TE Vwgh Erkenntnis 2022/3/24 Ra 2020/21/0369

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Veröffentlicht am 24.03.2022
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
20/01 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB)
40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

ABGB §1332
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §33 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des V O (alias O G), vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Singerstraße 6/5, gegen das Erkenntnis und den damit verbundenen Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Juli 2020, I419 2230353-1/4E, I419 2230353-2/2E, betreffend Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdefrist in einer Angelegenheit betreffend Aufenthaltsverbot und Zurückweisung der Beschwerde (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Entscheidungen werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Gegen den Revisionswerber, einen mit einer ungarischen Staatsangehörigen verheirateten nigerianischen Staatsangehörigen, wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 14. Jänner 2020 gemäß § 67 FPG ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen und gemäß § 70 Abs. 3 FPG ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat gewährt. Dieser Bescheid wurde dem Revisionswerber am 15. Jänner 2020 durch persönliche Übergabe zugestellt.

2        Mit Eingabe vom 9. März 2020 stellte der Revisionswerber einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erhebung einer Beschwerde gegen den genannten Bescheid; unter einem wurde die Beschwerde eingebracht.

3        Der Revisionswerber brachte zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags vor, dass seine Ehefrau den anzufechtenden Bescheid am 20. Jänner 2020 zu einem namentlich bezeichneten Rechtsanwalt gebracht habe. Dieser habe für die Erhebung einer Beschwerde € 1.000,-- verlangt, der Revisionswerber und seine Frau hätten aber nur € 800,-- aufbringen können. Ein Kanzleimitarbeiter habe deshalb die Beschwerde nicht in den Fristenkalender eingetragen, weil er angenommen habe, dass eine Restzahlung noch erfolgen oder die Anzahlung rückerstattet werde; der Revisionswerber sei aber auf Grund eines Missverständnisses davon ausgegangen, dass die Beschwerde auch für weniger Geld eingebracht würde. Der Revisionswerber habe sich dann, auch weil er sich auf Grund der drohenden Aufenthaltsbeendigung, Stress bei der Kinderbetreuung und Rückenproblemen in einer Ausnahmesituation befunden habe, zunächst nicht mehr um die Beschwerde gekümmert. Er sei felsenfest davon überzeugt gewesen, dass Beschwerde erhoben würde. Auch habe seine Frau am 27. Jänner 2020 anlässlich eines Anrufs in der Kanzlei erfahren, dass die Beschwerde erledigt worden sei, was vermutlich auf einer Verwechslung mit einem anderen Fall beruht habe. Erst am 26. Februar 2020 habe der Revisionswerber dann anlässlich eines Besuchs in der Kanzlei erfahren, dass die Beschwerde nicht ausgeführt worden sei.

4        Mit Bescheid vom 10. April 2020 wies das BFA den Wiedereinsetzungsantrag ab, weil kein unabwendbares oder unvorhergesehenes Ereignis vorliege, welches den Revisionswerber an der rechtzeitigen Einbringung der Beschwerde gehindert habe. Weiters wurde dem Antrag die aufschiebende Wirkung nicht zuerkannt.

5        Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Spruchpunkt I. des angefochtenen Erkenntnisses als unbegründet ab. Mit Spruchpunkt II. wies es die Beschwerde gegen den Aufenthaltsverbotsbescheid des BFA vom 14. Jänner 2020 beschlussmäßig als verspätet zurück. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht jeweils aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6        In den Entscheidungsgründen führte das Bundesverwaltungsgericht unter der Überschrift „Feststellungen“ insbesondere aus, es könne „nicht festgestellt werden, aus welchen Gründen der [Revisionswerber] annahm, dass seine Beschwerde zum genannten Preis [von € 800,--] rechtzeitig eingebracht werde“.

7        Beweiswürdigend erläuterte das Bundesverwaltungsgericht diese negative Feststellung damit, dass der Wiedereinsetzungsantrag zu keiner der für die Fristversäumnis ins Treffen geführten Behauptungen (Missverständnis gegenüber dem Kanzleimitarbeiter, Rückenschmerzen und Stress, Anruf der Ehefrau am 27. Jänner 2020 mit Zusicherung, dass die Beschwerde erledigt worden sei) einen „Hinweis auf ihr Zutreffen“ beinhalte. Der Revisionswerber habe sein Vorbringen nicht einmal teilweise bescheinigt. Es entspreche auch nicht der Lebenserfahrung, sich - angesichts der Gefahr einer Trennung von Frau und Kindern sowie der Verbringung auf einen anderen Kontinent - „auf eine bloße Auskunft vom Hörensagen hin“ darauf zu verlassen, dass alles Nötige unternommen worden sei.

8        In rechtlicher Hinsicht folgerte das Bundesverwaltungsgericht, dass der Irrtum des Revisionswerbers zwar als für die Fristversäumung kausales und „wohl auch“ unvorhergesehenes Ereignis zu qualifizieren sei, dass es ihm aber nicht gelungen sei, glaubhaft zu machen, dass ihn am nicht rechtzeitigen Einbringen der Beschwerde oder am Irrtum nur ein minderer Grad des Verschuldens treffe. Diese Voraussetzung des § 33 Abs. 1 VwGVG sei demnach nicht vorgelegen, weshalb der Antrag auf Wiedereinsetzung abzuweisen gewesen sei.

9        Im Hinblick darauf, dass das Verfahren über den Wiedereinsetzungsantrag damit rechtskräftig beendet sei, sei die Beschwerde auch hinsichtlich der Nichtzuerkennung der aufschiebenden Wirkung abzuweisen gewesen.

10       Ausgehend von der Abweisung des Wiedereinsetzungsantrags sei die Beschwerde gegen den Bescheid vom 14. Jänner 2020 verspätet und daher mit Beschluss zurückzuweisen gewesen.

11       Das Absehen von der in der Beschwerde beantragten mündlichen Verhandlung begründete das Bundesverwaltungsgericht unter Bezugnahme auf § 21 Abs. 7 BFA-VG damit, dass der Sachverhalt durch das BFA vollständig erhoben worden sei und die gebotene Aktualität aufweise. Er stehe bereits auf Grund der Aktenlage - insbesondere der Schriftsätze des Revisionswerbers und der Übernahmebestätigung - fest.

12       Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

13       Der Revisionswerber macht unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG insbesondere geltend, dass das Bundesverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichthofes zur Verhandlungspflicht abgewichen sei.

14       Dies trifft zu, weshalb sich die Revision als zulässig und berechtigt erweist.

15       Gemäß § 33 Abs. 1 VwGVG ist einer Partei auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (unter anderem dann) zu bewilligen, wenn sie glaubhaft macht, dass sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis eine Frist versäumt hat und dadurch einen Rechtsnachteil erleidet. Dass der Partei ein Verschulden an der Versäumung zur Last liegt, hindert die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht, wenn es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handelt. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist der Begriff des minderen Grades des Versehens als leichte Fahrlässigkeit im Sinn des § 1332 ABGB zu verstehen. Der Wiedereinsetzungswerber darf daher nicht auffallend sorglos gehandelt haben, somit die im Verkehr mit Behörden und für die Einhaltung von Terminen und Fristen erforderliche und ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt nicht in besonders nachlässiger Weise außer Acht gelassen haben. An berufliche rechtskundige Parteienvertreter ist dabei ein strengerer Maßstab anzulegen als an rechtsunkundige Personen (vgl. etwa VwGH 27.8.2020, Ra 2020/21/0310, Rn. 10, mwN).

16       Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis auch in einem inneren, psychischen Geschehen wie z.B. Vergessen, Versehen oder Irrtum gelegen sein (vgl. etwa - zu § 71 AVG - VwGH 9.8.2021, Ra 2021/03/0113, Rn. 12, mwN).

17       Einen solchen Irrtum hat der Revisionswerber in seinem Wiedereinsetzungsantrag behauptet, indem er erklärte, auf Grund eines Missverständnisses darauf vertraut zu haben, dass der beauftragte Rechtsanwalt (mit dem aber ein Vertretungsverhältnis tatsächlich nicht zustande kam) die Beschwerde für die ihm bezahlten € 800,-- verfassen und einbringen werde, obwohl das verlangte Entgelt eigentlich € 1000,-- betragen hätte. Ein derartiger Irrtum wäre grundsätzlich geeignet, einen Wiedereinsetzungsgrund im Sinn des § 33 Abs. 1 VwGG darzustellen. Ob er nur auf einem minderen Grad des Versehens beruht, wäre unter Bedachtnahme auf die Umstände des Einzelfalles zu beurteilen, wobei auch die behauptete Auskunft der Rechtsanwaltskanzlei aus Anlass des Anrufs der Ehefrau des Revisionswerbers am 27. Jänner 2020 einzubeziehen wäre; ausgehend von den Behauptungen des Revisionswerbers in seinem Wiedereinsetzungsantrag wäre die Annahme eines minderen Grads des Versehens im vorliegenden Fall jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen.

18       Das Bundesverwaltungsgericht erklärte im angefochtenen Erkenntnis, es könne nicht festgestellt werden, aus welchen Gründen der Revisionswerber angenommen habe, dass seine Beschwerde zum genannten Preis rechtzeitig eingebracht werde. In Verbindung mit den oben wiedergegebenen beweiswürdigenden Überlegungen lässt sich diese Aussage so verstehen, dass das Bundesverwaltungsgericht das Vorbringen des Revisionswerbers hinsichtlich seines Irrtums insgesamt nicht als glaubhaft ansah. In der rechtlichen Beurteilung scheint das Bundesverwaltungsgericht dann allerdings vom tatsächlichen Vorliegen eines Missverständnisses auszugehen, das es dem Revisionswerber im Hinblick auf sein Gesamtverhalten jedoch als nicht nur minderen Grad des Versehens anlastete.

19       Beide Annahmen - die des Nichtvorliegens eines Missverständnisses und die des nicht nur leichten Verschuldens des Revisionswerbers - hätten aber jedenfalls nicht ohne Durchführung der in der Beschwerde ausdrücklich beantragten mündlichen Verhandlung getroffen werden dürfen. Angesichts des Vorbringens des Revisionswerbers im Wiedereinsetzungsantrag und in der Beschwerde, in der er auch die Befragung des vom Revisionswerber befassten Rechtsanwalts anregte, konnte von einem geklärten Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA-VG keine Rede sein.

20       Das Bundesverwaltungsgericht hat das angefochtene Erkenntnis daher mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet, und zwar sowohl hinsichtlich der Abweisung der Beschwerde betreffend den Wiedereinsetzungsantrag als auch hinsichtlich der ausschließlich mit diesem Verfahrensergebnis begründeten Abweisung der Beschwerde in Bezug auf die Nichtzuerkennung der aufschiebenden Wirkung und schließlich auch hinsichtlich der auf der Abweisung des Wiedereinsetzungsantrags aufbauenden Zurückweisung der Beschwerde gegen den Aufenthaltsverbotsbescheid.

21       Das angefochtene Erkenntnis war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG zur Gänze aufzuheben.

22       Von der in der Revision beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

23       Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordung 2014.

Wien, am 24. März 2022

Schlagworte

Allgemein Begründung Begründungsmangel Verfahrensbestimmungen Berufungsbehörde

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020210369.L00

Im RIS seit

29.04.2022

Zuletzt aktualisiert am

05.05.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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