TE Vfgh Erkenntnis 2022/3/1 E78/2022

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Veröffentlicht am 01.03.2022
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Index

34/01 Monopole

Norm

B-VG Art83 Abs2
GlücksspielG §52
VwGG §38a
VStG §16, 64
Kundmachung der BM für EU und Verfassung gemäß §38a VwGG, BGBl I 55/2020
AEUV Art56
EU-Grundrechte-Charta Art49 Abs3
VfGG §7 Abs2, §86a Abs1

Leitsatz

Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch Entscheidung eines Landesverwaltungsgerichts entgegen der Sperrwirkung eines vom Verwaltungsgerichtshof gefassten Beschlusses gemäß §38a VwGG betreffend die Verhängung von Geldstrafen nach dem GlücksspielG; Verletzung der Sperrwirkung durch die Entscheidung vor Kundmachung der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofes trotz Klärung der Rechtsfragen durch den EuGH

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter gemäß Art83 Abs2 B-VG verletzt worden.

II. Das Erkenntnis wird aufgehoben.

III. Der Bund (Bundesminister für Finanzen) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerde liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

1.1. Mit Straferkenntnis vom 28. September 2017 verhängte die Bezirkshauptmannschaft Tulln eine Verwaltungsstrafe gemäß §52 Abs1 Z1 dritter Fall iVm §2 Abs2 und Abs4 iVm §4 GSpG in Höhe von insgesamt € 27.500,– (samt Verfahrenskosten) über den Beschwerdeführer.

1.2. Mit Erkenntnis vom 21. Jänner 2021 hob das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich das Straferkenntnis zum Teil auf, stellte das diesbezügliche Verwaltungsstrafverfahren ein und wies die Beschwerde im Übrigen als unbegründet ab.

1.3. Mit Erkenntnis vom 15. September 2021, Ra 2019/17/0118, hob der Verwaltungsgerichtshof das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich zum Teil wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes auf.

1.4. Im zweiten Rechtsgang gab das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich mit Erkenntnis vom 2. Dezember 2021 der Beschwerde gegen das Straferkenntnis vom 28. September 2017 insoweit statt, als es die verhängte Geldstrafe und Ersatzfreiheitsstrafe sowie die Verfahrenskosten neu festsetzte. Weiters präzisierte das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich, dass die Strafbestimmung in den Spruchpunkten des angefochtenen Straferkenntnisses "§52 Abs2, dritter Fall, Glücksspielgesetz BGBl Nr 620/1989 idF BGBl I Nr 118/2016" laute.

2. Gegen diese Entscheidung des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich richtet sich die vorliegende Beschwerde nach Art144 B-VG. Der Beschwerdeführer behauptet eine Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter gemäß Art83 Abs2 B-VG. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich verstoße im Hinblick auf den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes nach §38a Abs1 VwGG vom 27. April 2020, Ra 2020/17/0013-7, kundgemacht am 30. Juni 2020, BGBl I 55/2020, gegen die Sperrwirkung gemäß §38a Abs3 VwGG.

3. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich legte die Gerichtsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der es dem Vorbringen des Beschwerdeführers zusammengefasst mit der Begründung entgegentritt, dass den Verwaltungsgerichten auch nach Beschlussfassung des Verwaltungsgerichtshofes nach §38a Abs1 VwGG gemäß §38a Abs3 Z1 lita VwGG nicht jegliche Entscheidungsbefugnis entzogen sei. Zum Zeitpunkt der Erlassung der angefochtenen Entscheidung sei die Entscheidungsbefugnis der Verwaltungsgerichte im Sinne des §38a Abs3 Z1 VwGG im Rahmen des Urteils des Gerichtshofes der Europäischen Union vom 14. Oktober 2021, Rs. C-231/20, MT, gegeben, weil damit die dem Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 27. April 2020, Ra 2020/17/0013-7, zugrunde gelegte Rechtsfrage abschließend geregelt gewesen sei. Durch die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes vom 10. Dezember 2021 in der Revisionssache zur Zahl Ra 2020/17/0013 sei eine "etwaig anderslautende höchstgerichtliche Entscheidung" zur Auslegungsfrage unter anderem des §52 Abs2 dritter Fall GSpG idF BGBl I 13/2014 ausgeschlossen. §38a VwGG diene der Verfahrensökonomie und der Sicherung der (Unions-)Rechtskonformität von Entscheidungen der Verwaltungsgerichte. Ein Beschluss nach §38a Abs1 VwGG bewirke nicht, dass Verwaltungsgerichte im Rahmen ihrer Zuständigkeit innerstaatliche gesetzliche Vorschriften zugrunde zu legen hätten, die offenbar den Garantien des Art6 Abs1 EMRK und Art47 GRC und dem darin verbürgten Recht auf eine umgehende Gerichtsentscheidung widersprächen.

II. Rechtslage

1. §52 Abs1 bis Abs3 Bundesgesetz vom 28. November 1989 zur Regelung des Glücksspielwesens (Glücksspielgesetz – GSpG), BGBl 620/1989, idF BGBl I 104/2019 lautet:

"Verwaltungsstrafbestimmungen

§52. (1) Es begeht eine Verwaltungsübertretung und ist von der Behörde in den Fällen der Z1 mit einer Geldstrafe von bis zu 60 000 Euro und in den Fällen der Z2 bis 11 mit bis zu 22 000 Euro zu bestrafen,

1. wer zur Teilnahme vom Inland aus verbotene Ausspielungen im Sinne des §2 Abs4 veranstaltet, organisiert oder unternehmerisch zugänglich macht oder sich als Unternehmer im Sinne des §2 Abs2 daran beteiligt;

2. wer gewerbsmäßig ohne Berechtigung Spielanteile eines von diesem Bundesgesetz erfassten Glücksspieles oder Urkunden, durch welche solche Spielanteile zum Eigentum oder zum Gewinnbezug übertragen werden, veräußert oder an andere überlässt;

3. wer die Bewilligungsbedingungen eines genehmigten Glücksspieles nicht einhält;

4. wer die Auflagen des §5 nicht einhält oder ein Glücksspiel trotz Untersagung oder nach Zurücknahme der Spielbewilligung durchführt;

5. wer gegen eine Bestimmung der in §2 Abs3, §12a Abs4 und §21 Abs10 vorgesehenen Verordnung, gegen die Auflageverpflichtung von Spielbeschreibungen, die Anzeigeverpflichtung gemäß §4 Abs6 oder eine Duldungs- oder Mitwirkungspflicht nach §50 Abs4 verstößt;

6. wer die Teilnahme an verbotenen Ausspielungen im Sinne des §2 Abs4 – insbesondere durch die Vermittlung der Spielteilnahme, das Bereithalten von anderen Eingriffsgegenständen als Glücksspielautomaten oder die unternehmerische Schaltung von Internet-Links – fördert oder ermöglicht;

7. wer technische Hilfsmittel (z. B. eine entsprechend geeignete Fernbedienung) bereit hält, mit sich führt oder einsetzt, die geeignet sind, sich selbst oder anderen einen unlauteren Spielvorteil zu verschaffen oder den Spielablauf zu beeinflussen;

9. wer verbotene Ausspielungen (§2 Abs4) im Inland bewirbt oder deren Bewerbung ermöglicht, es sei denn es liegt eine Bewilligung gemäß §56 Abs2 vor;

10. wer als Kreditinstitut wissentlich die vermögenswerte Leistung eines Spielers an den Veranstalter oder Anbieter verbotener Ausspielungen weiterleitet, wenn dies im vorsätzlichen unmittelbaren Zusammenwirken mit dem Veranstalter oder Anbieter geschieht;

11. wer bei der Durchführung von Ausspielungen Trinkgelder direkt annimmt.

(2) Bei Übertretung des Abs1 Z1 mit bis zu drei Glücksspielautomaten oder anderen Eingriffsgegenständen ist für jeden Glücksspielautomaten oder anderen Eingriffsgegenstand eine Geldstrafe in der Höhe von 1 000 Euro bis zu 10 000 Euro, im Falle der erstmaligen und weiteren Wiederholung von 3 000 Euro bis zu 30 000 Euro, bei Übertretung mit mehr als drei Glücksspielautomaten oder anderen Eingriffsgegenständen für jeden Glücksspielautomaten oder anderen Eingriffsgegenstand eine Geldstrafe von 3 000 Euro bis zu 30 000 Euro, im Falle der erstmaligen und weiteren Wiederholung von 6 000 Euro bis zu 60 000 Euro zu verhängen.

(3) Ist durch eine Tat sowohl der Tatbestand der Verwaltungsübertretung nach §52 als auch der Tatbestand des §168 StGB verwirklicht, so ist nur nach den Verwaltungsstrafbestimmungen des §52 zu bestrafen.

[…]"

2. §38a Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 – VwGG, BGBl 10/1985, idF BGBl I 33/2013 lautet:

"Gleichartige Rechtsfragen in einer erheblichen Anzahl von Verfahren

§38a. (1) Ist beim Verwaltungsgerichtshof eine erhebliche Anzahl von Verfahren über Revisionen anhängig, in denen gleichartige Rechtsfragen zu lösen sind, oder besteht Grund zur Annahme, dass eine erhebliche Anzahl solcher Revisionen eingebracht werden wird, so kann der Verwaltungsgerichtshof dies mit Beschluss aussprechen. Ein solcher Beschluss hat zu enthalten:

1. die in diesen Verfahren anzuwendenden Rechtsvorschriften;

2. die auf Grund dieser Rechtsvorschriften zu lösenden Rechtsfragen;

3. die Angabe, welche der Revisionen der Verwaltungsgerichtshof behandeln wird.

Die Beschlüsse werden von dem nach der Geschäftsverteilung zuständigen Senat gefasst.

(2) Beschlüsse gemäß Abs1 verpflichten, soweit es sich bei den darin genannten Rechtsvorschriften zumindest auch um Gesetze, politische, gesetzändernde oder gesetzesergänzende Staatsverträge oder Staatsverträge, durch die die vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union geändert werden, handelt, den Bundeskanzler oder den zuständigen Landeshauptmann, ansonsten die zuständige oberste Behörde des Bundes oder des Landes zu ihrer unverzüglichen Kundmachung.

(3) Mit Ablauf des Tages der Kundmachung des Beschlusses gemäß Abs1 treten folgende Wirkungen ein:

1. in Rechtssachen, in denen ein Verwaltungsgericht die im Beschluss genannten Rechtsvorschriften anzuwenden und eine darin genannte Rechtsfrage zu beurteilen hat:

a) Es dürfen nur solche Handlungen vorgenommen oder Anordnungen und Entscheidungen getroffen werden, die durch das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes nicht beeinflusst werden können oder die die Frage nicht abschließend regeln und keinen Aufschub gestatten.

b) Die Revisionsfrist beginnt nicht zu laufen; eine laufende Revisionsfrist wird unterbrochen.

c) Die Frist zur Stellung eines Fristsetzungsantrages sowie in den Bundes- oder Landesgesetzen vorgesehene Entscheidungsfristen werden gehemmt.

2. in allen beim Verwaltungsgerichtshof anhängigen Verfahren gemäß Abs1, die im Beschluss gemäß Abs1 nicht genannt sind:

Es dürfen nur solche Handlungen vorgenommen oder Anordnungen und Entscheidungen getroffen werden, die durch das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes nicht beeinflusst werden können oder die die Frage nicht abschließend regeln und keinen Aufschub gestatten.

(4) In seinem Erkenntnis fasst der Verwaltungsgerichtshof seine Rechtsanschauung in einem oder mehreren Rechtssätzen zusammen, die nach Maßgabe des Abs2 unverzüglich kundzumachen sind. Mit Ablauf des Tages der Kundmachung beginnt eine unterbrochene Revisionsfrist neu zu laufen und enden die sonstigen Wirkungen des Abs3."

III. Erwägungen

1. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter nach Art83 Abs2 B-VG wird durch die Entscheidung eines Verwaltungsgerichtes verletzt, wenn das Verwaltungsgericht eine ihm gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB VfSlg 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002) oder wenn es in gesetzwidriger Weise seine Zuständigkeit ablehnt, etwa indem es zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg 15.482/1999, 15.858/2000, 16.079/2001 und 16.737/2002).

2. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes stellt es eine Verletzung des Art83 Abs2 B-VG dar, wenn das Verwaltungsgericht entgegen der Sperrwirkung eines Beschlusses nach §86a Abs1 VfGG entscheidet (VfSlg 20.147/2017; VfGH 14.3.2017, E3171/2016 und E3177/2016). Gleiches gilt für Entscheidungen des Verwaltungsgerichtes im Bereich der Sperrwirkung eines Beschlusses des Verwaltungsgerichtshofes nach §38a (Abs3) VwGG (zB VfGH 3.3.2021, E4041/2021; 29.11.2021, E3896/2021).

3. Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Beschluss vom 27. April 2020, Ra 2020/17/0013-7, ausgesprochen, es bestehe Grund zur Annahme, dass im Sinne des §38a Abs1 VwGG eine erhebliche Anzahl von Revisionen eingebracht werden wird, in denen gleichartige Rechtsfragen zu lösen seien. Konkret gehe es um die Fragen, ob §52 Abs2 dritter Strafsatz GSpG sowie im Zusammenhang mit der Verhängung von Geldstrafen gemäß §52 Abs2 dritter Strafsatz GSpG, die §§16 und 64 VStG gegen Unionsrecht (Art56 AEUV sowie Art49 Abs3 GRC) verstießen und ob die vor dem Verwaltungsgerichtshof in Revision gezogene Entscheidung eines Verwaltungsgerichtes wegen der allenfalls daraus folgenden Unanwendbarkeit ohne gesetzliche Grundlage ergangen sei. Zur Beantwortung dieser Rechtsfragen habe der Verwaltungsgerichtshof §52 Abs2 dritter Strafsatz GSpG, BGBl 620/1989, idF BGBl I 13/2014 sowie §16 VStG, BGBl 52/1991, und §64 Abs2 VStG, BGBl 52/1991, idF BGBl I 33/2013 anzuwenden.

Der vom Verwaltungsgerichtshof am 27. April 2020 zur Zahl Ra 2020/17/0013 gefasste Beschluss gemäß §38a Abs1 VwGG wurde von der Bundesministerin für EU und Verfassung am 30. Juni 2020 im Bundesgesetzblatt I 55/2020 kundgemacht (siehe dazu VfGH 3.3.2021, E4041/2021).

4. Gemäß §38a Abs3 VwGG tritt mit Ablauf des Tages der Kundmachung eines Beschlusses nach §38a Abs1 VwGG unter anderem folgende (Sperr-)Wirkung ein: In Rechtssachen, in denen ein Verwaltungsgericht die im Beschluss genannten Rechtsvorschriften anzuwenden und eine darin genannte Rechtsfrage zu beurteilen hat, darf das Verwaltungsgericht nur noch solche Handlungen vornehmen oder Anordnungen und Entscheidungen treffen, die durch das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes nicht beeinflusst werden können oder welche die Frage nicht abschließend regeln und keinen Aufschub gestatten. Diese Wirkung besteht gemäß §38a Abs4 zweiter Satz VwGG bis zum Ablauf des Tages, an dem die in Rechtssatzform ergehende Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes über die gleichartigen Rechtsfragen kundgemacht wurde.

Für die Beurteilung, ob die Entscheidung des Verwaltungsgerichtes gegen die Sperrwirkung des §38a Abs3 VwGG verstößt, ist jener Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung iSd §38a Abs3 Z1 lita VwGG "getroffen" wurde. Maßgeblich ist das Datum der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes (vgl VfSlg 20.147/2017).

5. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich traf die angefochtene Entscheidung vom 2. Dezember 2021 nach Kundmachung des Beschlusses des Verwaltungsgerichtshofes gemäß §38a Abs1 VwGG zur Zahl Ra 2020/17/0013. Bei seiner Entscheidung hatte das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich §52 Abs2 dritter Strafsatz GSpG idF BGBl I 13/2014, somit eine jener Rechtsvorschriften anzuwenden, die im genannten Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 27. April 2020 nach §38a VwGG angeführt ist und hatte damit eine in diesem Beschluss nach §38a VwGG genannte Rechtsfrage zu beurteilen.

Eine die Sache des Verfahrens erledigende Entscheidung, wie sie das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich im vorliegenden Fall getroffen hat, ist auch nicht als zulässige Handlung, Anordnung oder Entscheidung iSd §38a Abs3 Z1 lita VwGG anzusehen (vgl VwGH 4.9.2003, 2003/17/0124; VfGH 3.3.2021, E4041/2021). Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass zum Zeitpunkt der Erlassung der angefochtenen Entscheidung bereits das Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union vom 14. Oktober 2021, Rs. C-231/20, MT, und die Revisionsentscheidung des Verwaltungsgerichtshofes vom 10. Dezember 2021, Ra 2020/17/0013-26, ergangen waren:

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat über den Vorlagebeschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 27. April 2020 zur Zahl Ra 2020/17/0013 mit Urteil vom 14. Oktober 2021, Rs. C-231/20, MT, erkannt. Mit Erkenntnis vom 10. Dezember 2021, Ra 2020/17/0013-26, beantwortete der Verwaltungsgerichtshof die im Bundesgesetzblatt I 55/2020 gemäß §38a Abs2 VwGG kundgemachten Rechtsfragen. Der Verwaltungsgerichtshof fasste seine Rechtsauffassung mit den Rechtssätzen zusammen, dass die Verhängung von Geldstrafen gemäß §52 Abs2 dritter Strafsatz GSpG, BGBl 620/1989, idF BGBl I 13/2014, die Verhängung von Ersatzfreiheitsstrafen gemäß §16 VStG, BGBl 52/1991, im Zusammenhang mit der Verhängung von Geldstrafen gemäß §52 Abs2 dritter Strafsatz GSpG und die Vorschreibung eines Beitrages zu den Kosten des Strafverfahrens gemäß §64 Abs2 VStG, BGBl 52/1991, idF BGBl I 33/2013 grundsätzlich mit dem Unionsrecht (insbesondere Art56 AEUV und Art49 Abs3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union) vereinbar seien. Im Spruchpunkt I. 3. verpflichtete der Verwaltungsgerichtshof den Bundeskanzler zur unverzüglichen Kundmachung der in diesem Erkenntnis vom 10. Dezember 2021, Ra 2020/17/0013-26, festgehaltenen Rechtssätze sowie des Hinweises auf die mit der Kundmachung eintretenden, in §38a Abs4 VwGG genannten Rechtsfolgen.

Entgegen der Auffassung des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich folgt aus §38a Abs4 letzter Satz VwGG, dass die Sperrwirkung eines Beschlusses nach §38a Abs1 VwGG nach §38a Abs3 VwGG (erst) mit Ablauf des Tages der Kundmachung der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofes endet. Die vom Landesverwaltungsgericht Niederösterreich gewählte Auslegung dahingehend, dass die Sperrwirkung bereits mit Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union vom 14. Oktober 2021, Rs. C-231/20, MT, in dem über den Vorlagebeschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 27. April 2020, Ra 2020/17/0013 erkannt wurde, ende, steht dem eindeutigen Wortlaut des §38a Abs4 letzter Satz VwGG entgegen und würde der Bestimmung über die durch eine Kundmachung eintretenden Rechtsfolgen jeglichen Sinn nehmen.

Da die Kundmachung der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofes gemäß §38a Abs4 VwGG zum Zeitpunkt der Entscheidung des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich am 2. Dezember 2021 nicht erfolgt war, verstößt die angefochtene Entscheidung gegen die Sperrwirkung des Beschlusses des Verwaltungsgerichtshofes nach §38a Abs3 VwGG.

IV. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter gemäß Art83 Abs2 B-VG verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

Schlagworte

Glücksspiel, Bindung (der Verwaltungsgerichte an VwGH), Kundmachung, Verwaltungsgerichtshof, Verwaltungsstrafrecht, EU-Recht, Vorabentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:E78.2022

Zuletzt aktualisiert am

30.03.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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