TE Vwgh Erkenntnis 1996/6/26 95/20/0423

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 26.06.1996
beobachten
merken

Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

AsylG 1991 §1 Z1;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Fürnsinn und die Hofräte Dr. Händschke, Dr. Baur, Dr. Bachler und Dr. Nowakowski als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Hemetsberger, über die Beschwerde 1.) der GS, 2.) der ÖS, 3.) der AS, alle in M, vertreten durch Dr. H, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 2. Juni 1995, Zl. 4.313.371/18-III/13/95, betreffend Asylgewährung und Ausdehnung der Asylgewährung, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird insoweit, als damit die Berufung gegen den Spruchpunkt I. des erstinstanzlichen Bescheides vom 25. Februar 1993 abgewiesen wurde, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Im übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.

Der Bund hat den Beschwerdeführerinnen Aufwendungen in der Höhe von insgesamt S 12.980,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerinnen, Staatsangehörige der Türkei, reisten am 31. Oktober 1992 in das Bundesgebiet ein und beantragten am 9. November 1992 Asyl.

Im ersten Teil ihrer Einvernahme am 10. November 1992 gab die Erstbeschwerdeführerin an, sie habe in ihrem Heimatland keiner politischen Organisation angehört und sei nie Mitglied einer bewaffneten Gruppierung gewesen. Sie sei nicht vorbestraft, werde nicht gesucht und habe (im August 1992) legal und ohne Schwierigkeiten einen Reisepaß erhalten. Nach Österreich sei sie gekommen, weil sie mit ihrem Ehegatten (AS, Beschwerdeführer zur Zl. 95/20/0428) und ihren Kindern, der Zweit- und der Drittbeschwerdeführerin sowie MS (Beschwerdeführer zur Zl. 95/20/0427), zusammen sein wolle. Sie sei vorher noch nie im Ausland gewesen und habe noch nie irgendwo um Asyl angesucht. Weil sie zur Minderheit der Kurden gehöre, fühle sie sich in ihrem Heimatland benachteiligt.

Im zweiten Teil ihrer Einvernahme am 10. November 1992 beschrieb die Erstbeschwerdeführerin ihre Fluchtgründe wie folgt:

"Mein Gatte mußte die Türkei vor ca. 2 Jahren verlassen, weil er Mitglied einer verbotenen Organisation war. Seitdem kam immer wieder die Polizei zu uns und wollte seinen Aufenthaltsort wissen. Die Polizei kam fast jeden Tag. Es kamen ungefähr 4 oder 5 uniformierte Polizisten aus dem Ort. Sie sagten: "Wo ist dein Mann? Hat er vielleicht angerufen oder einen Brief geschrieben?" Ich erfuhr den Aufenthaltsort selber erst ein paar Monate vor meiner Flucht. Mein Mann rief meine Schwester in Istanbul an und sagte ihr, daß er sich in Österreich befindet und uns holen wird.

Ich erzählte der Polizei, daß ich nicht wüßte, wo sich mein Mann befindet. Er hat mir nichts gesagt. Die Beamten schlugen mich, weil sie das nicht glaubten. Sie schlugen mich jedesmal. Sie wollten auch einmal meinen Vater festnehmen, obwohl er schon so alt war. Ich zog zu meinem Vater, nachdem mein Gatte das Land verlassen hatte. Er wohnt im selben Dorf. 2 Tage vor meinem Abflug wurde mein Vater tatsächlich zum Polizeirevier gebracht. Als er am nächsten Tag zurückkam, sagte er, daß er geschlagen wurde. Ich weiß nicht, ob mein Vater den Polizisten etwas erzählt hat. Ich habe es nicht getan. Ich wurde auch 1 Tag festgehalten. Ich weiß nicht, welcher Organisation mein Gatte angehörte. Mein Gatte schickte mir das Ticket. Ich konnte die dauernden Mißhandlungen nicht mehr ertragen."

Die Beschwerdeführerin fuhr fort, sie sei mit Händen und Gummiknüppeln geschlagen worden und der Nagel am Daumen sei ihr gezogen worden. "Zirka vor einem Jahr" sei sie zwei Tage lang auf dem Polizeirevier festgehalten worden, weil sie den Aufenthaltsort ihres (im März 1991 nach Österreich geflohenen) Ehegatten nicht genannt habe. Sie sei während dieser zwei Tage mit verbundenen Augen gefangengehalten und mit Händen und Gummiknüppeln geschlagen worden und habe nichts zu essen oder zu trinken bekommen. Es sei ihr gesagt worden, sie würde sowieso umgebracht. Am zweiten Tag sei sie auch mit kaltem Wasser beschüttet worden. Während der gesamten Zeit sei sie an Händen und Füßen gefesselt gewesen. Geschlagen worden sei sie am Kopf und Hüfte, es seien ihr aber auch Elektroschocks versetzt worden und der Nagel ihres rechten Daumens sei ihr gezogen worden. Am Morgen des dritten Tages sei sie nach Hause gebracht worden, nachdem sie ohnmächtig geworden sei. Erst vor dem Haus sei ihr die Augenbinde abgenommen worden. Am ersten Tag sei sie zum Kommissar gebracht worden. Sie wisse, daß es der Kommissar gewesen sei, weil sie ihn gesehen habe. Es seien Armstühle und ein Tisch in dem Zimmer gewesen. Der Kommissar habe ihr die Freilassung versprochen, wenn sie die Wahrheit sage. Sie habe gesagt, daß sie nichts wisse, und sei dann nach Hause gebracht worden, weil sie einen epileptischen Anfall gehabt habe. Sie sei gleich nach dem Anfall ohnmächtig geworden. Von zu Hause aus sei sie ins Spital gegangen. Der Arzt habe gesagt, daß sie lüge, sie sei nicht krank. Sie habe nicht gewußt, daß sie einen epileptischen Anfall gehabt hatte, der Arzt habe ihr das gesagt. Sie habe zwei Monate im Spital bleiben müssen.

An dieser Stelle der Einvernahme wurde der Ehegatte der Erstbeschwerdeführerin beigezogen. Er gab an, sowohl er als auch die Erstbeschwerdeführerin seien 1983 von der Polizei befragt und geschlagen worden. Dabei sei die Erstbeschwerdeführerin am Daumen verletzt worden. Seither leide sie an Angstzuständen. Sie sei nicht fähig, vorgefallene Dinge chronologisch nachzuvollziehen.

Nach einer Unterbrechung der Einvernahme gab die Erstbeschwerdeführerin folgendes an:

"Alle Vorfälle, die ich vorhin erzählte, ertrugen sich im Jahre 1983. Seitdem mein Gatte das Land verlassen hat, wurde ich des öfteren zu Hause von der Polizei aufgesucht. Ich wurde auch einige Male zum Polizeirevier im Ort gebracht. Man ließ mich immer nach Hause gehen. Ich wurde jedesmal 1 - 2 Stunden zum Aufenthaltsort des Gatten befragt. Ich wurde auch geschlagen, sonst ist nichts passiert.

Bevor sich mein Gatte mit mir in Verbindung setzte, dachte ich nicht an eine Flucht. Ich konnte die Belästigungen nicht mehr ertragen und wollte zu meinem Gatten.

Ich möchte dort sein, wo mein Mann ist.

Sollte mein Asylantrag abgewiesen werden, möchte ich um familiengleiche Behandlung bitten. Mein Gatte hat vor ca. 2 Jahren in Österreich einen Asylantrag gestellt. Die Entscheidung ist noch beim Bundesministerium für Inneres anhängig."

Mit Bescheid vom 25. Februar 1993 wies das Bundesasylamt sowohl den auf § 3 Asylgesetz 1991 (Spruchpunkt I.) als auch den auf § 4 dieses Gesetzes (Spruchpunkt II.) gestützten Antrag ab.

Die Beschwerdeführerinnen erhoben Berufung.

Mit Bescheid vom 25. Mai 1993 wies die belangte Behörde diese Berufung ab. Diesen Bescheid hob der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 10. Oktober 1994, Zl. 94/20/0094, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes (infolge Aufhebung des Wortes "offenkundig" im § 20 Abs. 2 Asylgesetz 1991 durch den Verfassungsgerichtshof) auf.

Im daraufhin wieder bei ihr anhängigen Berufungsverfahren ließ die belangte Behörde der Erstbeschwerdeführerin im Zuge einer ergänzenden Einvernahme am 21. April 1995 Gelegenheit dazu einräumen, ihr Vorbringen im Sinne des § 20 Abs. 2 Asylgesetz 1991 in dessen bereinigter Fassung zu ergänzen. Die Beschwerdeführerin gab an, ihr Bruder sei 1994 bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Sie wäre gern beim Begräbnis gewesen, hätte aber "aus Angst vor der Polizei" nicht zurückreisen können. Ihre Angst gründe sich auf die von ihr schon beschriebenen Ereignisse.

Im Zuge dieser Einvernahme wurde der Beschwerdeführerin weiter vorgehalten, es sei nicht erkennbar geworden, daß sich die von ihr geltend gemachten Umstände auf das gesamte Gebiet ihres Heimatlandes beziehen würden und sie nicht in einem anderen Teil dieses Landes "bzw." in Istanbul Schutz vor etwaigen Beeinträchtigungen hätte finden können oder schon gefunden habe. Sie möge weiters angeben, welche konkreten Verfolgungshandlungen sie ihrer Meinung nach im Falle einer Rückkehr "insbesondere in ein Gebiet außerhalb des Ausnahmezustandes" zu gewärtigen habe.

Dazu gab die Beschwerdeführerin an:

"Ich hatte in der Türkei nur die Möglichkeit, bei meinen Eltern in der Ausnahmeprovinz zu wohnen, weil ich im Westen der Türkei niemanden kenne. Außerdem bin ich Analphabetin. Mein Gatte befand sich zu dieser Zeit bereits in Österreich und ich erhielt eine Einladung eines Freundes von meinem Gatten. Im Falle einer Rückkehr in die Türkei müßte ich mich vor einer Festnahme durch die Polizei fürchten. Ich wurde schon vor der Ausreise mißhandelt. Die Polizei sucht mich sicher in der gesamten Türkei. Ich hätte in Istanbul nicht leben können, weil ich niemanden kenne. Damals wurde ich mit meinem Mann angehalten und mißhandelt. Von dieser Anhaltung ist sicher die gesamte Polizei in der Türkei informiert. Konkret stelle ich mir das so vor, daß ich im Falle einer Rückkehr natürlich sofort nach Erzincan fahren würde, weil ich beispielsweise in Istanbul niemanden kenne. In Erzincan aber würde ich sofort verhaftet.

Auf den Vorhalt der Situation im Westen der Türkei und auf abermaliges Befragen nach einem konkreten Hinweis für eine asylrechtlich relevante Verfolgung meiner Person gebe ich an:

Ja, aber ich kenne dort niemanden. Ich habe dort keine Möglichkeit zu wohnen. Ich kann in der Türkei nur bei meinem Vater in Erzincan wohnen, weil ich kein Geld und drei Kinder habe. In der Türkei ist alles sehr teuer. So sieht die Situation für mich heute aus. Zum Zeitpunkt meiner Ausreise vor drei oder vier Jahren wollte ich wegen meines Gatten nur nach Österreich."

Diese Niederschrift "unterfertigte" die Erstbeschwerdeführerin mit einem Fingerabdruck.

Mit dem angefochtenen (Ersatz-)Bescheid gab die belangte Behörde der Berufung abermals nicht Folge.

Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Die Beschwerde ficht den Bescheid der belangten Behörde "seinem gesamten Inhalt nach" an, enthält aber keine Ausführungen dazu, daß die belangte Behörde die Berufung auch insoweit, als sie sich gegen die Abweisung des Antrages auf Ausdehnung des dem Ehegatten der Erstbeschwerdeführerin zu gewährenden Asyls auf die Beschwerdeführerinnen (Spruchpunkt II. des erstinstanzlichen Bescheides) wandte, zu Unrecht abgewiesen habe. Der Begründung der belangten Behörde, dem Ehegatten der Erstbeschwerdeführerin sei nicht Asyl gewährt worden, sodaß es an Voraussetzungen für eine Asylausdehnung fehle, wird weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht entgegengetreten. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes verliert diese Begründung dadurch, daß der die Berufung des Ehegatten der Erstbeschwerdeführerin abweisende Bescheid der belangten Behörde mit Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 95/20/0428, aufgehoben wird, nicht an Gewicht (vgl. dazu nur beispielhaft die Erkenntnisse vom 2. März 1995, Zl. 95/19/0022, vom 17. Mai 1995, Zl. 94/01/0041, und vom 18. Mai 1995, Zlen. 94/19/0777-0781). In bezug auf die Abweisung der Berufung insoweit, als sie sich gegen den Spruchpunkt II. des erstinstanzlichen Bescheides richtete, war die Beschwerde daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

Insoweit sich die Berufung gegen Spruchpunkt I. des erstinstanzlichen Bescheides richtete, wurde sie von der belangten Behörde mit dem Argument abgewiesen, die Erstbeschwerdeführerin sei nicht Flüchtling. Begründet wurde dies - abgesehen vom Hinweis darauf, daß die allgemeine Situation der kurdischen Volksgruppe in der Türkei sowie Maßnahmen gegen Familienangehörige als Asylgrund nicht ausreichten - im wesentlichen damit, daß die Vorfälle von 1983 in keinem zeitlichen Naheverhältnis zur Ausreise der Beschwerdeführerinnen stünden und es den Vorfällen nach der Ausreise des Ehegatten der Erstbeschwerdeführerin an der erforderlichen Intensität der Beeinträchtigungen fehle. Das ergebe sich insbesondere auch daraus, daß die Erstbeschwerdeführerin bis zur Mitteilung ihres Ehegatten, daß er sie nachholen werde, nicht daran gedacht habe, ihre Heimat zu verlassen. Es fehle auch ein Zusammenhang mit einem der in § 1 Z. 1 Asylgesetz 1991 aufgezählten Verfolgungsgründe. Die behaupteten Maßnahmen gegen die Erstbeschwerdeführerin hätten nur in einem bei ihr vermuteten "Sonderwissen" und weder in ihrer politischen Gesinnung noch "schlechthin" in ihrer Volksgruppenzugehörigkeit ihre Ursache gehabt und seien auch nicht durch ihre Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie ihres nach ihren Angaben wegen seiner politischen Tätigkeit verfolgten Ehegatten bedingt gewesen. Die Behandlung der Erstbeschwerdeführerin wäre vielmehr die gleiche gewesen, wenn die türkischen Behörden nicht nach ihrem Ehegatten, sondern nach Personen gesucht hätten, mit denen die Erstbeschwerdeführerin "bloß amtsbekannterweise eng befreundet" gewesen wäre, "jedoch ohne mit diesen eine soziale Gruppe zu bilden". Aus dem Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin hätten sich auch "keinerlei Gründe ergeben, die die Annahme nahelegen würden", sie hätte vor "etwaigen Fährnissen" nicht auch in einem anderen Teil der Türkei Schutz finden können bzw. solchen Schutz während ihres Aufenthaltes in Istanbul (wo die Erstbeschwerdeführerin das Flugzeug nach Österreich bestieg) bereits gefunden. Bei ihrer ergänzenden Befragung zu diesem Thema habe die Erstbeschwerdeführerin "lediglich" angegeben, daß sie in Istanbul niemanden kenne und aus Geldmangel nur bei ihrem Vater in Erzincan wohnen könne.

Diese Ausführungen halten einer Überprüfung nicht stand:

Die belangte Behörde hat die allgemein geltend gemachte Benachteiligung der Erstbeschwerdeführerin wegen ihrer Zugehörigkeit zur Minderheit der Kurden sowie die von ihr beschriebenen Maßnahmen gegen ihren Ehegatten und ihren Vater einerseits, die Vorgänge von 1983, bei denen die Erstbeschwerdeführerin ihren Angaben zufolge gefoltert wurde, andererseits, und schließlich die Behandlung der Erstbeschwerdeführerin seit der Flucht ihres Ehegatten jeweils einer isolierten Betrachtung unterzogen und für unzureichend erkannt, um daraus einen Anspruch auf Asylgewährung abzuleiten. Mit dieser Beurteilungsweise hat es die belangte Behörde verabsäumt, die von der Erstbeschwerdeführerin geltend gemachten Beeinträchtigungen ihrer Person einer Gesamtschau zu unterwerfen, wobei sich aus einer Mehrzahl allein jeweils nicht ausreichender Umstände im Einzelfall die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung aus einem oder mehreren der in § 1 Z. 1 Asylgesetz 1991 genannten Gründe ergeben kann (vgl. dazu etwa die Erkenntnisse vom 23. Mai 1995, Zl. 94/20/0801 und Zl. 94/20/0806). So trifft es zwar in der Regel zu, daß Vorfälle, die schon längere Zeit zurückliegen, für sich genommen nicht asylrelevant sind. Sie können aber der Abrundung des Gesamtbildes dienen. Ist die Erstbeschwerdeführerin ihren Behauptungen zufolge 1983 im Zuge einer mehrtägigen Anhaltung wegen der Tätigkeit ihres Ehegatten gefoltert worden und erlitt sie aus demselben Grund zuletzt erneut Beeinträchtigungen, so können die Vorgänge von 1983 bei der Beurteilung der daraus resultierenden Verfolgungsgefahr daher nicht völlig außer Betracht bleiben. Was die Intensität der Eingriffe anlangt, denen die Erstbeschwerdeführerin zuletzt ausgesetzt war, so ist der Umstand, daß sie nach ihren Angaben im Zuge der polizeilichen Befragungen jedesmal geschlagen wurde, in Verbindung mit der beschriebenen Häufigkeit dieser Vorgänge - über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr hinweg - insbesondere im Zusammenhang mit einer früher erlittenen Folter nicht ungeeignet, einen Zustand hervorzurufen, der einen weiteren Verbleib in der Heimat der Erstbeschwerdeführerin als unerträglich erscheinen lassen konnte. Indem die belangte Behörde dies verkannte, belastete sie ihren Bescheid mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit.

Daß die Erstbeschwerdeführerin nicht von sich aus an Flucht dachte und der Anstoß dazu von ihrem Ehegatten ausging, spricht nicht gegen die Glaubwürdigkeit ihrer Aussage, sie habe die dauernden Mißhandlungen und die Belästigungen "nicht mehr ertragen". Sollte aus dem Umstand, daß sie nicht an Flucht dachte, bevor sich ihr Ehegatte vom Ausland her mit ihr Verbindung setzte, ein Argument für die Annahme gewonnen werden, die Erstbeschwerdeführerin sei - wie die belangte Behörde es ausdrückt - nur "verhältnismäßig geringen vorübergehenden Beeinträchtigungen im Zuge behördlicher Ermittlungen" ausgesetzt gewesen, so hätte dies Feststellungen darüber vorausgesetzt, inwieweit eine Flucht aus eigener Initiative der Erstbeschwerdeführerin und ihren Kindern nach ihren individuellen Verhältnissen überhaupt möglich gewesen wäre. Mit dieser Frage setzt sich die belangte Behörde aber nicht auseinander.

Was die Motive der türkischen Behörden anlangt, so stellt die belangte Behörde Überlegungen an, denen nicht zu folgen ist. Der Grund, weshalb die Erstbeschwerdeführerin "befragt und angehalten" (nicht erwähnt, aber zu ergänzen: und fortwährend geschlagen) worden sein solle, liege danach "lediglich" in einem bei ihr vermuteten "Sonderwissen über den Aufenthaltsort" ihres Ehegatten. Die belangte Behörde führt aber auch aus, die Vorgangsweise der türkischen Behörden hätte ihre Ursache u.a. nicht "schlechthin" in der Zugehörigkeit der Erstbeschwerdeführerin zur kurdischen Volksgruppe gehabt. Damit wird nicht ausgeschlossen, daß die Art, wie die "behördlichen Ermittlungen" nach der Darstellung der Erstbeschwerdeführerin im vorliegenden Fall betrieben wurden, AUCH damit zu erklären ist, daß der Träger des vermuteten "Sonderwissens" dieser nach der Darstellung der Erstbeschwerdeführerin in der Türkei benachteiligten Volksgruppe angehörte. In bezug auf die von ihr verneinte Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe im Sinne des § 1 Z. 1 Asylgesetz 1991, nämlich zur Familie des wegen seiner politischen Tätigkeit gesuchten Ehegatten der Erstbeschwerdeführerin, unterstellt die belangte Behörde der türkischen Polizei die "vernünftige Auffassung", die Beschwerdeführerin habe nicht wegen der familiären Bindungen, sondern auf Grund des "vorangegangenen und, wie anzunehmen war, auch bestehenden sozialen Kontakts" zu ihrem Ehegatten über das bei ihr vermutete "Sonderwissen" verfügt. Auf dieses Zwischenergebnis stützt die belangte Behörde ihre Annahme, die Behandlung der Erstbeschwerdeführerin wäre "die gleiche gewesen", wenn sie mit der gesuchten Person nicht verheiratet, sondern bloß "amtsbekannterweise eng befreundet" gewesen wäre. Schon die sprachliche Form dieser ihrem Wesen nach spekulativen Darlegungen läßt erkennen, daß sie von der Vorstellung ausgehen, die belangte Behörde könne die Motive des Verfolgerstaates prüfen, indem sie sich selbst in dessen Lage versetze und ihre eigenen Maßstäbe zur Anwendung bringe. Das ist - wie der Verwaltungsgerichtshof schon wiederholt, etwa im Zusammenhang mit der Behauptung eines "rationalen Kosten-Nutzen-Kalküls", ausgeführt hat - nicht schlüssig (vgl. dazu das Erkenntnis vom 23. Mai 1995, Zl. 94/20/0806). Auf die Rechtsfrage, unter welchen Umständen auch andere als familiäre Beziehungen eine präexistierende und daher asylrechtlich relevante "soziale Gruppe" begründen könnten, braucht daher nicht eingegangen zu werden.

Die Ausführungen zu den angenommenen inländischen Fluchtalternativen sind aktenwidrig. Die Erstbeschwerdeführerin hat nicht "lediglich" angegeben, daß sie in Instanbul niemanden kenne und aus Geldmangel nur bei ihrem Vater in Erzincan wohnen könne. Sie hat auch erklärt, daß die Polizei sie "sicher in der gesamten Türkei" suche, und dies damit begründet, daß über die sie und ihren Ehegatten betreffenden Vorfälle von "damals" (gemeint: 1983) "sicher die gesamte Polizei in der Türkei informiert" sei. Damit hat sich die belangte Behörde nicht auseinandergesetzt. Trifft die Behauptung der Erstbeschwerdeführerin zu, so kommt es aber nicht darauf an, ob im besonderen ein Verbleib in Istanbul für die Erstbeschwerdeführerin und ihre Kinder (auch) aus anderen Gründen keine zumutbare Alternative war.

Im Umfang der Entscheidung über die Berufung gegen Spruchpunkt I. des erstinstanzlichen Bescheides war der angefochtene Bescheid daher - in vorrangiger Wahrnehmung der inhaltlichen Rechtswidrigkeit - gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Von einer Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z. 6 VwGG abgesehen werden.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994. Ersatz für Stempelmarken war nur insoweit zuzusprechen, als es ihres Aufwandes bedurfte.

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1996:1995200423.X00

Im RIS seit

20.11.2000
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten