. dazu grundlegend VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001, sowie VwGH 10.2.2021, Ra 2020/19/0446, mwN).

18       Das BVwG traf im angefochtenen Erkenntnis vom 4. Mai 2021 - auf Grundlage des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation vom 1. April 2021 - fallbezogen hinreichend aktuelle Feststellungen zur Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan und im Besonderen in den als innerstaatliche Fluchtalternativen herangezogenen Städten. Das BVwG ging davon aus, dass der volljährige, gesunde, alleinstehende, anpassungsfähige und arbeitsfähige Revisionswerber, der über einige Jahre Schulbildung und etwas Arbeitserfahrung in der Landwirtschaft in Afghanistan, sowie weitere Erfahrungen in Österreich verfüge, der zwei Landessprachen spreche, mit der afghanischen Kultur sowie den dortigen Gepflogenheiten vertraut sei und der Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen könne, sich nach anfänglichen Schwierigkeiten in den Städten Herat und Mazar-e Sharif niederlassen und sich dort auch ohne Unterstützungsnetzwerk eine Existenz ohne unbillige Härten aufbauen könne.

19       Die Revision vermag mit ihrem allgemein gehaltenen Vorbringen nicht darzutun, dass diese Beurteilung - bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt - mit einer vom Verwaltungsgerichtshof wahrzunehmenden Mangelhaftigkeit belastet wäre.

20       Das Vorbringen der Revision, aus den UNHCR-Richtlinien ergebe sich, dass für Personen, die von regierungsfeindlichen Kräften wie den Taliban verfolgt werden würden, keine innerstaatliche Schutzalternative bestehe, geht ins Leere, weil das BVwG festgestellt hat, dass dem Revisionswerber von den Taliban keine Zwangsrekrutierung drohe, und die Revision diese Feststellung - wie dargelegt - nicht erfolgreich bekämpfen kann.

21       Die Revision wendet sich zur Begründung ihrer Zulässigkeit schließlich gegen die vom BVwG im Rahmen der Rückkehrentscheidung gemäß Art. 8 EMRK vorgenommene Interessenabwägung und bringt dazu vor, der Revisionswerber sei bemüht, sich in Österreichisch zu integrieren. Er verfüge über gute Deutschkenntnisse, bemühe sich um Ausbildung und habe freundschaftliche Beziehungen. Es sei fraglich, inwieweit von einer überwiegenden Bindung zu Afghanistan gesprochen werden könne, wenn der Revisionswerber sich bereits in jungen Jahren in Österreich aufgehalten habe.

22       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn kein revisibler Verfahrensmangel aufgezeigt wird und sie in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. VwGH 25.8.2021, Ra 2021/19/0125, mwN).

23       Das BVwG berücksichtigte im Rahmen der Interessenabwägung alle entscheidungswesentlichen und auch die zugunsten des Revisionswerbers sprechenden Umstände, insbesondere auch dessen Deutschkenntnisse, verschiedene Integrationsbemühungen, sowie seine Mitgliedschaft in einer Cricket-Mannschaft und seine Freundschaften in Österreich. Es sei nach wie vor von einer engen Bindung des Revisionswerbers an Afghanistan auszugehen, zumal der Revisionswerber dort den Großteil seines Lebens verbracht habe, eine Landessprache als Muttersprache spreche und in Afghanistan noch Familie habe. Bei einer Gesamtbetrachtung würde das öffentliche Interesse an der Beendigung seines Aufenthaltes im Bundesgebiet das persönliche Interesse des Revisionswerbers am Verbleib überwiegen. Die Revision zeigt nicht auf, dass die vom BVwG vorgenommene Interessenabwägung fallbezogen unvertretbar wäre.

24       In der Revision werden sohin keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.

Wien, am 4. April 2022

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021190227.L00

Im RIS seit

02.05.2022

Zuletzt aktualisiert am

10.05.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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