TE Vfgh Beschluss 2022/3/17 G67/2022 ua

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Veröffentlicht am 17.03.2022
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Index

10/07 Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit
23/01 Insolvenzordnung

Norm

B-VG Art140 Abs1 Z1 litd
IO §254 Abs1 Z4
GOG 1896 §89d Abs2
VfGG §7 Abs2, §62a Abs1 Z8

Leitsatz

Zurückweisung eines Parteiantrages auf Aufhebung einer Bestimmung der Insolvenzordnung und des Gerichtsorganisationsgesetzes wegen genereller Ausnahme von der Möglichkeit der Stellung eines Parteiantrags auf Normenkontrolle bei Insolvenzverfahren; keine Anwendbarkeit der bekämpften Bestimmung des VfGG durch das ordentliche Gericht; Abweisung des unter einem gestellten Antrages auf Bewilligung der Verfahrenshilfe

Spruch

I. Der Antrag wird zurückgewiesen.

II. Der Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe wird abgewiesen.

Begründung

Begründung

I. Sachverhalt und Antragsvorbringen

1. Die antragstellende Partei ist Schuldnerin in einem Insolvenzverfahren. In diesem Verfahren beantragte die antragstellende Partei die Bewilligung der Verfahrenshilfe zur Erhebung mehrerer außerordentlicher (Revisions-)Rekurse gegen Entscheidungen des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz sowie des Oberlandesgerichtes Graz.

2. Mit Beschluss vom 8. Februar 2022 wies das Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz den Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe zurück bzw ab.

3. Aus Anlass eines Rekurses gegen diesen Beschluss des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz stellt die antragstellende Partei einen Parteiantrag gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B-VG auf Aufhebung des §62a Abs1 Z8 VfGG, des §254 Abs1 Z4 IO sowie des §89d Abs2 GOG wegen Verfassungswidrigkeit. Unter einem begehrt die antragstellende Partei die Bewilligung der Verfahrenshilfe im vollen Umfang.

II. Rechtslage

1. §62a Abs1 Z8 Verfassungsgerichtshofgesetz 1953 – VfGG, BGBl 85/1953, idF BGBl I 107/2016 lautet:

"§62a. (1) Eine Person, die als Partei einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, kann einen Antrag stellen, das Gesetz als verfassungswidrig aufzuheben (Art140 Abs1 Z1 litd B-VG). Die Stellung eines solchen Antrages ist unzulässig:

[…]

8. im Insolvenzverfahren;

[…]"

2. §254 Abs1 Z4 des Bundesgesetzes über das Insolvenzverfahren (Insolvenzordnung – IO), BGBl 337/1914, idF BGBl I 147/2021 lautet:

"§254. (1) Nicht anzuwenden sind die Bestimmungen über

[…]

4. die Hemmung von Fristen und die Erstreckung von Tagsatzungen nach §222 ZPO,

[…]"

3. §89d Abs2 Gerichtsorganisationsgesetz (GOG), RGBl 217/1896, idF BGBl 26/2012, lautet:

"§89d. (1) […]

(2) Als Zustellungszeitpunkt elektronisch übermittelter gerichtlicher Erledigungen und Eingaben (§89a Abs2) gilt jeweils der auf das Einlangen in den elektronischen Verfügungsbereich des Empfängers folgende Werktag, wobei Samstage nicht als Werktage gelten."

III. Zur Zulässigkeit

1. Gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B-VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen auf Antrag einer Person, die als Partei einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, aus Anlass eines gegen diese Entscheidung erhobenen Rechtsmittels.

2. Gemäß Art140 Abs1a B-VG iVm §62a Abs1 Z8 VfGG ist ein Parteiantrag in Insolvenzverfahren ausgeschlossen. Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem von Amts wegen eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahren mit Erkenntnis VfSlg 20.113/2016 ausgesprochen, dass es verfassungsrechtlich unbedenklich ist, in Insolvenzverfahren die Stellung eines Parteiantrages gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B-VG auszuschließen. Der Verfassungsgerichtshof hielt in diesem Erkenntnis fest, dass der Ausnahmetatbestand "Insolvenzverfahren" in §62a Abs1 Z8 VfGG eng auszulegen ist. Der Tatbestand "Insolvenzverfahren" erfasst nur Verfahren nach jenen Vorschriften, die das eigentliche Insolvenzverfahren regeln. Sonstige Verfahren, die im Zusammenhang mit dem Insolvenzverfahren stehen, wie zB Verfahren zur Klärung streitiger Rechtssachen (zB Anfechtungs- oder Prüfungsverfahren), gehören hingegen nicht zum Insolvenzverfahren im Sinne des §62a Abs1 Z8 VfGG. Das Insolvenzverfahren weist auf Grund seines Zweckes Spezifika auf, die es dem Gesetzgeber erlauben, von der ihm durch Art140 Abs1a B-VG eingeräumten Ermächtigung Gebrauch zu machen und für das Insolvenzverfahren die Stellung eines Parteiantrages für unzulässig zu erklären.

3. Da die antragstellende Partei den vorliegenden Antrag auf Aufhebung näher bezeichneter Bestimmungen der Insolvenzordnung sowie des Gerichtsorganisationsgesetzes im Rahmen eines Insolvenzverfahrens iSd §62a Abs1 Z8 VfGG stellt, erweist sich der Antrag als unzulässig.

Darüber hinaus erweist sich der Antrag auf Aufhebung des §62a Abs1 Z8 VfGG auch deshalb als unzulässig, weil diese Bestimmung nicht im gerichtlichen Anlassverfahren, sondern ausschließlich im verfassungsgerichtlichen Verfahren anzuwenden ist.

4. Dem Verfassungsgerichtshof ist es auch verwehrt, von Amts wegen ein Gesetzesprüfungsverfahren hinsichtlich des §62a Abs1 Z8 VfGG einzuleiten, weil bereits im Erkenntnis VfSlg 20.113/2016 rechtskräftig ausgesprochen wurde, dass diese Bestimmung Art140 Abs1a B-VG nicht widerspricht.

5. Bei diesem Ergebnis hat der Verfassungsgerichtshof nicht zu prüfen, ob weitere Prozesshindernisse bestehen.

6. Da somit die von der antragstellenden Partei beabsichtigte Rechtsverfolgung vor dem Verfassungsgerichtshof als offenbar aussichtslos erscheint, ist ihr unter einem mit dem Antrag gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B-VG gestellter – nicht auf das Vorliegen sämtlicher Formerfordernisse geprüfter – Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe abzuweisen (§63 Abs1 ZPO iVm §35 VfGG).

7. Diese Beschlüsse konnten gemäß §19 Abs3 Z2 lita VfGG bzw §72 Abs1 ZPO ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

VfGH / Parteiantrag, VfGH / Zuständigkeit, VfGH / Präjudizialität, Rechtsschutz, Insolvenzrecht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:G67.2022

Zuletzt aktualisiert am

25.04.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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