TE Vwgh Beschluss 2022/3/16 Ro 2020/01/0023

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Veröffentlicht am 16.03.2022
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E1E
E3L E19103000
E3L E19103010
41/02 Passrecht Fremdenrecht
59/04 EU - EWR

Norm

AsylG 2005 §3
EURallg
12010E267 AEUV Art267
32011L0095 Status-RL Art5 Abs3
32011L0095 Status-RL Art9
32013L0032 IntSchutz-RL Art2
32013L0032 IntSchutz-RL Art33

Beachte


Vorabentscheidungsverfahren:
* EU-Register: EU 2022/0001
* EuGH-Zahl: C-222/22

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer und die Hofräte Dr. Kleiser, Dr. Fasching, Mag. Brandl und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. September 2020, Zl. W274 2233430-1/4E, betreffend eine Angelegenheit nach dem Asylgesetz 2005 (mitbeteiligte Partei: F S in G), den Beschluss gefasst:

Spruch

Dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) wird nach Art. 267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung), ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9-26, dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaates, wonach einem Fremden, der einen Folgeantrag stellt, in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind, entgegensteht?

Begründung

Sachverhalt und Ausgangsverfahren

1        Der Mitbeteiligte, ein iranischer Staatsangehöriger, stellte im österreichischen Bundesgebiet erstmals am 3. Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Als Fluchtgründe gab er an, er sei als Fahrschullehrer vom iranischen Geheimdienst wegen Dienstverweigerung verhört worden und es sei gegen ihn ein Strafantrag gestellt worden; weiters habe er als Studienanfänger einen Prediger kritisiert und werde deswegen verfolgt.

2        Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 7. Juni 2017 wurde dieser Antrag abgewiesen, kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen, festgestellt, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten in den Iran zulässig sei, und eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt. Begründend ging das BFA von der Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens aus.

3        Die dagegen vom Mitbeteiligten erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 3. Jänner 2018 als unbegründet ab. Diese Entscheidung erwuchs in Rechtskraft.

4        Am 26. Juni 2019 stellte der Mitbeteiligte einen Folgeantrag auf internationalen Schutz. Als Fluchtgrund brachte er vor, dass er nach Rechtskraft des obgenannten Erkenntnisses in Österreich die Religion - durch Abwendung vom muslimischen Glauben und Konversion zum Christentum - gewechselt habe.

5        Mit Bescheid vom 24. Juni 2020 wies das BFA diesen Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab, erkannte dem Mitbeteiligten jedoch den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung. Begründend führte das BFA aus, der Mitbeteiligte habe in mehreren ausführlichen Befragungen und durch Vorlage näher genannter Beweismittel glaubhaft machen können, dass er aus innerer Überzeugung „nachträglich in Österreich“ zum Christentum konvertiert sei und das Christentum in Österreich aktiv lebe, weshalb er im Falle der Rückkehr in den Iran der Gefahr einer individuellen, konkret gegen ihn gerichteten Verfolgung ausgesetzt sei; er unterliege asylrelevanter Verfolgung. In rechtlicher Hinsicht führte das BFA aus, es liege ein Fall des § 3 Abs. 2 zweiter Satz Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) vor, wonach aufgrund des vom Mitbeteiligten selbst herbeigeführten Nachfluchtgrundes lediglich subsidiärer Schutz zuzuerkennen sei.

6        Der Mitbeteiligte erhob gegen diesen Bescheid, soweit damit die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten verweigert wurde, Beschwerde an das BVwG.

7        Mit Erkenntnis vom 29. September 2020 gab das BVwG der Beschwerde Folge, erkannte dem Mitbeteiligten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des Asylberechtigten zu und stellte gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 fest, dass dem Mitbeteiligten kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Weiters erklärte das BVwG die Revision an den Verwaltungsgerichtshof für zulässig.

8        Begründend führte das BVwG - unter Hinweis auf die Statusrichtlinie bzw. das AsylG 2005 - aus, dass „selbst geschaffene“ subjektive Nachfluchtgründe eine Zuerkennung des Status des Asylberechtigten nur „in der Regel“ ausschlössen; es seien durchaus Fälle denkbar, in denen es zu einer Zuerkennung kommen könne. Dabei werde man bei Auslegung des § 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG 2005 den Missbrauchs- bzw. Glaubhaftigkeitsaspekt des Nachfluchtgrundes nicht außer Acht lassen können. Im vorliegenden Fall sei das BFA zur Überzeugung gelangt, dass die Konversion des Mitbeteiligten - wenngleich erst nach rechtskräftigem Abschluss des ersten Verfahrens erfolgt - innerlich und glaubhaft gewesen sei; davon ausgehend könne allein der Umstand, dass keine Anhaltspunkte vorlägen, dass die Konversion Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung gewesen sei, eine Asylberechtigung nicht ausschließen. Anhaltspunkte für einen Missbrauchscharakter des vom BFA angenommenen Nachfluchtgrundes seien der Begründung des Bescheides nicht zu entnehmen.

9        Gegen dieses Erkenntnis erhob das BFA am 2. November 2020 eine ordentliche Amtsrevision an den Verwaltungsgerichtshof, in der zur Zulässigkeit ausgeführt wird, dass keine Rechtsprechung zur Frage vorliege, unter welchen Umständen nach § 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG 2005 bei zulässigen Folgeanträgen eine Asylberechtigung bestehe. Der Wortlaut der genannten Bestimmung lasse die Interpretation des BVwG, dass es bei Folgeanträgen aufgrund von Nachfluchtgründen nur darauf ankomme, ob diese in Missbrauchsabsicht „gesetzt worden“ seien, nicht zu. Die Bestimmung lege nämlich den Regelfall, dass in dieser Konstellation nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt werden könne, und anschließend den Ausnahmefall fest; die Ausnahme von der Regel sei, dass es sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung seien, handle.

10       Maßgebliche Bestimmungen des Unionsrechts:

Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung), ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9-26 (im Weiteren: StatusRL)

Erwägungsgründe 4, 23, 24 und 25:

„ ...

(4) Die Genfer Flüchtlingskonvention und das Protokoll stellen einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen dar.

...

(23) Es sollten Normen für die Bestimmung und die Merkmale der Flüchtlingseigenschaft festgelegt werden, um die zuständigen innerstaatlichen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention zu leiten.

(24) Es müssen gemeinsame Kriterien für die Anerkennung von Asylwerbern als Flüchtlinge im Sinne von Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention eingeführt werden.

(25) Insbesondere ist es erforderlich, gemeinsame Konzepte zu entwickeln zu: aus Nachfluchtgründen (‚sur place‘) entstehendem Schutzbedarf, Schadensursachen und Schutz, internem Schutz und Verfolgung einschließlich der Verfolgungsgründe.“

...

„Artikel 2

Begriffsbestimmungen

Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

...

c)   ‚Genfer Flüchtlingskonvention‘ das in Genf abgeschlossene Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge in der durch das New Yorker Protokoll vom 31. Januar 1967 geänderten Fassung;

d)   ‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, ...;

...

Artikel 5

Aus Nachfluchtgründen entstehender Bedarf an internationalem Schutz

(1) Die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, kann auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Antragsteller das Herkunftsland verlassen hat.

(2) Die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, kann auf Aktivitäten des Antragstellers nach Verlassen des Herkunftslandes beruhen, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind.

(3) Unbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention können die Mitgliedstaaten festlegen, dass ein Antragsteller, der einen Folgeantrag stellt, in der Regel nicht als Flüchtling anerkannt wird, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslandes selbst geschaffen hat.

...

Artikel 9

Verfolgungshandlungen

(1) Um als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention zu gelten, muss eine Handlung

a)   aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sein, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten keine Abweichung zulässig ist, oder

b)   in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchstabe a beschriebenen Weise betroffen ist.

...“

Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Neufassung), ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 60-95 (VerfahrensRL)

Erwägungsgrund 10:

„(10) Die Mitgliedstaaten sollen bei der Umsetzung dieser Richtlinie den entsprechenden Leitlinien des EASO Rechnung tragen.“

...

„Artikel 2

Begriffsbestimmungen

Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

...

q)   ‚Folgeantrag‘ einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz, der nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag gestellt wird, auch in Fällen, in denen der Antragsteller seinen Asylantrag ausdrücklich zurückgenommen hat oder die Asylbehörde den Antrag nach der stillschweigenden Rücknahme durch den Antragsteller gemäß Artikel 28 Absatz 1 abgelehnt hat.

...

Artikel 33

Unzulässige Anträge

(1) ...

(2) Die Mitgliedstaaten können einen Antrag auf internationalen Schutz nur dann als unzulässig betrachten, wenn

...

d)   es sich um einen Folgeantrag handelt, bei dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95/EU als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind, oder

...“

11       Maßgebliche Bestimmungen des nationalen Rechts

Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 24/2016 (AsylG 2005):

Begriffsbestimmungen

§ 2. (1) Im Sinne dieses Bundesgesetzes ist

1.   die Genfer Flüchtlingskonvention: die Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951, BGBl. Nr. 55/1995, in der durch das Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Jänner 1967, BGBl. Nr. 78/1974, geänderten Fassung;

...

11.  Verfolgung: jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Statusrichtlinie;

...

23.  ein Folgeantrag: jeder einem bereits rechtskräftig erledigten Antrag nachfolgender weiterer Antrag;

...

Status des Asylberechtigten

§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

...

(5) Die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrags auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, ist mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.“

Zur Vorlageberechtigung

12       Der Verwaltungsgerichtshof ist ein Gericht im Sinne des Art. 267 AEUV, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können.

13       Bei der Entscheidung der vorliegend zu beurteilenden Revisionssache stellt sich für den Verwaltungsgerichtshof die im gegenständlichen Ersuchen um Vorabentscheidung angeführte und im Folgenden näher erörterte Frage der Auslegung des Unionsrechts.

14       Diese Frage ist im vorliegenden Revisionsfall einerseits entscheidungserheblich; andererseits war die Bestimmung des Art. 5 Abs. 3 StatusRL - eine gleichlautende Regelung war bereits in der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004, ABl. L 304 vom 30.9.2004, S. 12-23, enthalten - noch nicht Gegenstand einer Auslegung durch den EuGH und ist die richtige Auslegung dieser Bestimmung auch nicht derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bliebe.

15       Der Verwaltungsgerichtshof sieht sich daher nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, den EuGH gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV anzurufen (vgl. etwa EuGH 6.10.2021, Consorzio Italian Management, Catania Multiservici SpA, C-561/19, EU:C:2021:799, insbesondere Rn. 32 f, mwN).

Erläuterungen zur Vorlagefrage

Vorbemerkungen

16       Im vorliegenden Ausgangsverfahren hat der Mitbeteiligte im - gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchstabe d) der VerfahrensRL zulässigen - Folgeantrag die Verfolgungsgefahr auf Umstände gestützt, die er nach Verlassen seines Heimatlandes in Österreich selbst geschaffen hat (Konversion zum Christentum); es liegt im Folgeverfahren damit ein subjektiver Nachfluchtgrund („sur place“) vor. Die Situation des Ausgangsverfahrens fällt sohin unter den Regelungsbereich des Art. 5 Abs. 3 StatusRL, wonach die Mitgliedstaaten „unbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention“ festlegen können, dass der Antragsteller des Folgeantrags „in der Regel“ nicht als Flüchtling anerkannt wird.

17       Die einschlägige Bestimmung des österreichischen Rechts enthält § 3 Abs. 2 AsylG 2005.

18       Die Gesetzesmaterialien (RV 952 BlgNR, 22. GP, S. 32) führen dazu aus:

„Abs. 2 bezieht sich auf die ‚Nachfluchtgründe‘ unter Berücksichtigung des Art. 5 Statusrichtlinie. Die begründete Furcht vor Verfolgung beruht somit auf Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem der Antragsteller den Herkunftsstaat ... verlassen hat, insbesondere dann, wenn diese Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung sind. Nach der Statusrichtlinie können die Mitgliedstaaten festlegen, dass ein Antragsteller, der einen Folgeantrag stellt, in der Regel nicht als Asylberechtigter anerkannt wird, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Antragsteller - nach Verlassung seines Herkunftsstaates - selbst herbeigeführt hat (Art. 5 Abs. 3 leg. cit). Ausgenommen sind Aktivitäten, die in Österreich erlaubt sind und auf einer Überzeugung gründen, die nachweislich bereits im Herkunftsstaat bestanden hat, wie etwa Fortsetzung einer politischen oder sexuellen Orientierung oder Einstellung.“

19       Daraus wird erkennbar, dass der österreichische Gesetzgeber durch die Erlassung des § 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG 2005 von der durch Art. 5 Abs. 3 StatusRL eingeräumten Ermächtigung, im dort geregelten Fall die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten auszuschließen, Gebrauch machen wollte (vgl. in diesem Sinn auch Filzwieser/Frank/Koibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht - Kommentar [2016] S. 484).

20       Im Ausgangsverfahren ist nun unstrittig, dass der im Folgeantragsverfahren festgestellte subjektive Nachfluchtgrund des Mitbeteiligten (Konversion zum Christentum) nicht Ausdruck oder Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestandenen Überzeugung ist.

21       Nach Auffassung des BFA ist damit im Ausgangsverfahren der in § 3 Abs. 2 AsylG 2005 normierte „Regel“-Fall, der die Verweigerung der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zur Folge hat, verwirklicht.

22       Demgegenüber steht das BVwG auf dem Standpunkt, dass die in § 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG 2005 als „Regel“-Fall vorgesehene Verweigerung der Asylberechtigung (zusätzlich) voraussetzt, dass der Antragsteller die die Verfolgungsgefahr begründenden subjektiven Nachfluchtgründe in Missbrauchsabsicht gesetzt hat.

23       Die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung des BVwG durch den Verwaltungsgerichtshof hängt vom Inhalt des § 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG 2005 ab. Die Unionsrechtskonformität dieser Bestimmung hängt wiederum von der Auslegung des Art. 5 Abs. 3 StatusRL ab (zum Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts bzw. Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts vgl. zuletzt EuGH 18.1.2022, Thelen Technopark Berlin GmbH, C-261/20, EU:C:2022:33, mwN); dazu fehlt - wie erwähnt - Rechtsprechung des EuGH.

Zur Auslegung des Art. 5 Abs. 3 StatusRL

24       Im vorliegenden Fall ist die Frage der Reichweite der mit Art. 5 Abs. 3 StatusRL den Mitgliedstaaten eingeräumten Umsetzungsbefugnis angesprochen.

25       Nach dieser Bestimmung wird den Mitgliedstaaten grundsätzlich die Möglichkeit eröffnet, einen Antragsteller nicht als Flüchtling anzuerkennen, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen seines Herkunftslandes selbst geschaffen hat.

26       Diese Möglichkeit scheint zum einen eingeschränkt durch die Bestimmung des Art. 5 Abs. 2 StatusRL, sohin für Fälle, in denen die in Abs. 3 leg. cit. genannten „Umstände“ Aktivitäten des Antragstellers darstellen, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung sind.

27       Zum anderen besteht die Möglichkeit der Verweigerung des Status des Asylberechtigten im Falle eines subjektiven Nachfluchtgrundes „[u]nbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention“ und lediglich „in der Regel“.

28       Diese Wortfolgen sind unklar.

Die Bedeutung der Wendung „[u]nbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention“ ist schon deshalb unklar, weil im deutschen Sprachgebrauch die Präposition „unbeschadet“ einerseits im Sinne von „ohne Schaden“, „im Einklang mit“ und „ohne Nachteil für“, andererseits aber - und insofern geradezu konträr - auch in der Bedeutung von „ohne Rücksicht auf“, „trotz“ und „ungeachtet“, verwendet wird (vgl. www.duden.de/synonyme/unbeschadet). Die Wendung „in der Regel“ stellt einen unbestimmten Begriff dar, dessen konkrete Bedeutung weder aus dem Text der StatusRL noch aus den Erwägungsgründen erschließbar ist.

Im vorliegenden Verfahren wurde von keiner der Parteien mit einer anderen Sprachfassung argumentiert (vgl. zur einheitlichen Auslegung des Unionsrechts im Licht der Fassungen in allen Sprachen der Union abermals EuGH 6.10.2021, Consorzio Italian Management, Catania Multiservici SpA, C-561/19, EU:C:2021:799, Rn. 42 ff).

29       Diese Wortfolgen sind daher auslegungsbedürftig, zumal damit in besonderer Weise auch Fragen des Verhältnisses von Unionsrecht und Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) angesprochen sind.

Nach der Rechtsprechung des EuGH geht aus den Erwägungsgründen 4, 23 und 24 der StatusRL hervor, dass die GFK einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen darstellt und dass die Bestimmungen dieser Richtlinie über die Voraussetzungen der Anerkennung als Flüchtling und über den Inhalt des Flüchtlingen zu gewährenden Schutzes erlassen wurden, um die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der GFK auf der Grundlage gemeinsamer Konzepte und Kriterien zu leiten.

Die Bestimmungen der StatusRL sind daher im Licht ihrer allgemeinen Systematik und ihres Zwecks in Übereinstimmung mit der GFK und einschlägigen anderen Verträgen, auf die Art. 78 AEUV Bezug nimmt, auszulegen. Diese Auslegung muss zudem, wie dem 16. Erwägungsgrund der StatusRL zu entnehmen ist, die Achtung der in der Charta der Grundrechte anerkannten Rechte gewährleisten (vgl. etwa EuGH 13.1.2021, Bundesrepublik Deutschland, C-507/19, EU:C:2021:3, Rn. 38 f, mwN).

30       Grundsätzlich scheinen zwei Auslegungsmöglichkeiten des Art. 5 Abs. 3 StatusRL eröffnet (vgl. dazu - unter Hinweis auf die divergierende Rechtsprechung von nationalen Höchstgerichten - „European Asylum Support Office [EASO], Richterliche Analyse: Voraussetzungen für die Zuerkennung internationalen Schutzes [Richtlinie 2011/95/EU] - EASO Professional Development Series for members of courts and tribunals [2018] S. 103ff; vgl. auch Hembach/Nedwed, Rechtskräftig erledigt und doch kein Ende: Rechtliche Probleme rund um Folgeanträge in: Filzwieser [Hrsg.] Asyl- und Fremdenrecht Jahrbuch 2020 [2020] S. 238 ff).

1. Uneingeschränkte Bedeutung der Flüchtlingseigenschaft nach Maßgabe der GFK

31       Aus der Wortfolge „[u]nbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention“ könnte abgeleitet werden, dass die Bestimmungen der GFK auch im Anwendungsbereich Art. 5 Abs. 3 StatusRL uneingeschränkt zu beachten sind.

32       Da die GFK für die Definition der Flüchtlingseigenschaft (Artikel 1 Abschnitt A Z 2) keine Unterscheidung zwischen dem im Erst- und im Folgeantrag geltend gemachten Schutzbedarf zulässt (vgl. diesbezüglich nicht differenzierend UNHCR, Handbuch über Verfahren zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft [Neuauflage UNHCR Österreich, 2003] Pkt. 96), käme demnach auch bei einer lediglich auf einen subjektiven Nachfluchtgrund gestützten Verfolgungsgefahr die Verweigerung der Asylgewährung nicht in Betracht. Nach dieser Auslegung würde Art. 5 Abs. 3 StatusRL den Mitgliedstaaten insbesondere auch nicht die Möglichkeit einräumen, eine Missbrauchsvermutung für auf Nachfluchtaktivitäten gestützte Folgeanträge einzuführen (vgl. EASO, aaO., mit Hinweisen auf die diesbezügliche Rechtsprechung des England and Wales Court of Appeal - EWCA).

Die Bestimmung würde demnach möglicherweise lediglich auf die erhöhten Schwierigkeiten hinweisen, die ein Folgeantragsteller - der bereits mit einem oder mehreren Anträgen gescheitert ist - bewältigen muss, um seine allgemeine Glaubwürdigkeit nachzuweisen (vgl. EASO, aaO., S. 104f).

33       Diese Auffassung entspricht auch der vom UNHCR in einer Stellungnahme vom Juli 2010 zum Entwurf der StatusRL („Comments on the European Commission´s proposal for a Directive of the European Parliament and the Council on minimum standards for the qualification an status of third country nationals or stateless persons as beneficiaries of international protection and the content of the protecion granted“ - COM [2009] 551, 21 October 2009, S. 15f) vertretenen Position:

„In UNHCR´s view, the ‚sur place‘ analysis does not require an assessment of whether the asylum-seeker has created the situation giving rise to persecution or serious harm by his or her own decision. ... The 1951 Convention does not, either explicitly or implicitly, contain a provision according to which its protection ist unavailable to persons who claims für asylum are the result of action abroad. The phrase ‚without prejudice to the Geneva Convention‘ in Article 5 (3) would require such an approach.“

34       In diesem Sinn äußerte sich UNHCR im Übrigen auch in seiner Stellungnahme vom 5. April 2005 (vgl. https://www.refworld.org/docid/4a54bbe0d.html, S. 5f, vgl. auch UNHCR, Analyse der Regierungsvorlage für das Fremdenrechtspaket 2005, S. 5) zum Entwurf des § 3 Abs. 2 AsylG 2005 wie folgt:

„... Die in § 3 Abs. 2 des Entwurfs vorgenommene Einschränkung, wonach Personen unter gewissen Voraussetzungen die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wird, ist mit der Genfer Flüchtlingskonvention nicht vereinbar. Sie stellt nicht auf den Zeitpunkt oder die Form der Verfolgung sondern alleine darauf ab, ob die daraus resultierende begründete Furcht aus den in der Konvention genannten Gründen besteht. Entscheidend für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft ist - unabhängig von einer bereits vor der Flucht angenommenen oder zum Ausdruck gebrachten religiösen oder politischen Überzeugung - die im Falle einer Rückkehr im Herkunftsstaat drohende Verfolgung. ...“

35       Anzumerken ist freilich, dass UNHCR weder mit seiner Empfehlung an die Kommission, Art. 5 Abs. 3 StatusRL zu streichen („Recommendation: UNHCR recommends deletion of Article 5 (3)“), noch mit der Forderung, § 3 Abs. 2 AsylG 2005 „entfallen“ zu lassen, durchgedrungen ist.

36       Die Vereinbarkeit von Ansätzen, die die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus für „sur place“-Flüchtlinge im Fall von - allein zum Zweck der Erlangung von Asyl gesetzten - Nachfluchtgründen ausschließen oder beschränken, mit der GFK wird auch in Teilen der internationalen und österreichischen Literatur in Frage gestellt (vgl. Hathaway/Foster, The Law of Refugee Status2 [2015] S. 79f; Putzer, Asylrecht2 [2011] Rn. 39; Mautner, Religiöse Konversion im Zufluchtsstaat, migralex [2018] S. 5).

2. Ermächtigung zur Schaffung einer gesetzlichen Missbrauchsvermutung

37       Hintergrund der Entstehung des Art. 5 Abs. 3 StatusRL war - maßgeblich von Deutschland ausgehend - die Intention, den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, die Schaffung von subjektiven Nachfluchtgründen allein zum Zweck der Erlangung des Asylstatus hintanzuhalten (vgl. Mautner, aaO, S. 4; vgl. zur Entstehungsgeschichte des Art. 5 StatusRL bzw. der Initiative Deutschlands auch Dörig, Asylum Qualification Directive 2011/95/EU, in: Thym/Heilbronner, EU Immigration and Asylum Law3 [2022] S. 1261f).

38       Davon ausgehend könnte die Bestimmung des Art. 5 Abs. 3 StatusRL dahin verstanden werden, dass Asylwerber - ohne Rücksicht auf den Flüchtlingsbegriff der GFK - „in der Regel“ im Folgeverfahren von den Mitgliedstaaten nicht als Flüchtlinge anerkannt werden müssen, wenn die Verfolgungsgefahr durch Nachfluchtaktivitäten des Antragstellers herbeigeführt wurde.

39       Eine derartige Auslegung wäre auch mit der dargestellten Bedeutung des Begriffs „unbeschadet“, im Sinne von „ohne Rücksicht auf“ bzw. „ungeachtet“ bzw. „trotz“ verwendet, in Einklang zu bringen.

40       Fraglich wäre diesfalls, welche Bedeutung der Wortfolge „in der Regel“ in Art. 5 Abs. 3 StatusRL zukommt.

41       Einige Mitgliedstaaten haben die Ermächtigung nach Art. 5 Abs. 3 StatusRL als Grundlage für die Normierung einer gesetzlichen Missbrauchsvermutung für vom Antragsteller selbst geschaffene Nachfluchtgründe verstanden. So befand etwa das Deutsche Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), dass der deutsche Gesetzgeber mit § 28 Abs. 2 (Dt.) AsylG die risikolose Verfolgungsprovokation durch Nachfluchtgründe, die der Betreffende nach Abschluss des ersten Asylverfahrens selbst geschaffen hat, regelhaft unter Missbrauchsverdacht gestellt hat; ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes werde diesfalls in der Regel vermutet. Die gesetzliche Missbrauchsvermutung sei dann widerlegt, wenn der Asylwerber den Verdacht ausräumen könne, er habe Nachfluchtaktivitäten nach Ablehnung des Erstantrags nur oder aber hauptsächlich mit Blick auf die angestrebte Flüchtlingsanerkennung entwickelt oder intensiviert (vgl. BVerwG 18.12.2008, 10 C 27.07, Rn. 14 ff). Das BVerwG erachtete diese Auffassung auch mit der GFK vereinbar; gegen die Einbeziehung selbst geschaffener Nachfluchtgründe in den Schutzbereich des Art. 1 Buchstabe A GFK spreche insbesondere, wenn es sich um eine missbräuchliche Inanspruchnahme des von der GFK vorgesehenen Schutzes handle (Rn. 18).

42       Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang weiters auf den vom EASO (nunmehr: Asylagentur der Europäischen Union; vgl. Art. 1 Abs. 1 iVm Art. 73 der Verordnung [EU] 2021/2023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 2021, ABl. L 468, S. 1) herausgegebenen „Praxisleitfaden: Anerkennung als international Schutzberechtigte/r“ (2018), in dem im Kapitel „Aus Nachfluchtgründen entstehender Bedarf an internationalem Schutz“ (S. 34) ausgeführt wird (Hervorhebungen durch den Verwaltungsgerichtshof):

„Unbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention können die Mitgliedstaaten festlegen, dass ein Antragsteller, der einen Folgeantrag stellt, in der Regel nicht als Flüchtling anerkannt wird, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslandes selbst geschaffen hat (Artikel 5 Absatz 3 QRL). Die Möglichkeit, eine solche Ausnahmeregelung einzuführen, zielt darauf ab, Missbrauch der internationalen Schutzregelung zu verhindern. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Prüfung der Frage, ob die Furcht des Antragstellers begründet ist, immer zukunftsgerichtet ist und der Grundsatz der Nichtzurückweisung in allen Fällen eingehalten werden sollte.“

Auch nach dieser Rechtsauffassung des EASO enthält Art. 5 Abs. 3 StatusRL demnach die Grundlage zur Normierung nationaler Missbrauchsregelungen (zur Beachtung der „Leitlinien“ des EASO im Asylverfahren vgl. insbesondere den 10. Erwägungsgrund zur VerfahrensRL; zur Bedeutung von Berichten des EASO bezüglich der Auslegung von Unionsrecht vgl. allgemein EuGH 13.9.2018, Shajin Ahmed, C-369/17, EU:C:2018:713, Rn. 56; zur Beachtlichkeit von Quellen des EASO im Asylverfahren vgl. etwa auch VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0533; 22.10.2020, Ra 2020/20/0274; 14.12.2021, Ra 2020/19/0067).

43       Schließlich ist bereits im „Gemeinsamen Standpunkt vom 4. März 1996 - vom Rat aufgrund von Artikel K. 3 des Vertrags über die Europäische Union festgelegt - betreffend die harmonisierte Anwendung der Definition des Begriffs ‚Flüchtling‘ in Artikel 1 des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“, ABl. L 63 vom 13.3.1996, S. 2-7, unter Punkt 9. („Refugie sur place“) ausgeführt (Hervorhebungen durch den Verwaltungsgerichtshof hinzugefügt):

„... 9.2. Furcht vor Verfolgung wegen Aktivitäten im Ausland

Die Anerkennung als Flüchtling kann erfolgen, wenn die Aktivitäten, wegen der Furcht vor Verfolgung besteht, Ausdruck und Konsequenz einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung sind oder objektiv in ursächlichem Zusammenhang mit asylrelevanten Merkmalen des Asylwerbers stehen. Eine solche Kontinuität kann jedoch nicht verlangt werden, wenn der Betroffene sich aufgrund seines im Herkunftsland erreichten Alters keine feste Überzeugung bilden konnte.

Bringt der Betreffende hingegen seine Überzeugung ganz offensichtlich hauptsächlich mit dem Ziel zum Ausdruck, die Bedingungen für seine Anerkennung als Flüchtling zu schaffen, so können die entfalteten Tätigkeiten prinzipiell nicht zu seiner Anerkennung als Flüchtling führen; dies gilt unbeschadet des Rechts des Betreffenden, nicht in ein Land abgeschoben zu werden, in dem sein Leben, seine körperliche Unversehrtheit oder seine Freiheit bedroht sein würden.

Demnach steht der Rat ganz grundsätzlich auf dem Standpunkt, dass die missbräuchliche Schaffung eines subjektiven Nachfluchtgrundes in der Regel („prinzipiell“) nicht zur Flüchtlingsanerkennung führen soll (wobei auffällig ist, dass der Rat diesbezüglich nicht einmal zwischen Erst- und Folgeverfahren unterscheidet).

44       Die Auffassung, dass Art. 5 Abs. 3 StatusRL den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräume, Personen vom Status des Asylberechtigten auszuschließen, die ihren Schutzbedarf aus eigener Entscheidung im Folgeverfahren geschaffen haben, wird auch in der Literatur vertreten (vgl. Dörig, aaO, S. 1261: „... allows Member States to exclude persons from refugee status who have created their need of international protection by their own decision ...“).

Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes

45       Für die Annahme, Art. 5 Abs. 3 StatusRL sei dahin zu verstehen, dass die Regelung lediglich einen „Hinweis“ auf mögliche spezifische Glaubwürdigkeitsprobleme eines (Folge-)Antragstellers enthalte, bietet der Wortlaut der Regelung nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes keinen Anhaltspunkt. Die Bestimmung scheint keine besondere Beweismaßregel zu normieren, sondern enthält vielmehr eine konkrete Umsetzungsermächtigung für nationale Gesetzgeber, die Verweigerung des Status des Asylberechtigten als Regelfall vorzusehen.

46       Davon ausgehend hätte aber eine Auslegung, wonach im Anwendungsbereich des Art. 5 Abs. 3 StatusRL der Flüchtlingsbegriff der GFK in dem Sinn uneingeschränkt zu beachten wäre, dass jedenfalls ein Anspruch auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten bestünde, zur Folge, dass dem Art. 5 Abs. 3 StatusRL jeder Anwendungsbereich genommen wäre. Die in dieser Bestimmung - zumal sogar als Regelfall - vorgesehene Möglichkeit der Verweigerung der Asylzuerkennung könnte bei einer solcherart verstandenen Bedeutung der Wortfolge „[u]nbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention“ nämlich von den Mitgliedstaaten nicht wahrgenommen werden. Für die nationalen Gesetzgeber bestünde somit im Ergebnis kein Umsetzungsspielraum. Eine derartige - sinnlose - Regelung erlassen zu haben, kann dem Unionsrechtsgesetzgeber aber nicht unterstellt werden. Diesen Auslegungsgrundsatz hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung (zum innerstaatlichen Recht) mehrfach zum Ausdruck gebracht (vgl. etwa VwGH 22.12.2016, Ra 2014/07/0060; 13.9.2021, Ra 2021/01/0090 Ra 17.11.2021, Ra 2020/01/0387; zur offensichtlichen Unsinnigkeit der Auslegung einer Richtlinienbestimmung vgl. auch EuGH 26.4.2012, The Commissioners for Her Majesty´s Revenue and Customs, C-225/11, EU:C:2012:252, Rn. 16).

47       Nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes spricht für eine Vereinbarkeit einer solchen Regelung mit der GFK zudem, dass auch die GFK davon ausgeht, internationaler Schutz sollte nicht mehr gewährt werden, wo er nicht mehr erforderlich oder nicht mehr gerechtfertigt ist (vgl. so VwGH 29.6.2020, Ro 2019/01/0014, zur „Wegfall der Umstände“-Klausel in Art. 1 Abschnitt C GFK, mwN, insbesondere unter Bezugnahme auf UNHCR, Handbuch, Rn. 111, 115). Internationaler Schutz in Form der Zuerkennung von Asyl wird wohl auch dann nicht gerechtfertigt sein, wenn eine Verfolgung - zumal nach rechtskräftigem Abschluss eines Asylverfahrens - missbräuchlich provoziert wird (vgl. in diesem Sinn auch die in Rn. 41 dargestellte Auffassung des BVerwG).

48       Aus Sicht des Verwaltungsgerichtshofes ist Art. 5 Abs. 3 StatusRL daher zusammenfassend wie folgt zu verstehen:

Die Bestimmung räumt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit ein, im Folgeverfahren die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten im Falle einer aus subjektiven Nachfluchtgründen - soweit diese nicht nachweislich bereits im Herkunftsstaat entstanden sind - resultierenden Verfolgungsgefahr „in der Regel“ auszuschließen, was insbesondere durch die Normierung einer diesbezüglichen gesetzlichen Missbrauchsvermutung erfolgen kann. Daraus ergibt sich, dass in diesen Fällen kein Anspruch auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (sondern lediglich auf Refoulementschutz nach Maßgabe des Art. 2 und 3 EMRK; vgl. etwa EGMR 23.3.2016, F.G. gg Schweden, Appl. 43611/11; 5.11.2019, A.A. gg Schweiz, Appl. 32218/17) besteht. Unzweifelhaft erscheint aus Sicht des Verwaltungsgerichtshofes im Übrigen, dass die in der GFK (in Abschnitt C bis F) vorgesehenen Asylendigungs- und Ausschlussgründe auch im Anwendungsbereich des Art. 5 Abs. 3 StatusRL zu beachten sind.

Zur Auslegung des § 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG 2005

49       Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich für die Auslegung der nationalen Umsetzungsnorm des § 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG 2005 Folgendes:

Nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes hat der österreichische Gesetzgeber mit dieser Regelung von der - durch Art. 5 Abs. 3 StatusRL eingeräumten - Möglichkeit Gebrauch gemacht, Asylwerbern im Falle einer (ausschließlich) auf subjektive Nachfluchtgründe gestützten Folgeantragstellung nur ausnahmsweise Asyl zu gewähren, nämlich zum Einen für den Fall, dass die Verfolgung auf in Österreich erlaubten Aktivitäten gründet, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind. Zum Anderen wurde mit dieser Bestimmung (argum „in der Regel“) - wie nach der oben dargestellten deutschen Rechtslage (die Bestimmung des § 28 Abs. 2 iVm Abs. 1 Dt. AsylG ist im Wesentlichen dem § 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG 2005 vergleichbar) - die Verfolgungsprovokation durch Nachfluchtgründe, die der Betreffende nach Abschluss des ersten Asylverfahrens selbst geschaffen hat, grundsätzlich unter Missbrauchsverdacht gestellt; die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten kommt daher „in der Regel“ nicht in Betracht, es sei denn, dass es dem Antragsteller (im Folgeverfahren) gelingt, die gesetzliche Missbrauchsvermutung zu widerlegen.

50       Demnach wäre durch § 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG 2005 - jedenfalls unter Zugrundelegung der dargestellten Auslegung des Art. 5 Abs. 3 StatusRL - unionsrechtskonform. In diesem Sinn hat der Verwaltungsgerichtshof bereits in seiner bisherigen Judikatur auch die grundsätzliche Beachtlichkeit bzw. Anwendbarkeit des § 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG 2005 im Verfahren über einen Folgeantrag zur Gewährung internationalen Schutzes angenommen (vgl. etwa VwGH 27.5.2019, Ra 2018/14/0292; 28.8.2019, Ra 2019/14/0299; 7.10.2020, Ra 2019/20/0358).

Relevanz

51       Aus den vorstehenden Erwägungen geht hervor, dass die Klärung der eingangs formulierten Vorlagefrage für die Frage der Anwendbarkeit des § 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG 2005 und sohin für die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes im anhängigen Revisionsverfahren rechtlich relevant ist.

Ergebnis

52       Da die Anwendung des Unionsrechts und dessen Auslegung nicht als derart offenkundig erscheinen, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt, wird diese Vorlagefrage gemäß Art. 267 AEUV mit dem Ersuchen um Vorabentscheidung vorgelegt.

Wien, am 16. März 2022

Schlagworte

Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RO2020010023.J00

Im RIS seit

07.04.2022

Zuletzt aktualisiert am

12.04.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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