TE Vwgh Erkenntnis 2022/3/10 Ra 2021/18/0214

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Veröffentlicht am 10.03.2022
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

AVG §37
VwGVG 2014 §28
VwGVG 2014 §28 Abs2
VwGVG 2014 §28 Abs3

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. April 2021, L518 2226571-1/3E, betreffend eine Asylangelegenheit (mitbeteiligte Partei: D G, vertreten durch Dr. Thomas Obholzer, Rechtsanwalt in 6060 Hall/Tirol, Dr. Otto-Stolz-Straße 15), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1        Die Mitbeteiligte, eine armenische Staatsangehörige, stellte am 28. August 2017 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2        Mit Bescheid vom 4. November 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab, erteilte der Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (Spruchpunkt III.), erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Armenien zulässig sei (Spruchpunkt V.), und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt VI.).

3        Die dagegen erhobene Beschwerde der Mitbeteiligten wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) hinsichtlich des Spruchpunktes I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet ab (Spruchpunkt A. erster Satz). Im Umfang seiner Spruchpunkte II. bis VI. wurde der angefochtene Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurückverwiesen (Spruchpunkt A. zweiter Satz). Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig (Spruchpunkt B.).

4        Begründend führte das BVwG - soweit für die Behandlung der vorliegenden Revision relevant - aus, die Ermittlungen des BFA in Hinblick auf die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten seien nicht ausreichend gewesen. Es lägen grobe Ermittlungsmängel in Zusammenhang mit der Frage vor, inwiefern die Versorgung der Mitbeteiligten sowie der Zugang zur medizinischen Behandlung in Armenien in Anbetracht ihres nicht vollständig erhobenen Gesundheitszustandes, ihres Alters und ihrer familiären sowie sozialen Situation gesichert seien. Vor der Entscheidung des BFA sei kein aktuelles, alle Erkrankungen der Mitbeteiligten berücksichtigendes Gutachten eingeholt worden. Das BFA habe eine näher genannte Diagnose zudem weder festgestellt noch erörtert. Überdies gehe aus einer vom BFA eingeholten Anfragebeantwortung hervor, dass der Zustand der psychiatrischen Kliniken in Armenien nicht sehr gut sei und die Kosten für die Medikamente bei Unterbringungen in einer staatlichen Einrichtung von den Patient:innen getragen werden müssten. In den Anfragebeantwortungen werde außerdem nicht angeführt, welche Hilfsorganisationen die Mitbeteiligte bei ihrer Rückkehr unterstützen könnten und welche Voraussetzungen in Armenien für eine Aufnahme in ein Altersheim zu erfüllen seien.

5        Die behördliche Beweiswürdigung, wonach die in Armenien lebenden Verwandten der Mitbeteiligten sie im Falle ihrer Rückkehr unterstützen könnten, sei vor dem Hintergrund ihrer Angaben, wonach zu diesen kein Kontakt mehr bestehe, spekulativ. Es sei nicht nachvollziehbar, wie es der Mitbeteiligten in ihrer individuellen Situation möglich sein sollte, auf sich allein gestellt als demente, psychisch und körperlich kranke Frau Zugang zu Hilfseinrichtungen in Armenien zu erhalten.

6        Aufbauend auf einer aktuellen Einschätzung des Gesundheitszustandes der Mitbeteiligten werde vom BFA zu ermitteln sein, ob ihre Erkrankungen in Armenien behandelt werden könnten und wie sie sich Zugang zur medizinischen Behandlung sowie zur Betreuung in einem Pflegeheim verschaffen könne. Die aufgezeigten gravierenden Ermittlungsmängel erweckten den Eindruck, das BFA habe die erforderlichen Verfahrenshandlungen an das BVwG zu delegieren versucht. Die entscheidenden Ermittlungshandlungen wären demnach nahezu zur Gänze erstmals durch das BVwG zu tätigen.

7        Die vorliegende außerordentliche Amtsrevision wendet sich gegen diesen Beschluss (Spruchpunkt A. zweiter Satz) und bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 Abs. 3 VwGVG abgewichen. Von der Möglichkeit der Zurückverweisung könne nur bei krassen oder besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden. Dies sei im gegenständlichen Fall, in dem das BFA - wie vom BVwG selbst festgehalten - ein Gutachten zum Gesundheitszustand der Mitbeteiligten vom 5. Februar 2018, ein weiteres Gutachten zu deren Transportfähigkeit vom 5. September 2019 sowie Anfragebeantwortungen zu den Behandlungsmöglichkeiten im Herkunftsstaat eingeholt, weitere ärztliche Unterlagen berücksichtigt, mehrfach die Möglichkeit zur Stellungnahme zu den Länderberichten eingeräumt und einen Zeugen einvernommen habe, nicht gegeben. Beiden Gutachten lasse sich entnehmen, dass die Mitbeteiligte an einer „Demenz bei Alzheimerkrankheit“ leide, im polizeiamtsärztlichen Gutachten sei zudem die vom BVwG vermisste Diagnose festgestellt worden.

8        Die Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag, der Amtsrevision keine Folge zu geben.

9        Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10       Die Revision ist zulässig und begründet.

11       Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist in § 28 VwGVG ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte normiert, weswegen die in § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG vorgesehene Möglichkeit der Kassation eines verwaltungsbehördlichen Bescheides streng auf ihren gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken ist. Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden; eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat (vgl. VwGH 17.5.2021, Ra 2021/18/0089, mwN).

12       Sind (lediglich) ergänzende Ermittlungen vorzunehmen, liegt die (ergänzende) Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Verwaltungsgericht im Interesse der Raschheit im Sinn des § 28 Abs. 2 Z 2 erster Fall VwGVG, zumal diesbezüglich nicht bloß auf die voraussichtliche Dauer des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens alleine, sondern auf die Dauer des bis zur meritorischen Entscheidung insgesamt erforderlichen Verfahrens abzustellen ist. Nur mit dieser Sichtweise kann ein dem Ausbau des Rechtsschutzes im Sinn einer Verfahrensbeschleunigung Rechnung tragendes Ergebnis erzielt werden, führt doch die mit der verwaltungsgerichtlichen Kassation einer verwaltungsbehördlichen Entscheidung verbundene Eröffnung eines neuerlichen Rechtszugs gegen die abermalige verwaltungsbehördliche Entscheidung an ein Verwaltungsgericht insgesamt zu einer Verfahrensverlängerung (vgl. VwGH 1.7.2021, Ra 2020/19/0177, mwN).

13       Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens hat das BFA ein psychodiagnostisches und ein polizeiamtsärztliches Gutachten, mehrere Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation zu den Behandlungsmöglichkeiten der Erkrankungen der Mitbeteiligten, der Verfügbarkeit von bestimmten Medikamenten sowie der sozialen Infrastruktur in Armenien eingeholt und den Sohn der Mitbeteiligten zu ihrem Gesundheitszustand und ihrer sozialen Situation in Armenien und in Österreich als Zeugen einvernommen. Nach Abschluss der Ermittlungen kam das BFA aus näher genannten Gründen zu dem Ergebnis, dass der Mitbeteiligten im Falle einer Rückkehr nach Armenien keine reale Gefahr einer Verletzung ihrer Rechte nach Art. 2 oder 3 EMRK drohe.

14       Es trifft daher nicht zu, dass das BFA zur Rückkehrsituation der Mitbeteiligten jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen, lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hätte. Das BVwG begründete die Kassation des angefochtenen Bescheides nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG im Wesentlichen mit der Notwendigkeit ergänzender Ermittlungen und dem Hinweis auf eine nicht nachvollziehbar vorgenommene Beweiswürdigung des BFA.

15       Der Umstand, dass das BVwG allenfalls der Beweiswürdigung des BFA nicht beitritt, rechtfertigt für sich nicht die Annahme, es lägen gravierende Ermittlungslücken im behördlichen Verfahren vor, die eine Entscheidung gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zu tragen vermöchten. Allenfalls aus Sicht des BVwG ausstehende ergänzende Ermittlungen (und zwar u.a. sowohl die vom BVwG vermissten Erhebungen etwa betreffend Hilfsorganisationen sowie den Zugang zu Behandlungsmöglichkeiten und Pflegeeinrichtungen als auch die Einholung eines weiteren Gutachtens) sind durch dieses selbst vorzunehmen (vgl. VwGH 7.5.2020, Ra 2019/19/0256, mwN).

16       Da die Voraussetzungen für die Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 VwGVG somit nicht gegeben waren, war der angefochtene Beschluss wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 10. März 2022

Schlagworte

Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021180214.L00

Im RIS seit

06.04.2022

Zuletzt aktualisiert am

03.05.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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