TE Vwgh Erkenntnis 2022/3/16 Ra 2021/19/0083

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Veröffentlicht am 16.03.2022
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §35
AsylG 2005 §60 Abs2 Z1
AsylG 2005 §60 Abs2 Z2
AsylG 2005 §60 Abs2 Z3
AVG §58
AVG §60
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Beachte


Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2021/19/0084
Ra 2021/19/0085

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie den Hofrat Dr. Faber und die Hofrätin Dr. Funk-Leisch als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision 1. der Z S, 2. des N S, und 3. der S S, alle vertreten durch Dr. Claudia Stoitzner, Rechtsanwältin in 1060 Wien, Mariahilfer Straße 45/5/36, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Jänner 2021, 1. W161 2237626-1/2E, 2. W161 2237624-1/2E und 3. W161 2237625-1/2E, betreffend Einreisetitel nach § 35 AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Österreichische Botschaft Islamabad), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den Revisionswerbern Aufwendungen in der Höhe von Euro 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

1        Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter des minderjährigen Zweitrevisionswerbers und der minderjährigen Drittrevisionswerberin. Die Revisionswerber sind afghanische Staatsangehörige. Am 15. April 2019 machten sie bei der Österreichischen Botschaft Islamabad (in der Folge: Vertretungsbehörde) Eingaben in Hinblick auf die Erteilung von Einreisetiteln nach § 35 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Als Bezugsperson gaben sie ihren Ehemann bzw. Vater an, welchem mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 23. Jänner 2017 der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden sei.

2        Mit Bescheid vom 17. Juli 2020 wies die Vertretungsbehörde, diese Eingaben offenkundig als Anträge gemäß § 35 AsylG 2005 wertend, die Anträge der Revisionswerber ab.

3        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG den gegen eine abweisende Beschwerdevorentscheidung der Vertretungsbehörde erhobenen Vorlageantrag der Revisionswerber als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4        Das BVwG stellte, soweit hier maßgeblich, fest, die Revisionswerber hätten erstmals am 20. April 2017 bei der Vertretungsbehörde Anträge auf Erteilung von Einreisetiteln nach § 35 AsylG 2005 gestellt. Diese Verfahren seien am 26. September 2017 eingestellt worden, da einem Verbesserungsauftrag nicht entsprochen worden sei. Am 15. April 2019 hätten die Revisionswerber neuerlich (die gegenständlichen) Anträge auf Erteilung von Einreisetiteln gestellt.

5        Rechtlich folgerte das BVwG, die Antragstellung sei mehr als drei Monate nach Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an die Bezugsperson erfolgt. Daher seien die Erteilungsvoraussetzungen nach § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 zu prüfen. Diese seien jedoch nicht erfüllt, da weder eine für eine vergleichbar große Familie ortsübliche Unterkunft noch ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhaltes, sodass der Aufenthalt nicht zu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könne, nachgewiesen worden seien. Die Stattgebung der Anträge sei auch nicht im Sinn des § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens dringend geboten. Eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien, falle für die Revisionswerber negativ aus. Es sei zu berücksichtigen, dass die Bezugsperson nach dreijährigem Zusammenleben mit der Erstrevisionswerberin bereits seit dem Jahr 2014 von seiner Familie getrennt lebe und aktuell nicht in der Lage sei, eine vierköpfige Familie zu ernähren. Art. 8 EMRK verlange nicht, dass in allen Fällen der Familienzusammenführung jedenfalls der Status des Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten zu gewähren sei. Vielmehr werde im Regelfall ein Aufenthaltstitel nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) in Betracht kommen, welches den Weg für einwanderungswillige Drittstaatsangehörige zur Erlangung eines Aufenthaltstitels darstelle (Hinweis u.a. auf die Möglichkeit der Familienzusammenführung nach § 46 NAG).

6        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision, welche das Verwaltungsgericht unter Anschluss der Verfahrensakten vorlegte.

7        Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens, in welchem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8        Die Revision ist zulässig, weil sie zutreffend vorbringt, das BVwG habe sich nicht mit dem Vorbringen der Revisionswerber zu ihren Anträgen aus dem Jahr 2017 befasst. Sie ist auch begründet.

9        Die Begründung eines Erkenntnisses des Verwaltungsgerichts hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes jenen Anforderungen zu entsprechen, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Danach erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Fall des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheids geführt haben.

10       Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben.

11       Das Verwaltungsgericht hat neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhalts erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. etwa VwGH 5.3.2020, Ra 2018/19/0686, mwN).

12       Diesen Anforderungen wird das angefochtene Erkenntnis nicht gerecht:

13       Die Revisionswerber haben in einer Stellungnahme vom 20. März 2020 im verwaltungsbehördlichen Verfahren geltend gemacht, dass über ihre Anträge vom 20. April 2017 noch nicht entschieden worden sei. Erst auf Nachfrage sei der Bezugsperson mit E-Mail der Vertretungsbehörde vom 27. Dezember 2018 mitgeteilt worden, dass diese Verfahren mangels Erfüllung eines Verbesserungsauftrages eingestellt worden seien und den Revisionswerbern, wenn sie neue Anträge stellen wollten, ein neuer Vorsprachetermin weitergeleitet werden könne. Auf Grund dieser „falschen Rechtsauskunft“ hätten die Revisionswerber bei der Vertretungsbehörde den „vermeintlichen Antrag“ vom 19. April 2019 gestellt. In den auf Grund der Anträge vom 20. April 2017 eingeleiteten Verfahren seien bislang keine Bescheide erlassen worden, die auf Grund dieser Anträge eingeleiteten Verfahren seien nach wie vor offen und die Anträge vom 15. April 2019 bloß als „weitere Eingabe“ zu werten. Da die Anträge vom 20. April 2017 innerhalb von drei Monaten nach der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an die Bezugsperson gestellt worden seien, seien die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 von den Revisionswerbern nicht zu erfüllen.

14       In ihrer Beschwerde gegen den Bescheid der Vertretungsbehörde vom 17. Juli 2020 wiederholten die Revisionswerber dieses Vorbringen unter Bezugnahme auf ihre Stellungnahme vom 20. März 2020.

15       Sowohl im Bescheid der Vertretungsbehörde vom 17. Juli 2020 also auch im angefochtenen Erkenntnis wird über dieses Vorbringen der Revisionswerber begründungslos hinweggegangen. Das BVwG stellte lediglich fest, dass das auf Grund der Anträge der Revisionswerber vom 20. April 2017 eingeleitete Verfahren eingestellt worden sei, weil einem Verbesserungsauftrag nicht entsprochen worden wäre, und wertete die Eingaben der Revisionswerber vom 15. April 2019 offenkundig als (neue) verfahrenseinleitende Anträge gemäß § 35 AsylG 2005.

16       Dieser Verfahrensmangel war auch entscheidungsrelevant. Nach den Feststellungen des BVwG erfolgte die (erste) Antragstellung am 20. April 2017 und somit innerhalb von drei Monaten nach rechtskräftiger Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an die Bezugsperson mit Erkenntnis des BVwG vom 23. Jänner 2017, weswegen bei einer Entscheidung über diese Anträge, sollten sie noch nicht erledigt sein, die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 gemäß § 35 Abs. 1 letzter Satz AsylG 2005 nicht zu erfüllen wären.

17       Das BVwG wird sich im fortzusetzenden Verfahren daher mit dem diesbezüglichen Vorbringen der Revisionswerber auseinanderzusetzen und Feststellungen zu den Anträgen vom 20. April 2017 zu treffen haben, und zwar insbesondere zum erwähnten „Verbesserungsauftrag“ (vgl. zur Mängelbehebung in einer Visumsangelegenheit VwGH 3.9.2015, Ra 2015/21/0086) sowie zur Frage, ob und in welcher Form die Anträge vom 20. April 2017 erledigt wurden. Ausgehend davon wird sich das BVwG damit auseinanderzusetzen haben, ob es sich bei den Eingaben der Revisionswerber vom 15. April 2019 etwa (in Entsprechung des „Verbesserungsauftrages“) um die Behebung von Mängeln der Anträge vom 20. April 2017, um weitere (eine Entscheidungspflicht der Behörde nicht neu auslösende) Eingaben im Rahmen des noch anhängigen Verfahrens oder etwa um neue verfahrenseinleitende Anträge gemäß § 35 AsylG 2005 handelte (vgl. zur Möglichkeit einer neuen Antragstellung VwGH 27.6.2017, Ra 2017/18/0146).

18       Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

19       Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Hinsichtlich des Ausmaßes des zuerkannten Ersatzes ist auf das Antragsprinzip gemäß § 59 VwGG, wonach ziffernmäßig verzeichnete Kosten nur in der beantragten Höhe zuzusprechen sind, zu verweisen (vgl. VwGH 26.5.2021, Ro 2020/19/0002, mwN), sodass den Revisionswerbern lediglich der begehrte Schriftsatzaufwand von EUR 1.106,40 zuzusprechen war. Das Mehrbegehren auf Zuspruch von 15 % Streitgenossenzuschlag findet in den anwendbaren Bestimmungen keine Deckung und war daher abzuweisen (vgl. VwGH 20.8.2020, Fr 2020/19/0012, mwN).

Wien, am 16. März 2022

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021190083.L00

Im RIS seit

06.04.2022

Zuletzt aktualisiert am

10.05.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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