TE Vwgh Erkenntnis 2022/3/8 Ra 2021/19/0074

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Veröffentlicht am 08.03.2022
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

AVG §37
AVG §39 Abs2
AVG §45 Abs2
AVG §46
AVG §47
VwGVG 2014 §17

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie den Hofrat Dr. Faber und die Hofrätin Dr. Funk-Leisch als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision des L B C, vertreten durch Dr. Anton Herbert Pochieser, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Schottenfeldgasse 2-4/2/23, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Mai 2020, W195 2226794-1/19E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochten Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von Euro 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Bangladesch, stellte am 1. Oktober 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er vor, er sei Mitglied der Bangladesh Buddhist Party (BNP) und Organisationssekretär einer Unterorganisation dieser Partei gewesen und werde deswegen verfolgt. Er sei von einem Mitglied der gegnerischen Awami League (AL) angegriffen worden. Er werde auf Grund einer politisch motivierten Anzeige wegen versuchten Mordes und Verstoßes gegen das Sprengmittelgesetz gesucht, und es bestehe ein Haftbefehl gegen ihn. Auf Grund der politischen Umstände habe er kein faires Verfahren zu erwarten.

2        Mit Bescheid vom 15. November 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Bangladesch zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4        Das BVwG stellte - soweit hier maßgeblich - fest, eine konkrete Verfolgung des Revisionswerbers in seinem Herkunftsstaat habe nicht festgestellt werden können, und zwar weder Bedrohungen oder Verfolgungshandlungen durch die Awami League, noch die Erstattung einer Strafanzeige gegen den Revisionswerber. Es könne auch nicht festgestellt werden, dass der Revisionswerber überhaupt Opfer einer Attacke aus politischen Gründen geworden wäre. Es werde hingegen festgestellt, dass dem selbständigen Revisionswerber genügend finanzielle Ressourcen zur Verfügung stünden, um seine schriftlichen Stellungnahmen und die beim BVwG vorgelegten Dokumente in deutscher Sprache vorzulegen.

5        Das BVwG traf Länderfeststellungen, nach denen für den größten Teil der Gewalt im Land der Hass zwischen den beiden größten konkurrierenden Parteien, der (oppositionellen) BNP und der (regierenden) AL, verantwortlich sei. Beide Parteien seien in Vandalismus und gewalttätige Auseinandersetzungen verwickelt und griffen auch friedliche Zivilisten an. Von nicht-staatlichen Akteuren gehe nach wie vor in vielen Fällen Gewalt aus. Es komme häufig zu Morden und gewalttätigen Auseinandersetzungen auf Grund politischer Rivalität. Eine Aufklärung erfolge selten. Zum Justiz- und Polizeisystem stellte das BVwG fest, dass Strafanzeigen gegen Mitglieder der regierenden Partei regelmäßig zurückgezogen würden. Die schiere Zahl der gegen die politische Opposition eingeleiteten Klagen im Vorfeld einer näher genannten Parlamentswahl deute auf ein ungehindertes Spielfeld und die Kontrolle der Regierungspartei über die Justiz- und Sicherheitsinstitutionen hin. Vor allem im Bereich der erstinstanzlichen Gerichte werde Korruption als ein weit verbreitetes Problem angesehen. Die Mitgliedschaft und Unterstützung einer Oppositionspartei führe nicht per se zu einer Verfolgung durch die Regierung. Allerdings habe die Regierung viele Oppositionspolitiker wegen Korruption verhaften lassen. Mehrere Menschenrechtsgruppen hätten einen dramatischen Anstieg von fingierten Klagen gegen Gegner der Regierungspartei festgestellt. Echte Dokumente unwahren Inhalts und Gefälligkeitsbescheinigungen von Behörden, Privatpersonen und Firmen seien problemlos gegen Zahlung erhältlich.

6        Beweiswürdigend meinte das BVwG, schon das BFA habe dem Fluchtvorbringen die Glaubwürdigkeit abgesprochen. Dazu führte das BVwG - offenbar die Begründung des BFA wiedergebend - aus, die Angaben des Revisionswerbers seien weder schlüssig noch annähernd nachvollziehbar und wenig lebensnah. Zudem habe der Revisionswerber weder plausibel erklären können, warum er nicht innerhalb von Bangladesch verzogen wäre noch, warum die Polizei ihm nicht hätte helfen sollen. Zudem, so das BVwG - nun offenbar in eigener Beweiswürdigung -, seien die Angaben des Revisionswerbers widersprüchlich. Die vom Revisionswerber vorgelegten Schriftstücke, welche in die deutsche Sprache übersetzt worden seien, hätten wenig Beweiskraft und änderten „an den vorangeführten Umständen nichts“. Auf die Länderfeststellungen hinsichtlich der Qualität von Dokumenten werde „verwiesen“. Der Revisionswerber habe die Richtigkeit der Dokumente „nicht ... zweifelsfrei dargelegt“. Auf seine sonstigen, auf Bengali verfassten Stellungnahmen und Dokumente gehe das BVwG nicht ein, da es dem Revisionswerber sowohl finanziell als auch zeitlich möglich gewesen wäre, diese Schriftstücke dem Gericht in deutscher Sprache vorzulegen. Der Revisionswerber habe in der Beschwerdeverhandlung keinen glaubwürdigen Eindruck vermittelt. Zusammenfassend könne nach „eingehender und umsichtiger Prüfung“ sämtlicher relevanter Quellen vom Revisionswerber ein asylrelevanter Grund nicht glaubhaft gemacht werden. Der Revisionswerber habe nicht glaubhaft darlegen können, dass die behauptete politische Auseinandersetzung mit einem Anhänger der AL tatsächlich stattgefunden habe und er einer unmittelbaren politischen Verfolgungsgefährdung - drei Jahre nach seiner Abwesenheit - durch diese ausgesetzt gewesen sei bzw. er auf Grund gegen ihn erhobener (politisch motivierter) Anzeigen einer Verfolgung seitens der Behörden ausgesetzt sei. Auf Grund der Länderfeststellungen könne aber nicht von einer generellen Schutzunfähigkeit des Staates oder einer flächendeckenden Inhaftierung von Sympathisanten der BNP ausgegangen werden. Im Ergebnis sei dem Revisionswerber „bereits auf Grund der aufgezeigten Gründe“ die Glaubwürdigkeit abzusprechen. In einer Gesamtschau der Ausführungen des Revisionswerbers zu seinen Fluchtgründen vermittle dieser letztlich den Eindruck, eine individuelle Verfolgungsgefährdung seiner Person auf Grundlage des in Bangladesch vorherrschenden Spannungsverhältnisses zwischen den beiden großen Parteien lediglich konstruieren zu wollen. Diese Beurteilung habe allein auf Grund der vom Revisionswerber vor dem BFA bzw. dem BVwG getätigten, wenig substantiierten und teilweise widersprüchlichen und nicht plausiblen Angaben im Rahmen der freien Beweiswürdigung vorgenommen werden können.

7        Mit Beschluss vom 11. Dezember 2020, E 2311/2020-13, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der gegen dieses Erkenntnis gerichteten Beschwerde ab und trat die Beschwerde mit Beschluss vom 8. Jänner 2021, E 2311/2020-15, dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

8        Gegen das Erkenntnis des BVwG richtet sich die vorliegende Revision. Eine Revisionsbeantwortung wurde im Vorverfahren nicht erstattet.

9        Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10       Die Revision ist zulässig, weil sie zutreffend vorbringt, das BVwG sei seiner Begründungspflicht nicht nachgekommen und nicht auf die vorgelegten Dokumente eingegangen. Die Revision ist auch begründet.

11       Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0221, mwN).

12       Das Verwaltungsgericht hat neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhalts erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. VwGH 1.3.2019, Ra 2018/18/0446; 26.3.2019, Ra 2019/19/0043; mwN).

13       Den Anforderungen an die Begründungspflicht wird das angefochtene Erkenntnis nicht gerecht. Die Revision bringt zutreffend vor, die Beweiswürdigung des BVwG beschränke sich darauf, dem Revisionswerber pauschal und schlagwortartig die Glaubwürdigkeit abzusprechen bzw. sein Fluchtvorbringen als unglaubwürdig zu beurteilen. Die Angaben des Revisionswerbers seien „widersprüchlich“; er habe in der Beschwerdeverhandlung „keinen glaubwürdigen Eindruck“ vermittelt; ihm sei „auf Grund der aufgezeigten Gründe die Glaubwürdigkeit abzusprechen“; ihm sei schon vom BFA „kein Glauben geschenkt“ worden. Aus welchen Gründen bezogen auf welches Vorbringen des Revisionswerbers das BVwG von dessen Unglaubwürdigkeit ausging bzw. sein Fluchtvorbringen als nicht glaubwürdig erachtete (vgl. zur Beurteilung der „Glaubwürdigkeit“ als Gegenstand der vom Verwaltungsgericht vorzunehmenden Beweiswürdigung näher VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0472), wird im angefochtenen Erkenntnis auch nicht ansatzweise begründet und ist daher für den Verwaltungsgerichtshof auch nicht überprüfbar.

14       Schon aus diesem Grund liegt ein wesentlicher, zur Aufhebung der Entscheidung führender Verfahrensmangel vor, dessen Relevanz in der Revision auch dargelegt wird.

15       Wenn das BVwG im Übrigen ausführt, die in deutscher Sprache vorgelegten Schriftstücke hätten „wenig Beweiskraft“, ergibt sich aus dem angefochtenen Erkenntnis nicht einmal, auf welche Schriftstücke damit Bezug genommen wird. Aus welchen Gründen das BVwG zu seiner Beurteilung der Beweiskraft gelangt, ist nicht nachvollziehbar. Auch der Verweis auf die Länderfeststellungen „hinsichtlich der Qualität von Dokumenten“ genügt den Anforderungen der hg. Rechtsprechung nicht. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits ausgesprochen, dass ein bloß allgemeiner Verdacht nicht genügt, um im Verfahren vorgelegten Urkunden generell den Beweiswert abzusprechen (vgl. VwGH 18.10.2018, Ra 2018/19/0356, mwN).

16       Wenn das BVwG schließlich eine Auseinandersetzung mit den vom Revisionswerber in Bengali vorgelegten Schriftstücken prinzipiell, aus dem Grund ablehnt, dass der Revisionswerber die Möglichkeit gehabt hätte, diese selbst übersetzen zu lassen, ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Veranlassung der Übersetzung vorgelegter fremdsprachiger Urkunden durch das Verwaltungsgericht eine (gegebenenfalls amtswegige) Ermittlungsmaßnahme darstellt, weil sie im Einzelfall der Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes dienen kann (vgl. ausführlich VwGH 19.10.2021, Ra 2020/14/0135, mwN).

17       Im fortzusetzenden Verfahren wird sich das BVwG daher insbesondere mit der vom Revisionswerber vorgelegten, im Verfahrensakt in deutscher Übersetzung einliegenden Anzeige und Anklage in Zusammenhang mit dem von ihm geltend gemachten Fluchtvorbringen auseinanderzusetzen zu haben sowie prüfen müssen, ob die vom Revisionswerber vorgelegten, aber noch nicht übersetzten Schriftstücke zwecks Berücksichtigung im Rahmen der Verpflichtung zur amtswegigen Sachverhaltsermittlung zu übersetzen sind.

18       Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

19       Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

20       Von der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

Wien, am 8. März 2022

Schlagworte

Beweismittel Urkunden

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021190074.L00

Im RIS seit

06.04.2022

Zuletzt aktualisiert am

11.04.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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