TE Vwgh Erkenntnis 2022/2/24 Ra 2020/21/0241

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Veröffentlicht am 24.02.2022
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §56
BFA-VG 2014 §21 Abs7
BFA-VG 2014 §9
FrPolG 2005 §52 Abs3
FrPolG 2005 §52 Abs9
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Beachte


Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2020/21/0242

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel, die Hofrätinnen Dr. Julcher und Dr. Wiesinger sowie Hofrat Dr. Chvosta als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Schramel, über die Revision des 1. Y M, und der 2. Y C, beide vertreten durch Dr. Farid Rifaat, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schmerlingplatz 3, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichtes 1. vom 23. Oktober 2019, W168 2216328-1/2E, und 2. vom 16. Oktober 2019, W168 2216327-1/2E, betreffend Abweisung von Anträgen auf Erlassung von Aufenthaltstiteln gemäß § 56 AsylG 2005 und Erlassung von Rückkehrentscheidungen samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von € 2.692,80 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der 1990 geborene Erstrevisionswerber, ein chinesischer Staatsangehöriger, hält sich seit März 2009, seine Lebensgefährtin, die 1989 geborene Zweitrevisionswerberin, ebenfalls eine chinesische Staatsangehörige, seit Mai 2009 im Bundesgebiet auf. Die beiden lernten einander noch im ersten Jahr ihres Aufenthaltes in Österreich kennen und befanden sich zunächst aufgrund befristeter und jeweils verlängerter Aufenthaltstitel als Schüler im Bundesgebiet, verfügten jedoch gemäß den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes (BVwG) im angefochtenen Erkenntnis ab 2015 über kein Aufenthaltsrecht mehr.

2        Am 31. Oktober 2018 stellten die revisionswerbenden Parteien jeweils einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 Abs. 1 AsylG 2005.

3        Mit Bescheiden vom 12. Februar 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diese Anträge ab. Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG erließ das BFA gegen die revisionswerbenden Parteien unter einem jeweils eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach China zulässig sei. Gemäß § 55 FPG bestimmte das BFA als Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

4        Die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden wies das BVwG mit den angefochtenen Erkenntnissen vom 23. Oktober 2019 bzw. vom 16. Oktober 2019 als unbegründet ab und sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG jeweils aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5        Begründend stellte das BVwG zusammengefasst fest, die revisionswerbenden Parteien seien Studenten und in Österreich bislang keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen, sondern von ihren Eltern finanziell unterstützt worden. Sie seien unbescholten, unfall- und krankenversichert und hätten eine Integrationsprüfung auf dem Niveau A2 absolviert. Eine besonders berücksichtigungswürdige Integration, welche die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 AsylG 2005 erfordere, sei allerdings von den revisionswerbenden Parteien nicht dargelegt worden. Sie hätten sich nach Ablauf ihres Aufenthaltsrechts bewusst unberechtigt im Bundesgebiet aufgehalten und seien nicht selbsterhaltungsfähig. Der mit der Beschwerde vorgelegten Einstellungszusage der Zweitrevisionswerberin, aus der keine wirtschaftliche Integration abgeleitet werden könne, komme keine wesentliche Bedeutung zu; das nahm das BVwG erkennbar auch in Bezug auf den vom Erstrevisionswerber vorgelegten Arbeitsvorvertrag an. Zur Tante und einer Cousine der Zweitrevisionswerberin, die als österreichische Staatsbürgerinnen in Österreich lebten, bestehe kein relevantes Nahe- bzw. Abhängigkeitsverhältnis. Da die revisionswerbenden Parteien in ihrer Heimat aufgewachsen seien, dort ihre gesamte Schulausbildung absolviert und den Großteil ihres Lebens verbracht hätten, würden ihre Bindungen zum Herkunftsstaat jene zu Österreich deutlich überwiegen und es sei daher auch die Erlassung einer Rückkehrentscheidung im Hinblick auf Art. 8 EMRK zulässig.

6        Die Durchführung der in den Beschwerden beantragten mündlichen Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG unterbleiben können, da der maßgebliche Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit den Beschwerden, die ein lediglich unsubstantiiertes Vorbringen enthielten, als geklärt anzusehen sei.

7        Gegen diese Erkenntnisse richtet sich die vorliegende - nach Ablehnung der Behandlung der an den Verfassungsgerichtshof erhobenen Beschwerde und ihrer Abtretung an den Verwaltungsgerichtshof (VfGH 27.2.2020, E 4448-4449/2019-7) - fristgerecht ausgeführte außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:

8        Die Revision erweist sich - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG - als zulässig und berechtigt, weil das BVwG vor allem von der einschlägigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Erfordernis der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgewichen ist.

9        Bei der für die Rückkehrentscheidung maßgeblichen Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenen Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Dabei geht der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung, auf die sich auch die Zulässigkeitsausführungen der Revision beziehen, davon aus, dass bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt eines Fremden regelmäßig ein Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich anzunehmen ist. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurde eine aufenthaltsbeendende Maßnahme ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. dazu etwa VwGH 30.4.2021, Ra 2020/21/0357, Rn. 12, mwN).

10       Nach den Feststellungen des BVwG hielten sich die revisionswerbenden Parteien im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses bereits etwas mehr als zehn Jahre in Österreich auf, verfügten über Deutschkenntnisse (Deutschprüfung auf dem Niveau A2) und über einen Arbeitsvorvertrag bzw. eine Einstellungszusage.

11       Trotz derartiger integrationsbegründender Faktoren wäre dann nicht zwingend von einem Überwiegen des persönlichen Interesses eines Fremden auszugehen, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren (vgl. dazu grundlegend VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005, Rn. 13 bis 16, mwN).

12       In diesem Sinne hebt das BVwG zwar die Unrechtmäßigkeit des Aufenthaltes der revisionswerbenden Parteien ab dem Jahr 2015 hervor. Diesem Aspekt kommt für sich genommen jedoch noch kein entscheidungswesentliches Gewicht zu, weil die in Rn. 9 dargestellte Rechtsprechungslinie typischerweise Personen betrifft, die einen mehr als zehnjährigen inländischen und zuletzt jedenfalls unrechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet aufweisen, wobei es das BFA der Aktenlage zufolge im Übrigen unterließ, von sich aus Maßnahmen zur Beendigung des Aufenthaltes der revisionswerbenden Parteien zu setzen (vgl. dazu des Näheren VwGH 27.8.2020, Ra 2020/21/0159, Rn. 12, mwN).

13       Vor diesem Hintergrund hätte es zum einen zusätzlicher Feststellungen zu allfälligen gegen die revisionswerbenden Parteien sprechender Umstände bedurft, zum anderen hätte sich das BVwG mangels Vorliegens eines eindeutigen Falles - im Zuge der beantragten Beschwerdeverhandlung - jedenfalls auch einen persönlichen Eindruck von den revisionswerbenden Parteien verschaffen müssen. Ein geklärter Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG lag demnach nicht vor (zur Verhandlungspflicht bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen vgl. etwa VwGH 7.10.2021, Ra 2020/21/0198, Rn. 9, mwN).

14       Dieser Verfahrensmangel schlägt im vorliegenden Fall auch auf die Abweisung der Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln gemäß § 56 AsylG 2005 durch, weil diese Bestimmung grundsätzlich Konstellationen erfasst, in denen die höhere Schwelle des Art. 8 EMRK noch gar nicht erreicht werden muss (vgl. dazu VwGH 22.3.2021, Ra 2020/21/0448 bis 0450, Rn. 11, mwN).

15       Die angefochtenen Erkenntnisse waren daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

16       Die Durchführung der in der Revision beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG unterbleiben.

17       Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 24. Februar 2022

Schlagworte

Besondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020210241.L00

Im RIS seit

01.04.2022

Zuletzt aktualisiert am

12.04.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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